2019 – Jahr der Proteste: Mit Becher und Holzlöffel
Fast täglich geht Stefania Vega seit Oktober zu Demos auf die Straßen von Santiago de Chile. Ihre wichtigsten Protest-Instrumente hat sie immer dabei.
Der Kreisverkehr ist Verkehrsknotenpunkt der Hauptstadt, der den wohlhabenden Osten vom ärmeren Westen trennt. Seit über zwei Monaten ist dieser Platz der Treffpunkt der Demonstranten. Aber heute scheint es nahezu unmöglich, dort anzukommen. Der Bürgermeister Felipe Guevara hat eine „Nulltoleranzstrategie“ angekündigt. Über 1.000 Polizist*innen sind im Einsatz. Sie sind mit Pferden, Motorrädern, Wasserwerfern und Tränengasfahrzeugen unterwegs. Ihr Ziel: die Protestierenden daran zu hindern, sich zu versammeln.
Mehrere Tränengasgranaten landen direkt neben Vega und ihren Freundinnen. Ein weißer Nebel breitet sich aus. Ein Wasserwerfer nähert sich. Die Frauen flüchten in ein kleines Restaurant, dessen Besitzer Zuflucht bietet und anschließend die Rollläden hinunterlässt. Vegas Augen sind rot und sie hustet.
Eine ihrer Freundinnen sprüht ihr Wasser mit Natron ins Gesicht, das hilft gegen das Tränengas. Ein paar Minuten später gehen sie zurück auf die Straße, wo sich bereits wieder eine Menschenmenge versammelt hat. Sie rufen: „Avanzar, avanzar, a la Plaza Dignidad“ – Weiter geht’s zum Plaza Dignidad.
Die neue Normalität: auf die Straße gegen
Protestieren gehört mittlerweile zum Alltag der 33-jährigen Stefanía Vega. „Es ist eine neue Normalität entstanden. Dazu gehört auch, sich die Zeit anders einzuteilen. Neben all den anderen Dingen, die ich mache, plane ich Zeit ein, um zum Protest zu gehen, zur Asamblea oder zum Cacerolazo“, sagt sie. Asambleas sind die autonomen Nachbarschaftsversammlungen.
Empfohlener externer Inhalt
Der Cacerolazo ist eine Protestform aus den Zeiten der Militärdiktatur, bei der mit Töpfen, Pfannen und Kochlöffeln Lärm gemacht wird. Mittlerweile benutzen die Leute dazu alle möglichen Gegenstände, um Lärm zu machen. Sie schlagen mit einem Stock gegen einen Laternenpfahl. Vega hat immer einen kleinen Becher aus Metall und einen Holzlöffel in ihrem Rucksack dabei. Damit macht sie auch heute beim Protest Lärm. „Wir gehen vor die Tür mit dem, was wir haben. So unbewaffnet sind wir und so stark ist unser Bedürfnis, gehört zu werden. Die Hände reichen nicht mehr aus, deshalb nehmen wir Holzlöffel.“
Mit lärmenden Cacerolazos begann Vegas Teilnahme an den Protesten, die sich seit dem 18. Oktober im ganzen Land ausgebreitet haben. In den Wochen zuvor hatten Schüler*innen mit kollektivem Schwarzfahren gegen eine Fahrpreiserhöhung bei der Metro protestiert. „Als die Absperrungen der Metro-Stationen umgestürzt wurden, hatte ich das Gefühl, dass alles umgestürzt werden würde.“
Die Wut der Chilen*innen hat sich über Jahrzehnte angestaut. Sie entlädt sich innerhalb weniger Tage. Im ganzen Land brennen Barrikaden, Statuen aus der Kolonialzeit werden zerstört, Geschäfte geplündert. Präsident Sebastián Piñera verhängt für eine Woche den Ausnahmezustand und schickt Soldaten auf die Straße. Viele Menschen fühlen sich an die Pinochet-Diktatur erinnert, auch Vega. Ihre Mutter wurde während der Diktatur verfolgt, weil sie in einem staatlichen Kindergarten arbeitete und nicht mit dem Regime einverstanden war. „Immer stand ein Auto vor unserer Tür und hat uns überwacht“, erinnert sich die 33-Jährige.
Vega lebt im Zentrum Santiagos in einer Wohnung gemeinsam mit ihrer Schwester und ihrem sechsjährigen Neffen. Am 19. Oktober geht sie mit ihnen gemeinsam zum Cacerolazo und macht danach fast jeden Tag den Lärm der Revolte, häufig alleine, weil ihr Neffe sich fürchtet. „Als die Soldaten auf der Straße waren, konnte ich nicht zu Hause bleiben. Sie wollten uns dazu zwingen, nicht auf die Straße zu gehen, und ich wollte mich dem nicht unterwerfen. Ich musste auf die Straße“, sagt sie.
Auf der Straße Alameda ist ein Durchkommen an diesem Freitag unmöglich. Vega und ihre Freundinnen müssen einen Umweg über den Parque Forestal nehmen. Der Park, wo sich früher Jugendliche und Familien trafen, gleicht heute einem Schlachtfeld. Protestierende werfen Steine, Polizisten schießen. Wenige Meter neben Vega schießt ein Polizist eine Tränengasgranate direkt auf den Körper eines Demonstranten, der zu Boden sackt. Helfer tragen ihn zu einer Erste-Hilfe-Station. Vega schlägt mit ihrem Becher gegen einen Laternenpfahl. „Die Polizisten handeln in kompletter Straflosigkeit“, sagt sie. „Sie wenden Methoden aus der Diktatur an. Chile verwandelt sich in einen Polizeistaat.“ Die Protestierenden rufen: „Allí están, ellos son, los que matan si razón“ – Da sind sie, sie sind es, die ohne Grund töten.
