150 Jahre „Das Kapital“ von Karl Marx: „Gleichmacherei ist ihm ein Horror“
Eines der Hauptwerke von Karl Marx erschien vor 150 Jahren. Der Historiker Gerd Koenen über Kommunismus, die Bolschewiki und das, was von Marx übrigblieb.
Gerd Koenen (73) hat wie kein zweiter die Wandlungen des bundesdeutschen Linksradikalismus reflektiert. In den 70ern war er Führungskader einer maoistischen Splittergruppe. 2001 schrieb er mit „Das rote Jahrzehnt“ eine schwungvolle Abrechnung mit der 68er Linken. „Die Farbe Rot“ ist sein Opus Magnum, ein voluminöses, erzählerisch geschriebenes Essay, eine Tiefenbohrung zu dem Ideenreservoir, aus dem sich der Kommunismus speiste. Über sich selbst sagt der Russland-Experte: „Ich bin immer noch Sozialist.“
taz.am wochenende: Herr Koenen, Sie haben tausend Seiten über die Geschichte des Kommunismus geschrieben. Warum?
Gerd Koenen: Ich finde, das ist für ein so einzigartiges Phänomen sehr knapp. Dass kommunistische Regime im 20. Jahrhundert zu Weltmächten aufgestiegen sind und zeitweise ein sozialistisches Lager gebildet haben, ist doch ebenso Staunen erregend wie die abrupten Umbrüche und Transformationen nach 1989. Und dann ist da noch Marx und der moderne Sozialismus und seine weit in die Geschichte zurückreichenden Wurzeln.
Ist der Kommunismus, der 1917 die Macht eroberte, ein toter Hund? Oder lebt da noch etwas?
Der Autor: Gerd Koenen wurde 1944 in Marburg/Lahn geboren. Alles weitere kann man nachlesen auf www.gerd-koenen.de.
Das Buch: Der große Essay „Die Farbe Rot“ ist soeben im C.H. Beck Verlag erschienen. 1.133 S., 38 Euro.
Nicht „der Kommunismus“ hat 1917 die Macht erobert, sondern Lenin und seine Partei, die sich diesen älteren Titel wieder frisch auf die Fahne schrieben. Im heutigen China und Russland sind die Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme zwar radikal verändert worden. Aber in China herrscht ungebrochen dieselbe KP, und in Russland bilden die silowiki, die Erben der alten Machtstrukturen, den Kern einer neuen Kreml-Oligarchie. Diese erfolgreiche Selbstbehauptung hat mich veranlasst, die ganze globale Geschichte des modernen Kommunismus noch einmal zu reinterpretieren.
Wann taucht der Begriff Kommunismus erstmals auf?
1840 in Frankreich. Das Wort ist neu, aber klingt, als wäre es schon immer dagewesen – und wird von den Besitzenden sofort als ultimative Bedrohung verstanden.
Noch bevor Industrie und Proletariat entstehen?
Ja, weil schon die ersten Fabriken statt frohem Fortschrittsoptimismus eher das katastrophische Gefühl erzeugen, in einem Entwicklungsstrom zu stecken, der alles fortreißt, alle Sicherheiten und moralischen Standards untergräbt. Darum drehen sich die meisten großen Romane der Zeit von Charles Dickens bis Victor Hugo – noch ohne dass Industrie und Proletariat zum Thema werden.
Das „Kommunistische Manifest“ von Marx und Engels katalysiert 1848 die Ängste der besitzenden Klassen. Weil es die Utopie einer egalitären Gesellschaft malt?
Es ist komplizierter. Marx tritt von Anfang an als entschiedener Anti-Utopist auf. Alle klassischen Utopien sind seit Thomas Morus ja Entwürfe stillgestellter Gesellschaften, die abgeschirmt auf fernen Inseln angesiedelt werden. Marx ist gerade umgekehrt ein Denker der Beschleunigung und Dynamik, der Nutzung der allermodernsten Produktivkräfte, die die alte Welt in Trümmer legen.
Aber die zeitgenössischen Utopien sind auch egalitär und strenge Erziehungsregime. Sind da nicht mehr Ähnlichkeiten?
Nein. Marx stellt ja früh die Frage: Wer erzieht die Erzieher? Und Egalitarismus, Gleichmacherei ist ihm ein Horror. Sozialismus ist bei ihm eine strikt meritokratische Gesellschaft, in der persönliche, kooperative Leistung zählen, nicht Besitz und Herkunft. Und der vage umrissene Kommunismus wäre erst recht eine Gesellschaft, in der, gerade weil für alle genug da ist, die Unterschiede der individuellen Interessen erst richtig zur Geltung kommen.
So wie es Ilja Ehrenburg im Gespräch mit Sartre sagte: Die Tragödie der Menschheit beginnt, wenn der Kommunismus gesiegt hat.
