20 Jahre „Asylkompromiss“: Grausame Lotterie
Flüchtlinge werden in Europa sehr unterschiedlich behandelt, wie der Fall einer syrischen Familie zeigt. Auch ein neues EU-System ändert das nicht.
BRÜSSEL taz |Beim ersten Mal verlor Berevan Yousef Al-Haji ihr Kind. Nachdem der Geheimdienst ihren Mann Ali Majid, ein Mitglied der oppositionellen Kurdenpartei, verhaftet hatte, kamen Polizisten in das Haus der Familie im syrischen Grenzort Ras al-Ain.
Mit Waffen bedrohten sie die schwangere Frau und sagten, dass sie Ali getötet hätten. Tatsächlich lebte der, doch als er nach acht Wochen freigelassen wurde, war sein Körper entstellt von den Stromschlägen, mit denen er gefoltert wurde.
Als Ali sich auch später weigerte, für Assads Geheimdienst zu spionieren, kamen die Polizisten zurück. Wieder verwüsteten sie das Haus, wieder nahmen sie Ali mit, wieder folterten sie ihn. Dann hielt die Familie es nicht mehr aus. Mit den vier Kindern im Alter von eins bis sieben flohen sie Ende 2010 über Algerien nach Rom.
Am 6.12. 1993 einigte sich die CDU, CSU, FDP und die oppositionelle SPD auf den sogenannten Asylkompromiss. „'Der Sack wird zugemacht', jubilierten Teilnehmer der Verhandlungen“, meldete die dpa. Nachdem die Sitzung wegen zu großer Differenzen unterbrochen worden war, hatten die Parteien am späten Abend noch einen Kompromiss gefunden.
Im Mai 1994 verabschiedete der Bundestag mit 521 zu 123 Stimmen die Änderung des Artikels 16 des Grundgesetzes: Politische Verfolgte können seitdem kein Asyl mehr beantragen, wenn sie „aus einem sicheren anderen Drittstaat einreisen“, in dem die Genfer Konvention gewahrt wird. „Aufenthaltsbeendende Maßnahmen“ können dann „unabhängig von einem hiergegen eingelegten Rechtsbehelf vollzogen werden“. Als sicher gelten alle Nachbarstaaten Deutschlands.
Die damals hohen Asylzahlen in Deutschland sanken im ersten Jahr um 60 Prozent und innerhalb von zehn Jahren um 85 Prozent.
Das in Deutschland erfundene Prinzip, wonach die Verantwortung für neu ankommende Flüchtlinge auf die Transitstaaten abgewälzt wird, wurde auf EU-Ebene Vorbild für die 2003 in Kraft getretene Dublin-II-Verordnung. Seither sind die Staaten an den EU-Außengrenzen allein zuständig für alle Asylverfahren von Menschen, die auf dem Land- oder Seeweg in die EU kommen. Ein Asylantrag in Zentral- oder Nordeuropa ist nur noch sehr schwer möglich.
Dort nahm die Polizei ihre Fingerabdrücke auf und sperrte sie ein. Nach einigen Tagen wurde die Familie auf die Straße gesetzt, mit nichts weiter als einem Papier, auf dem stand, dass sie Italien in vier Wochen zu verlassen haben. Eine Woche lebten sie auf der Straße, dann holte ein Verwandter sie ab.
Heute sitzen die Majids im Flüchtlingsheim im bayerischen Immenstadt. Ein Psychologe hat die Mutter für krank erklärt, das Landratsamt Ostallgäu will die Familie dennoch abschieben – nach Italien. Denn gemäß der „Dublin II“-Verordnung der EU können die Majids nur dort einen Asylantrag stellen, weil sie dort in das Schengen-Gebiet eingereist sind.
Italien überfordert
Doch in Italien stünden sie vor dem Nichts: „Die große Mehrheit der Asylsuchenden muss in Italien ohne Obdach und ohne gesicherten Zugang zu Nahrung, Wasser und Elektrizität leben. Auch die Gesundheitsversorgung ist nicht ausreichend sichergestellt“, urteilte am 2. Juli das Verwaltungsgericht Stuttgart im Fall einer anderen syrischen Familie. Wehren können die Majids sich trotzdem nicht: Widersprüche gegen die sogenannten Dublin-Abschiebungen haben keine aufschiebende Wirkungen. Abgeschoben wird sofort, verhandelt wird später.
Glaubt man der EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström, dann sollen Geschichten wie die der Majids künftig der Vergangenheit angehören. In der letzten Woche präsentierte Malmström in Brüssel das Ergebnis der jahrelangen Verhandlungen zum Gemeinsamen Europäischen Asylsytem (GEAS). „Das System der Vergangenheit war wie eine grausame Lotterie für die Flüchtlinge“, sagte Malmström – ihre Behandlung innerhalb Europas ist extrem unterschiedlich, je nachdem, wo sie landen.
Während die Außengrenzen-Staaten wie Griechenland, Zypern, Malta, Ungarn oder Italien Flüchtlinge erst in Internierungslagern einsperren, um sie dann meist sich selbst zu überlassen, gewähren viele Staaten Zentral- und Nordeuropas relative Freiheit und Versorgung. Und während Frankreich letztes Jahr nur jeden zehnten Asylantrag anerkannt hat, waren es in den Niederlanden fast die Hälfte.
„Zehn EU-Länder nehmen 90 Prozent der Flüchtlinge auf. 17 Länder könnten also mehr tun“, sagt Malmström. Im Stockholmer Programm von 2008 hatte die EU sich deshalb auf das „zentrale Ziel“ verpflichtet, ihr Asylsystem bis Ende 2012 zu harmonisieren. „Unser Ziel war: Schutz zu würdevollen Bedingungen. Denn trotz der Krise sind wir noch immer eine der wohlhabendsten Regionen der Welt“, sagt Malmström.
Große EU-Staaten bremsen
Die GEAS-Verhandlungen stehen nun kurz vor dem Abschluss. Am Donnerstag beraten die EU-Innenminister in Brüssel über das GEAS, wenn Parlament, Kommission und Rat sich wie geplant noch vor Weihnachten auf das Paket einigen, sei dies ein „historischer Schritt“, sagt Malmström. Sie verweist auf bessere Rechte für Schwangere, Kranke und unbegleitete Minderjährige, auf leichteren Zugang zum Arbeitsmarkt und Mindeststandards für Sozialleistungen und Wohnungen.
Das in Malta ansässige European Asylum Support Office soll künftig EU-weit Entscheider trainieren, damit Prozedere und Anerkennungspraxis vergleichbar werden und um die „Qualität der Entscheidungen zu erhöhen“. Ländern wie Italien und Griechenland soll mit Know-how und Geld geholfen werden, annehmbare Lebensbedingungen für Asylsuchende zu schaffen.
In den kommenden zehn Jahren werde „alles besser“, sagt Malmström, „mehr Länder werden die Infrastruktur haben, um Schutz zu bieten“, und irgendwann werden nicht mehr einige Länder sehr viel beliebter sind bei Flüchtlingen als andere.
Das muss bezweifelt werden. Denn die Kommission, die zu Beginn der Verhandlungen sehr weitreichende Verbesserungen vorgeschlagen hat, konnte nur wenig davon gegen Großbritannien, Frankreich und Deutschland durchsetzen. Kaum irgendwo ist die Neigung der Mitgliedstaaten so groß, ihre Souveränität gegen Brüssel zu behaupten, wie bei der Migration.
Kaum Veränderungen
Die Punkte, an denen das EU-Asylsystem krankt, tastet der Kompromiss deshalb nicht an: Auch künftig wird es kein Verfahren geben, das Flüchtlinge halbwegs gerecht über Europa verteilt, statt sie in den ärmeren Außengrenzen-Staaten zu ballen. Auch künftig wird es keine Möglichkeit des legalen Zugangs zum EU-Territorium und kein Verbot geben, Flüchtlinge einzusperren, die keine Straftat begehen.
„Mit allem, was als ’Pull-Faktor‘ gilt, also Flüchtlinge anziehen könnte, kamen wir bei den Mitgliedstaaten nicht durch“, sagt ein Brüsseler Diplomat dazu. Hinzu kommt, dass die Problemländer in Südeuropa kein Geld haben, um die verbesserten Standards zur Unterbringung und Versorgung einzulösen – die künftig vorgesehenen Zuschüsse aus Brüssel dürften dies kaum ausgleichen.
„Das neue System geht nicht weiter als das, was es bisher gab“, sagt auch Elisabeth Colett, die Direktorin des Europäischen Instituts für Migrationspolitik. „Bei den Verhandlungen ging es nicht um die Bedürfnisse der Flüchtlinge, sondern darum, die Asyl-Zahlen zu drücken.“
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