: 30 Jahre bauchfrei
Jasmin Wagner ist heute Unternehmerin und Influencerin – als Popstar Blümchen bleibt sie für immer 16 und im Croptop. Ein Blick auf die Kluft zwischen Rave-Nostalgie und Gegenwart anlässlich ihrer Abschiedstour
Von Donata Künßberg
Jasmin Wagner hat ihre künstlerische Arbeit in zwei Marken aufgeteilt: erstens in das Ravergirl Blümchen. Und zweitens in die Sängerin, Schauspielerin, Moderatorin und Unternehmerin Jasmin Wagner.
Die zweite ist eine geschiedene Frau und Mutter, sie backt gern Kuchen und versucht sich im Nahrungsergänzungsmittelverkauf. Sie singt mit leuchtenden Augen Weihnachtslieder, zeigt ihre liebsten Kinderbücher und ist sogar ein bisschen crunchy: Beim ´„Propaganda I don’t fall for“-Trend nennt sie als eine der Sachen, auf die sie nicht reinfallen will, chemischen Lichtschutzfaktor. Sie ist 45 und klingt auch so: Mit „meine Goldstücke“ spricht sie ihre Follower*innen an. Eine ziemlich normale Mom-Bloggerin also.
Die erste der beiden Marken hingegen ist dazu verdammt, für immer Teenager im Croptop zu bleiben. Es ist 1995, bald wird der Internetboom Deutschland erreichen, noch ist es ruhig: Helmut und Hannelore Kohl sind an der Macht, Teenager suchen in der Bravo mittels Fotoanzeige nach Brieffreundschaften, weil „mein Briefkasten verhungert“. Die Welt war gerade erst am Ende der Geschichte angelangt, junge Teenager warten auf die Pubertät und die Erlaubnis, zur Loveparade zu fahren. Von der wissen sie aus der Bravo – auch dass die Loveparade etwas mit gefährlichem Ecstasy zu tun hat, an dem man sterben kann. Nach der Schule wickelt man sich das Spiralkabel des Festnetztelefons um den Finger und ruft Freunde an, bei denen man Viva glotzen kann.
Im Musikvideo von „Herz an Herz“ von Blümchen, 1985 zuerst vom NDW-Duo Paso Duble gesungen, geht es um das erwachsene Liebespaar Jimmy und Patsy, das nur online kommuniziert. Es muss via Usenet sein, eine im Jahr 1995 noch hochgradig nerdige Kulturtechnik. Ohne zu wissen, dass nur eine einzige Wand sie trennt, vermissen sie einander. Falls die Mauerfallsymbolik noch nicht deutlich genug ist: Beide tragen eine Militärjacke mit Schulterklappen. Friede, Freude, Eierkuchen statt militärischer Gewalt, was für eine schöne Zeit!
Blümchen surft neben vielen anderen wie Dune, Technohead und Das Modul auf der Happy-Hardcore-Welle. Schnelle Musik mit Popmelodien, die rasend glücklich macht. Charly Lownoise & Mental Theo zeigen im Video ihres Lieds „Stars“ eine gruppenschmusige, noch gerade so jugendfreie Orgie, die eindeutig auf pillenbasierte Liebesgefühle hinweist. In Blümchens Texten, die mit gepitchter Stimme vorgetragen werden, wird es hingegen lange nur um die Herstellung und Erhaltung einer heteronormativen Zweierbeziehung gehen. Um ein „Astronautenrendevous“ im All, „verrückte Jungs“ und „Küsschen“ bekommen.
Die Schere zwischen solcher Boomersprache und der Cyberästhetik ihrer CD-Cover war damals noch klarer zu identifizieren als heute. Einem Teenager kam 1995 doch nicht „Küsschen“ über die Lippen. Und das in „Herz an Herz“ panisch wiederholte „Hörst du mich?“ lässt eher an wackligen CB-Funk als an Onlinechats denken. Oder sind wir schon wieder im Weltall, dem Sehnsuchtsort der Generation Mondlandung?
Heute würde man Blümchen jedenfalls ein „Industry Plant“ nennen – jemand, der von einer Plattenfirma zur Ausnutzung eines Trends am Markt lanciert wird. Jahre später wird Jan Delay bei TV Total andeuten, Blümchen habe gar nicht selbst gesungen. Wie dem auch sei: Die Talentscouts haben in Jasmin Wagner das richtige Talent gefunden. Ihr Appeal wird vom Peermusic-Manager Michael Karnstedt als „kleine Schwester von nebenan“ beschrieben, so soll sie dann als „Blossom“ auch weltweit vermarktet werden.
Ihre Musik ist Happy Hardcore ganz ohne den gefährlichen Raverabgrund aus Drogensucht, Gruppensex und Verwahrlosung: Tausende Heranwachsende verknallen sich in das unkomplizierte, immer lockere Mädchen, werfen ihr Boxershorts auf die Bühne. Neben der Blümchen-Arbeit geht sie noch zur Schule, macht weiter Cheerleading für eine Hamburger Footballmannschaft, moderiert eine Radio- und eine Fernsehsendung. Sie übersteht Spekulationen und Interviews über ihre Jungfräulichkeit sowie die Vollbildaufnahme ihres Ausschnitts bei Harald Schmidt.
Alles mit 15, 16, 17 Jahren. Unglaublich. Im Jahr 2000 hört sie zum ersten Mal auf und wird Theaterschauspielerin. Weil die Grenze zwischen den beiden Charakteren unscharf verläuft und die ewig minderjährige Blümchen weder besonders politisch noch erwachsen werden darf, scheint auch Jasmin Wagner auf der Bremse zu stehen. Die Tochter einer kroatischen Mutter und eines deutschen Vaters gibt in Interviews ausweichende Antworten, sobald es politisch oder gar kontrovers wird. Dabei war sie angeblich mal Vorsitzende der Turbojugendchapters von St. Pauli, 2019 soll sie laut Plastic Bomb den Jingle von „AfD wegbassen!“ bei Instagram geteilt haben.
„Die meisten gehen in dem Alter auseinander wie ein Hefeteig, aber Blümchen bleibt Blümchen, freut mich zu sehen, top Vorbild“, kommentiert Makrolanium7 auf Tiktok unter ein Video des verifizierten Accounts von Jasmin Wagner.
Der Kommentar hat ein Like von ihr erhalten. Die Bremse, auf der Jasmin Wagner steht, ist der Geist der 90er Jahre, diese scheinbar unpolitische Zeit der Zuversicht, des technischen Aufbruchs ins Internet. Der Regress dorthin ist eine wohlige Pause von Woke, Cancel Culture und Weltkrieg.
Ihre Musik ist den Menschen noch lieber geworden, seit sie als Nostalgiemaschine funktioniert. Der Konsens: Damals war die Welt noch in Ordnung.
Was sie meinen ist: Damals war mein Leben noch voller Möglichkeiten, ich fühlte mich leichtfüßig, weil ich selbstbezogen und zwangsignorant war. Das Bedürfnis nach einer ewigen Gegenwart der scheinfriedlichen 90er ist ungebrochen. Seit sich im Internet über die Normalität von Guilty Pleasures verständigt wurde, trauen sich auch die Skeptischeren von damals, lauthals bei Blümchen mitzusingen: Auf dem Wacken-Festival, beim Ruhrpott Rodeo und beim Konzert der Abschiedstournee in Konstanz. Dort fällt wegen Netzüberlastung das Internet aus.
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