Das Zitat kenne ich nicht, aber damit wäre er näher an Marx als die meisten Marxisten. Der Kommunismus als Ende der Geschichte im Sinne Hegels ist jedenfalls ein Missverständnis. Für Marx markiert er den Beginn einer nicht mehr von unversöhnlichen Widersprüchen zerrissenen, neuen Entwicklung. Den Begriff Kommunismus hat er nach 1850 kaum noch verwendet.
Dieser Text stammt aus der taz.am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
Marx und Engels hielten es für keinen Schaden, wenn „reaktionäre Völker“ von der Bildfläche verschwinden. Beide frönten einem rüden Begriff von Fortschritt, für den kein Opfer zu groß ist.
Schon wahr. Aber der kapitalistische Fortschritt selbst produzierte im 19. Jahrhundert ja die ungeheuerlichsten Opfer. Das hat Marx nicht erfunden, sondern leidenschaftlich verurteilt und gleichzeitig kühl analysiert. Die britische Kolonialherrschaft in Indien zum Beispiel hat er als Inbegriff eines Fortschritts angeprangert, der wie ein heidnischer Götze seinen Nektar aus den Schädeln der Erschlagenen trinkt – und hat ihn gleichzeitig als die erste echte Revolution in der indischen Kasten-Gesellschaft bezeichnet, die einen Weg in die Zukunft eröffnen wird.
Steckt in diesem Zivilisationsenthusiasmus ein totalitärer Kern?
Ja, wenn einem Marx unheimlich ist, dann weniger als kommunistischer Revolutionär denn als ein betont westlicher Entwicklungsfanatiker.
Leszek Kolakowski meinte, dass Aggression und Geschlechtlichkeit, Körper, Krankheit und Tod im Marx ’schen Denken keine Rolle spielen. Das Humane scheint unendlich formbar. Verbirgt sich darin etwas Repressives?
Vielleicht. Aber die etwas aseptische Idee einer unendlichen Optimierung des Humanen war kein Alleinstellungsmerkmal der Sozialisten, sondern bei allen säkularen Strömungen dieser Zeit verbreitet. Ich finde das Bild einer befreiten Gesellschaft bei Marx auch gar nicht besonders extravagant. Es sollen halt keine Menschen mehr auf Kosten anderer leben. Und es soll eine Gesellschaft sein, worin „die freie Entfaltung eines Jeden die Bedingung der freien Entfaltung Aller“ wäre. Das betrifft an ganz vorderer Stelle auch die Aufhebung der tief eingewurzelten Arbeitsteilungen zwischen Mann und Frau – im Sinne der Herausarbeitung ihrer geschlechtsspezifischen Individualitäten, nicht eines Gendermainstreaming.
Nutzt es 2017 etwas, das „Kommunistische Manifest“ zu lesen? Oder ist das nur ein historisches Dokument?
Es ist als historisches Dokument bedeutsam, weil es exakt den Punkt markiert, an dem erstmals ein umfassender Markt von Waren, Ideen und Kommunikationen und ein sich zwanghaft und krisenhaft vorantreibender Prozess einer globalisierten Kapitalverwertung sichtbar wird. Es ist der erste umfassende Versuch, den Kapitalismus zu denken. Dabei nimmt es im weiten Vorgriff einen Zustand vorweg, den es im Grunde erst heute gibt …
… den integrierten Weltmarkt
… ja, der ironischerweise erst mit der Auflösung des abgeschotteten sozialistischen Lagers entstanden ist. Erst jetzt erleben wir eine totale Industrialisierung, Rationalisierung, Kommerzialisierung von Industrien, Landwirtschaft, Handel, Büroarbeit, Dienstleistungen, Gesundheit. Und während in der globalen Unterwelt der Arbeit noch in der allerprimitivsten Weise mit muscles und bones geschuftet und mit Lebenskraft bezahlt wird, werden oben die schönen neuen Welten einer automatisierten Industrie 4.0 geprobt.
Diese hochproduktive, digitale Ökonomie hätte dem Fortschrittsfan Marx gefallen?
So bestimmt nicht. Marx ist ein Enthusiast der allseitigen menschlichen Fähigkeiten. Fortschritt misst sich für ihn in der Entfaltung der humanen Potenzen, in „freier Zeit für freie Entwicklung“, nur in zweiter Linie im Reichtum der Waren. Und schon gar nicht in technischen Gadgets, die in immer neuen Generationen in den Markt gedrückt werden und das Leben nur teilweise weiter, in vielem zwanghafter machen.
Wer hat das Copyright auf Marx – die Sozialdemokratie oder die Bolschewisten?
Niemand, weil dieses fragmentarische Werk ganz verschiedene Schlussfolgerungen zulässt.
Die doktrinäre Linke hat ihn lange als Säulenheiligen vereinnahmt.
