25 Jahre Stasi-Unterlagen-Gesetz: Ein Erbe aus 5.340 Tonnen Papier
Monströse Ausmaße: Die Stasiakten belegen, wie konsequent der DDR-Geheimdienst gegen jede Opposition im eigenen Land vorging.
Als „operative Vorgänge“, „Feindobjektakten“ oder „operative Personenkontrolle“ belegen die Akten des Ministeriums für Staatssicherheit, wie konsequent der Geheimdienst der DDR gegen jede Opposition im eigenen Land vorging – und wie erfolgreich er in der alten Bundesrepublik Politik und Behörden unterwandert hatte. Seit 25 Jahren sind diese Unterlagen jetzt zugänglich. Am 29. Dezember 1991 trat das Stasi-Unterlagen-Gesetz in Kraft, vier Tage später durften die ersten Stasiopfer ihre Akten sehen.
Der Öffnung der Stasiakten ging eine heftige Kontroverse voraus. Nicht wenige, darunter der letzte DDR-Innenminister Peter-Michael Diestel, forderten, die illegal angehäuften Erkenntnisse umgehend zu vernichten. Die Akten sollten verbrannt werden oder unter einem riesigen Betondeckel verschwinden. Die Befürworter einer Aktenvernichtung befürchteten eine „Lynchstimmung“ gegen die früheren Stasi-Mitarbeiter; mit der Offenlegung der Papiere werde das gesellschaftliche Klima nach der Überwindung der SED-Diktatur dauerhaft vergiftet. Selbst Mord und Totschlag wollten sie für den Fall der Veröffentlichung nicht auszuschließen.
Die anderen, zumeist Mitglieder der Bürgerbewegung, stritten für den freien Zugang zu den Stasi-Akten. Ihr Argument: Das in 35 Jahren angesammelte Herrschaftswissen im SED-Staat müsse an die Bevölkerung zurückgegeben werden. Wer die Akten vernichte, behindere nicht nur den notwendigen gesellschaftlichen Heilungsprozess – er vernichte auch die Chance auf eine geschichtliche und kulturelle Aufarbeitung der SED-Herrschaft.
Begleitet wurde die Debatte durch immer neue Meldungen, die aus dem Schattenreich des früheren Machtinstruments drangen, mal über den obersten DDR-Devisenbeschaffers Alexander Schalck-Golodkowski, mal über die Aufnahme von zehn kampfesmüden Mitgliedern der terroristischen Roten Armee Fraktion in der DDR Mitte der achtziger Jahre.
178 Kilometer Akten
So klar die Vergangenheit, so unklar ist derzeit die Zukunft der Stasiaktenbehörde. Eine unabhängige Expertenkommission hatte nach monatelangen Verhandlungen im April des Jahres im Kern empfohlen, die Stasiakten bis 2021 ins Bundesarchiv zu überführen. Eine neue Stiftung sollte die weitere Geschichtsaufarbeitung sicherstellen und die frühere Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg zum „Ort der Aufklärung über Diktatur und Widerstand“ weiterentwickelt werden.
Die Rechnung wurde aber ohne die Verbände der Stasiopfer gemacht. Die protestierten vehement gegen eine Auflösung, anschließend wurden die Vorschläge ad acta gelegt. Der Bundestag beschloss dann mit der Mehrheit der Regierungsfraktionen, über den Umbau der Behörde erst in der nächsten Legislaturperiode zu entscheiden.
Insgesamt 178 Kilometer Akten hat der Geheimdienst nach seiner Auflösung hinterlassen. Der gesamte Aktenberg bringt etwa 5.340 Tonnen auf die Waage. Hundert Kilometer der Papiere sind heute wie vor Wendezeiten in einem fensterlosen Neubau in der ehemaligen Berliner Stasizentrale an der Normannenstraße gelagert.
Die monströsen Ausmaße der MfS-Überwachung schlugen sich sogar in der Architektur der Stasigebäude nieder. Wände und Böden des neunstöckigen Zentralarchivs mussten aus besonders dickem Beton gefertigt werden, damit es den Belastungen durch die gewaltigen Papiermassen überhaupt standhalten konnte.
Statistisch ist die Öffnung der Stasiakten ein Erfolg. Seit Bestehen der Behörde wurden bis Mitte 2016 über 3,1 Millionen Anträge auf persönliche Akteneinsicht gestellt. Zunehmend wichtiger ist der Zugang zu den Akten für Wissenschaftler und Journalisten. Im Jahre 2015 wurde rund 1.350 Mal Einsicht in die Akten für die historische Aufarbeitung und für Bildungsprojekte beantragt.
Stolpe, Gysi, Kohl
Immer wieder hat das Wissen aus den Akten öffentliche Diskussionen über Verantwortlichkeit in einer Diktatur entfacht – und über die Konsequenzen, die daraus für heute gezogen werden können. In den Anfangsjahren bestimmten prominente Politiker und ihre Stasi-Verstrickungen die Schlagzeilen. Manfred Stolpe, Gregor Gysi und der frühere Bundeskanzler Helmut Kohl stehen exemplarisch für diese Diskussionen.
Die Befürworter einer Aktenöffnung mussten sich allerdings bald der Bürokratie beugen. Bürgerbewegte, Kirchen und Stasiauflöser hatten stets darauf beharrt, dass jede Stasiverstrickung nur im konkreten Einzelfall bewertet werden könne. Die individuellen Umstände sollten in Rechnung gestellt werden, wenn eine Person etwa zur Zusammenarbeit mit dem MfS erpresst worden war. Die Hoffnung war aber auch, dass sich über diese Diskussionen zivilgesellschaftliche Normen entwickeln und der postkommunistischen Gesellschaft ein demokratisches Korsett angelegt werden könnte.
Stattdessen wurden – wie in der aktuellen Auseinandersetzung um den Berliner Bau-Staatssekretär Andrej Holm – im Bereich des öffentlichen Dienstes Fragebögen eingeführt, in denen Stellenbewerber eine mögliche Stasitätigkeit anzukreuzen hatten. Einem falsch gesetzten Kreuz folgt meist die Entlassung – nicht wegen der früheren Arbeit für den DDR-Geheimdienst, sondern wegen falscher Angaben bei der Anstellung. Die öffentliche Hand verkehrte so die Intentionen, die mit der Öffnung der Archive verbunden waren.
Trotz alledem: Zweieinhalb Jahrzehnte nach der Öffnung der Stasiakten belegt schon die Normalität, in der die Aktenbehörde ihren Auftrag erfüllt, den Erfolg dieses beispiellosen Experiments. Einmal gewährt, ist das Recht, den von staatlicher Willkür verzerrten Teil der individuellen Biografie kennen zu lernen, nicht rückholbar. Warum auch? Was in den Lesesälen der ehemaligen Stasizentrale stattfindet, ist Staatsbürgerkunde der einprägsamsten Art. Die gesellschaftliche Resistenz gegen autoritäre und nostalgische Verlockung lässt sich wohl kaum sicherer fördern als durch die Konfrontation mit den Akten.
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