piwik no script img

30 Jahre Einheit in StralsundDie Kanzlerin auf Pinguinbesuch

In der Stralsunder Altstadt liegt Merkels Wahlkampfbüro. Man liebt sie hier, man hasst sie, man sonnt sich in ihrem Glanz. Was, wenn sie nicht mehr da ist?

Foto: Michael Szyszka

Ob in der Kneipe „Zur Fähre“, im Restaurant „Hansekeller“ oder im Deutschen Meeresmuseum: In Stralsund kann man der Bundeskanzlerin ganz nah kommen. Die Hansestadt ist in den letzten 30 Jahren zur politischen Heimat für Angela Merkel (CDU) geworden. Dabei hat sie hier nie gewohnt. 1990 ist der damals noch unbekannten 36-jährigen Physikerin der vorpommersche Ostsee-Wahlkreis zugeteilt worden. Dass daraus trotzdem eine Erfolgsgeschichte wird, war damals nicht absehbar.

Das Vertrauen der Bevölkerung hat sich die gebürtige Hamburgerin hart erarbeitet. Trat Merkel bei Bundestagswahlen für ihre Union an, hat sie immer das Direktmandat geholt – mit und ohne Kanzlerinnen-Bonus. Seit 30 Jahren vertritt sie Stralsund, Rügen und Nordvorpommern im deutschen Bundestag. In dieser Zeit hat sie die mediale Aufmerksamkeit immer wieder auf Stralsund und das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern gelenkt.

Jetzt fragt man sich natürlich, wie es hier wird, wenn sie bald nicht mehr Kanzlerin ist? Nicht nur wegen der ganzen Aufmerksamkeit, auch, weil da noch ein Versprechen offen ist …

Die größte Brücke der Bundesrepublik

Keine Frage: Die Region verdankt Merkel viel. Gewaltige Bilder zum Beispiel. Eines zeigt, wie sie die neue Rügenbrücke einweiht, die zweite Verbindung zwischen dem Stralsunder Festland und der deutschen Insel – sie ist noch immer die größte Brücke in der Bundesrepublik. Weitere Bilder zeigen, wie Merkel ihren Pinguin Alexandra auf dem Ozeaneum füttert oder wie sie während eines bilateralen Treffens mit dem französischen Präsidenten François Hollande in eine Hafenkneipe einkehrt.

Vielen Schülern wird in Erinnerung bleiben, wie sie mit dem Astronauten Alexander Gerst über dessen Ausflug in den Weltraum philosophierten. Solche Momente wird es künftig seltener geben. Die Kanzlerin tritt 2021 von der politische Bühne ab. Damit endet nicht nur ihre Ära in Stralsund, sondern auch das unbezahlbare Standortmarketing.

Doch noch ist Merkel in ihrem Wahlkreis präsent. Zuletzt war sie Anfang September in Stralsund. Sie informierte sich über das lokale Pandemiegeschehen, über die erneute Schieflage des Werftstandortes und speiste vorab im Hansekeller. „Wir kennen uns seit 1995“, erzählt Restaurant-Inhaber Lars Strahl. Was auf den Tisch kam, sagt er nicht. Aber: „Sie ist bodenständig und mag die regionale Küche, etwa sauer eingelegten Hering.“

Hat Merkel im Hansekeller zu Tisch geladen, steht davor ihre schwarze Limousine. Menschen gehen vorbei, rätseln, ob Promis in der Stadt ist. Wenige Schritte weiter, in der Ossenreyerstraße 29, befindet sich ihr Wahlkreisbüro. Dezente Kameras überwachen diesen Ort und sie haben schon vieles aufgezeichnet. Ob die Kanzlerin in der Stadt ist oder nicht, hier setzen Aktivisten gern provokante Zeichen. Zuletzt machten mutmaßliche Coronagegner ihren Unmut laut. Im Mai inszenierten sie vor dem Haus ein Grab, mit Kerzen, Rosen und einem Grabsteinimitat. „Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Bewegungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Demokratie 1990–2020“ war die Aufschrift. Passend dazu war ein Mundschutz angebracht. Die Hinweistafel zum Büro war zerkratzt. Schaden: 50 Euro.