Das Jahr der Proteste
25 Tote, mehr als 3.500 Verletzte – angeblich lauter Einzelfälle
Wenig später wird ein Demonstrant zwischen zwei Polizeiwagen eingequetscht und verletzt. Bürgermeister Guevara spricht anschließend von einem Verkehrsunfall. Mehr als 25 Menschen sind seit Beginn der Proteste ums Leben gekommen, mehr als 3.500 wurden verletzt, davon über 2.000 durch Schusswaffen, allein 359 haben Augenverletzungen erlitten. Die Regierung spricht von Einzelfällen. In einem Interview behauptet Präsident Sebastián Piñera, die Videos, die die Gewalt der Polizei zeigen, seien „gefälscht und im Ausland aufgenommen worden“.
Stefanía Vega, Studentin
„In Chile muss die historische Schuld der Militärdiktatur beglichen werden. Hier wurde der Neoliberalismus auf Kosten von Menschenleben eingeführt, ohne die Möglichkeit, sich dem zu widersetzen“, sagt Vega. „Aber vielleicht liegt die Ursache noch viel weiter zurück. Die Landbevölkerung und die Arbeiter wurden nie als politische Subjekte anerkannt. Bis heute werden die Forderungen der Bevölkerung nicht ernst genommen. Die bürgerliche Klasse hat Zugang zu allem, weil sie Geld hat. Dann gibt es ein paar politische Maßnahmen für die Ärmsten der Armen. Aber was ist mit dem Rest?“
Zur Ungleichheit gehören der Zugang zur Gesundheitsversorgung, zur Bildung und zu bezahlbarem Wohnraum. Alle sozialen Grundrechte sowie die Strom- und Wasserversorgung wurden während der Militärdiktatur privatisiert. Chile ist eines der Länder mit der größten sozialen Ungleichheit der Welt. „Sogar unsere Träume waren asymmetrisch“, sagt Vega. „Man träumte im Bereich des Möglichen. Und das Mögliche war vor dem 18. Oktober ein sehr schmaler und begrenzter Raum.“
Das Unrecht im Studium kennengelernt
Als sie 17 Jahre alt war, wollte Vega Film studieren. „Aber als drittes von fünf Kindern war das unmöglich.“ Film ist einer der teuersten Studiengänge und kostet zwischen 5.000 und 10.000 Euro im Jahr.
Deshalb studierte sie Anthropologie. Dafür mussten ihre Eltern einen Kredit aufnehmen. 2008 war sie zum ersten Mal im Valle del Huasco im Norden Chiles, wo unter Gletschern große Gold-, Silber- und Kupfervorkommen vermutet werden. Ein kanadisches Unternehmen wollte dort Teile der Gletscher abtragen, um die Rohstoffe abzubauen. Vega machte bei einer Bürgerbewegung dagegen mit. „Ich fand es unfassbar, dass alle Leute gegen das Projekt waren, aber das Unternehmen trotzdem weitermachen wollte.“
Der 18. Oktober 2019 sei der Wendepunkt gewesen, meint Stefanía Vega, sowohl auf persönlicher als auch auf kollektiver Ebene. „Das falsche Bild der Mittelschicht ist zerfallen. Wir haben erkannt, dass wir alle in der gleichen prekären Situation leben. Wir wollen ein Leben führen, in dem wir nicht nur arbeiten, um Rechnungen zu bezahlen“, sagt sie. „Chile hat sich innerhalb weniger Stunden politisiert. Jetzt reden alle über Politik und über ihre Forderungen. Wir haben gelernt, uns wieder in die Augen zu schauen, miteinander zu sprechen und gemeinsam zu träumen.“
Am 15. November schließen Regierung und Opposition ein Abkommen über eine neue Verfassung. Kritiker befürchten jedoch, dass dieselben Politiker*innen, deretwegen die Proteste begonnen haben, den Weg zu einem neuen Grundgesetz zu ihren Gunsten lenken wollen. „Das Abkommen war der Rettungsring von Präsident Piñera, um an der Macht zu bleiben. Die politische Klasse hat komplett ihre Legitimität verloren, aber will weiter die Entscheidungen treffen“, meint Vega. „Deshalb müssen wir weiter auf die Straße gehen.“
Stefanía Vega und ihre Freundinnen sind mittlerweile am Plaza de la Dignidad angekommen. „Es fühlt sich an, als hätten wir den Kampf gewonnen. Für jemanden, der nicht hier ist, scheint es wahrscheinlich unwichtig, hier anzukommen oder nicht. Aber für uns ist der Plaza zu einem politischen Ort geworden. Er ist das umkämpfte Territorium hier in der Stadt.“ Die Protestierenden rufen: „El pueblo unido jamás será vencido“ – Das vereinte Volk wird niemals besiegt werden. „Wir wissen nicht, was die Zukunft bringen wird, aber wir tun alles dafür, damit sie besser wird als die Gegenwart. Es fühlt sich an wie der Beginn einer neuen Ära.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen