186. Verhandlungstag im NSU-Prozess: Schwankend aufs Fahrrad
Zschäpe privat: Eine Nachbarin berichtet im NSU-Prozess vom Alkoholkonsum der Angeklagten. Die Befragung des sächsischen VS-Chefs fällt aus.

MÜNCHEN taz | Das letzte Mal, als Gabriele S. ihre Nachbarin Lisa sah, war an einem sonnigen Tag im September 2011. Lisa sagte: „ Ich kann heut’ ein bisschen länger bleiben, die Jungs haben heute Männerabend.“ Zwei Monate später war Lisas Gesicht in allen Zeitungen. Sie hieß jetzt Beate Zschäpe, „die Jungs“ waren die zwei Uwes des NSU-Trios. Planten sie an ihrem „Männerabend“ vielleicht den nächsten Raubüberfall, den nächsten Mord?
Am heutigen 186. Verhandlungstag war eigentlich die Zeugenvernehmung des Präsidenten des sächsischen Verfassungsschutzes, Gordian Meyer-Plath, der in den 90er Jahren V-Mann-Füher des umstrittenen V-Manns Carsten Sz. alias Piatto gewesen war. Doch die fiel aus, weil Zschäpe gesundheitlich angschlagen ist und die Sitzung verkürzt wird. Sie soll nun am Mittwoch nächster Woche nachgeholt werden. Im Mittelpunkt des heutigen Verhandlungstages steht Gabriele S.
Mehr als drei Jahre nach der letzten Begegnung sitzt S. ihrer früheren Nachbarin wieder gegenüber und sieht sie zum ersten Mal als das, was sie mutmaßlich ist: ein Mitglied des NSU-Trios, das für 10 Morde, 2 Bombenanschläge und 15 Raubüberfälle verantwortlich sein soll. Über Politik hatten sie nie geredet. „Dann hätte ich mit ihr nicht mehr gesprochen“, sagt S. Die 46-jährige, korpulente Altenpflegerin mit den kurzen, blonden Haaren ist nicht die Art Nachbarin, die hinter Vorhängen hervorlukt, um die Geheimnisse ihres Häuserblocks auszuspionieren. Von den Waffen im Keller des Trios hat sie nichts mitbekommen, dafür kennt sie Alltagsgeschichten über Zschäpe.
S. erzählt von ihrer Nachbarin Lisa, wie Zschäpe sich damals nannte, die gern radelte und auch mal einen über den Durst trank. Etwa vier Jahre lang lebten sie im gleichen Haus in der Polenzstraße in Zwickau, eine Gegend mit schmuddeligen Fassaden und Discount-Supermärkten. Lisa war eine „angenehme Person“, die „sehr offen auf andere zugegangen ist“, erinnert sich S. Eine gute Zuhörerin, die von sich selbst nur wenig preisgab, wie S. später der Polizei sagte.
S. wusste nur, dass sie vom Geld ihres Schwiegervaters lebte und ihr Lebensgefährte „auf Montage“ ging. Zweimal hat S. sie mit zwei Männern gesehen, der eine „mit bisschen Haaren“, der andere „muskulös“. An den muskulösen erinnert sie sich besser. Einmal halfen sie beim Umzug, das andere Mal packten sie Fahrräder und Taschen in ihr Wohnmobil, um in den Urlaub zu fahren.
Manchmal saß S. mit Lisa und einer anderen Nachbarin, Frau K., im Hof zum Trinken, Grillen und Feiern. Auch als Lisa alias Zschäpe schon in die Frühlingsstraße umgezogen war, kam sie immer noch zu Besuch. Zu Frau K. hatte sie ein engeres Verhältnis, sagt S. Lisa erledigte ihren Wocheneinkauf und bezahlte ihn auch. „Frau K. hat sehr oft andere Leute angepumpt. Lisa war nicht die einzige“, sagt S. Einmal hat es ihr aber gereicht. Als Frau K. wieder einmal sagte, sie hätte kein Geld, hätte ihr Lisa eine „Standpauke“ gehalten. „Ich hab gedacht, sie haut ihr eine rein“, sagt S.
Ende 2011, ein paar Monate, bevor der NSU aufflog, hätte sich Lisa verändert. Sie sprach nicht mehr so locker, wirkte auf S. angespannt. Als S. nachfragte, hieß es, alles sei in Ordnung. „Sie hat auch mehr getrunken“, sagt S. „Whisky gemischt mit Wein und Sekt“. Wieviel? „Sie hat schon Flaschen geleert, aber ich zähl doch da nicht mit“. Eben so viel, dass sie etwas schwer auf’s Rad kam. Die Vorstellung einer schwankenden Zschäpe bringt einige im Publikum zum Lachen. Zschäpe selbst ist blaß, gesundheitlich angeschlagen. Doch jetzt hebt auch sie kurz den Blick vom Laptop und schaut ihre frühere Nachbarin belustigt an.
Egal wie alltäglich oder banal die Nachbargeschichten auch sind, Nebenkläger und Verteidigung bohren nach. Hat Zschäpe im Netto mit EC-Karte gezahlt oder bar? Wann wurde der Aldi gegenüber gebaut? Nicht hinter allen Fragen ist ein Sinn zu erkennen. Auffällig ist, wie Verteidiger Wolfgang Stahl nachfragt, ob Zschäpe bei den „Männerabenden“ nicht erwünscht war und damit nahe legt, seine Mandantin sei kein gleichberechtigtes Mitglied des NSU gewesen.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Werben um Wechselwähler*innen
Grüne entdecken Gefahr von Links
Kanzler Olaf Scholz über Bundestagswahl
„Es darf keine Mehrheit von Union und AfD geben“
Weltpolitik in Zeiten von Donald Trump
Schlechte Deals zu machen will gelernt sein
Berlinale-Rückblick
Verleugnung der Gegenwart
Einführung einer Milliardärssteuer
Lobbyarbeit gegen Steuergerechtigkeit
Nichtwähler*innen
Ohne Stimme