Kay Steinke

Die Person:Kay Steinke, 37

Job:Leiter der Lokalredaktion der Ostsee-Zeitung in Stralsund

Zeitung: Ostsee-Zeitung

Erscheinungsort: Ostseeküste in Mecklenburg-Vorpommern

Auflage: 112.000

Der größte Coup Ihrer Zeitung: Wir haben neue Arbeitsweisen für den journalistischen Alltag im Lokalen getestet. Besonders cool fand ich unser Reporter-Mobil. Mit diesem „fahrenden Büro“ sind Reporter in den Inselregionen unterwegs und bringen viele schöne Geschichten mit.

Region: Sonne, Strand, Urlaubsfeeling, hanseatische Lebenskultur, Backsteingotik

Wohin fahren die Menschen, wenn sie etwas erleben wollen? Ans Meer. Hier kann man joggen, surfen, kiten, feiern – oder das Leben mit einem Stralsunder Bier in der Hand genießen.

Autokennzeichen: HST, RÜG, NVP

„Denk ich an Deutschland im Jahr 2020, dann“ … denke ich an eine menschen­leere Insel Rügen während des Lockdowns – und an die vielen bunten Masken der Urlauber in der Stralsunder Altstadt, als das Reisen wieder erlaubt wurde.

Es geht ekelhafter: Im Mai 2016 wurde ein halber Schweinekopf mit beleidigender Aufschrift vor dem Merkel-Büro gefunden. Damals hetzten Unbekannte gegen die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin. Trotz umfangreicher Ermittlungen konnte der Fall nicht aufgeklärt werden. Pikant: Der Tierkopf entstammte einer „illegalen Hausschlachtung“.

Im Dezember 2010 protestierten Atomkraftgegner vor dem Büro. Sie rollten Atommüll-Fass-Attrappen vor das Haus. Damals rief das Anti-Atom-Bündnis Nord-Ost dazu auf, sich an Aktionen gegen einen Castortransport in das Zwischenlager in Lubmin bei Greifswald zu beteiligen.

Merkel-Verehrung und Kanzlerinnen-Protest, beides ist bei einem Besuch immer nah beieinander. So geschehen bei einer ihrer Visiten im Stralsunder Ozeaneum im Sommer 2019. Erst fütterte die Kanzlerin in Ruhe ihren Patenpinguin, den sie immer wieder besucht und mittlerweile so vertraut anspricht wie andere nur ihr Haustier. Dann ging es vom Dach des Naturkundemuseums in die Besuchermenge. Personenschützer bereiteten ihr und ihrer Entourage den Weg durch die Ausstellung zum Thema Unterwasserlärm. Zwischen tausenden Besuchern lauerten drinnen vereinzelte Merkel-Gegner, draußen hatten sich Greenpeace-Aktivisten positioniert. Die Kanzlerin lächelte den Protest weg.

Während ihres Aufenthalts bildete sich vor dem Eingang eine lange Menschenschlange. Auch dieses Bild gibt es in Stralsund häufiger. Hat sich der Besuch erst rumgesprochen, versuchen Menschen ein Selfie mit der Kanzlerin zu ergattern. In der Hansestadt ist sie dabei äußerst geduldig. Genervte Gesichter machen eher ihre Personenschützer, die meist rund drei Meter entfernt stehen. Während sich Merkel in ihrer politischen Heimat entspannt und die Nähe regelrecht genießt, achten sie darauf, wer genau in die Nähe der Kanzlerin kommt und wer nicht.

Richtig viel Nähe gibt es traditionell auf ihrem Neujahrsempfang im Störtebeker Brauquartier. Dort bleibt Merkel auch bis zum Schluss, scherzt mit den Gästen, hört zu – und lässt auch hier unzählige Fotos über sich ergehen. Zuletzt war die Lage jedoch angespannt. Ende Februar wurden die ersten Großveranstaltungen wegen Corona bereits abgesagt, ihr Neujahrsempfang noch nicht. „Heute gebe ich niemandem die Hand“, stellte Merkel klar. Ihre Bedenken teilten die Inhaber der malaysischen Genting Group, zu der die MV Werften, mit Standorten in Stralsund, Wismar und Rostock gehören. Sie brachten der deutschen Kanzlerin den sanften Ellenbogenstoß bei, nannten ihn „Corona-Gruß“. Auf dem Empfang wurden die Genting-Macher noch als Retter des Stralsunder Werftstandorts gefeiert. Doch Corona hat dem Konzern stark zugesetzt, der Stralsunder Werft droht das Aus, wieder mal. Bis zum Lockdown wurden hier Teile für die größten Kreuzfahrtschiffe der Welt gebaut. Derzeit sind die Parkplätze jedoch leergefegt. Vor der geräumigen Werfthalle parkt die „Crystal Endeavour“ auf dem Strelasund, unvollendet.

taz am wochenende

30 Jahre neues Deutschland: Was ist das heute für ein Land? Lokalredakteur*innen aus dem Norden, Süden, Osten und Westen erzählen ihre wichtigsten Geschichten – in der taz am Wochenende vom 02. Oktober. Aus Brandenburg berichtet Judith Melzer-Voigt über den Wandel einer ostdeutschen Kleinstadt vom grauen Einerlei zu Bunt. Aus Baden-Württemberg berichtet Peter Schwarz über den Amoklauf von Winnenden und Corona-Leugner. Aus Niedersachsen berichtet Kathi Flau über ein gutes Rezept gegen Identitätsprobleme. Aus Sachsen berichtet Josa Mania-Schlegel über bürgerliche Sympathien für die Hausbesetzer von Connewitz – und, und, und... Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.

Die Schiffbauer hoffen erneut auf die Kanzlerin, wieder mal. Merkel stand ihnen in der Vergangenheit schon öfter bei: Nach der Pleite der P+S-Werften 2012 übernahm 2014 der russische Investor Witalij Jussufow den Stralsunder Standort – die Kanzlerin hatte den Deal vermittelt. Doch unter Nordic Yards firmierte der Standort nur bis 2016, dann übernahm Genting. Coronabedingt befindet sich einer der größten Arbeitgeber im Merkelkreis nun wieder in der Krise. „Bund und Land werden alles tun, um der Werft unter die Arme zu greifen“, versprach Merkel den Stralsundern jüngst im September 2020.

Ob sie ihr Wort halten kann, ist unklar. Das Ende ihrer politischen Laufbahn naht und das betrifft auch ihren Wahlkreis. 2021 will sie sich zurückziehen, ein junger CDU-Mann steht schon in den Startlöchern. Nach 30 Jahren Merkel will Georg Günther (32) die Nachfolge im Stralsund-Wahlkreis antreten. Günther ist derzeit noch ein No-Name – so wie Merkel bei ihrem Antritt 1990. Er ist als Vorpommer in der Region jedoch familiär verwurzelt, führt als Landesvorsitzender bereits die Junge Union in MV an. Zuletzt war Merkels Wahlkreis eine echte CDU-Hochburg, vermutlich gerade durch ihre hohe Bekanntheit. Bei der Bundestagswahl 2017 kam die Union hier auf 32,9 Prozent. Zweitstärkste Partei wurde die AfD (19,6 Prozent), gefolgt von der Linken mit 18 Prozent. Das Direktmandat gewann Merkel. Sie holte deutlich mehr Stimmen als ihre Partei und zwar 44 Prozent. Von den 240.887 wahlberechtigten Bewohnern gingen 169.526 tatsächlich zur Urne, 73.745 davon vertrauten Merkel ihre Stimme an. Ähnlich grandios war auch ihre Wahlperformance 1990, damals holte sie 47,7 Prozent der Stimmen. Ob einem anderen Kandidaten dieses Kunststück gelingen kann, wird sich zeigen.

2021 werden die Karten in Stralsund jedenfalls neu gemischt – und keiner der Kandidaten hat mehr Kanzlerbonus.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

1 Kommentar

 / 
Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Ich liebe Angela Merkel, sie ist eine großartige Führungskraft.