Erstmal muss man sich vergegenwärtigen, dass das Marx’sche Denken rund 70 Jahre lang, von 1848 bis 1914, in die Begründung einer europäischen Sozialdemokratie und Arbeiterbewegungen eingeflossen ist. Diese Bewegungen drehten sich um die zentralen Fragen: um die soziale und staatsbürgerliche Emanzipation der arbeitenden Menschen ebenso wie der Frauen, die Aufhebung der religiösen und ethnischen Diskriminierungen, die Anprangerung des Kolonialismus und der imperialistischen Rüstungswettläufe. Die Marxisten dieser Generation gehörten, vielleicht mehr als die Liberalen, zum Kernplasma der europäischen Moderne.
In „Die Farbe Rot“ zeichnen Sie Lenin als Gegenfigur zu Marx. Marx ist komplex, tragisch, scheiternd, Lenin monoman und machtgieriger Berufsrevolutionär. Ist das nicht zu schlicht?
Lenin riskiert schon vor 1914 jede beliebige Spaltung, auch seiner engsten Gefolgschaft. Und gewinnt gerade so den Nimbus eines Unbeugsamen. Den Ersten Weltkrieg begrüßt er als Anbruch einer neuen Weltepoche und fordert dessen Umwandlung in einen internationalen Bürgerkrieg. Darin steckt ein furchtbarer Realismus.
Inwiefern?
Die Februarrevolution in Russland 1917 ist die größte spontane Massenaktion, die es bis dahin in der Geschichte gab. Lenin aber sieht realistisch voraus, dass ein epochaler Zusammenbruch dieses Vielvölkerreichs bevorsteht. Im Oktober ist die Inflation extrem, es herrscht Massenkriminalität, alle sind mit dem Überleben beschäftigt.
War die Erstürmung des Winterpalais im Oktober 1917 durch die Bolschewiki eine Revolution – oder ein Putsch?
Diesen Sturm hat es ja gar nicht gegeben, weil kein Widerstand mehr existierte. Die Bolschewisten waren in der Lage, mit 6.000 Bewaffneten die Macht an sich zu reißen.
Also ein Putsch?
Ein Machtstreich, sogar mit konterrevolutionären Zügen. Bei den Wahlen im November bekamen die Bolschewiki knapp ein Viertel der Stimmen. Das war viel, aber sie waren eine Minderheit. Also errichteten sie eine Diktatur.
Die es ohne Lenin nicht gäbe?
Ja, er ist die Schlüsselfigur. Selbst das ZK der Bolschewiki will ja lieber eine Koalitionsregierung mit Menschewiken und Sozialrevolutionären. Was kann auch gegen eine linke Koalition sprechen? Für Lenin spricht alles dagegen. Er droht sogar damit, aus dem ZK auszutreten und mit radikalen Bewaffneten gegen die eigene Partei zu marschieren.
Wie setzt Lenin diese extreme Position durch?
Er ist der Mittelpunkt dieses Machtordens, ein charismatischer Führer im Sinne Max Webers – aber nur nach innen hin. Er konzentriert all seine Energie darauf, den neuen bolschewistischen Machtkader zu formen und vorwärtszupeitschen. So beginnt der Feldzug zur Eroberung des eigenen Landes
Russland ist im Ende 1917 durch den Ersten Weltkrieg doch schon von Gewalt durchzogen. Sind wirklich die Bolschewiki allein schuld an der Brutalisierung bis 1921?
Sie sind ja zu keinen Kompromissen bereit. Sie begnügen sich auch nicht mit der politischen Diktatur und damit, aktiven Widerstand niederzuschlagen. Gerade weil sie sozial und politisch isoliert sind, müssen sie aufs Ganze gehen. Neben Erschießungen, Geiselnahmen und Verhaftungen tritt ein neuartiger sozialer Terror, der mit Arbeitszwang und Brotkarte alle Städter erfasst. Den Bauern lässt man ihren Flecken Land, nimmt ihnen dafür aber mit vorgehaltenem Gewehr ihre Überschüsse.
Rührt diese Skrupellosigkeit aus dem Marxismus?
Fast im Gegenteil. Bis 1918 geht von der sozialistischen Linken kaum organisierte Gewalt aus. Blutorgien gehen bis dahin auf das Konto der monarchischen oder bürgerlichen Konterrevolutionen. Erst Lenin praktiziert einen systematischen roten Terror.
Und an welche Traditionen knüpft er dabei an?
An die jakobinischen von 1789. Und an die der russischen Volkstümler, die im 19. Jahrhundert mit gezieltem Terror gegen die Machthaber agierten. Aber deren Terror, düster wie er war, erscheint im Vergleich skrupulös. Lenins Programm lautet, mit Hilfe einer Organisation von Berufsrevolutionären Russland mit barbarischen Methoden die Barbarei auszutreiben. Das stammt weniger aus marxistischen Vorstellungen als aus der Ideenwelt der russischen Intelligenzija. Darin muss das in finsterer Unwissenheit gehaltene Volk von den Aufgeklärten erleuchtet und autokratisch erzogen werden.
Also führt keine gerade Linie von Marx zu Lenin – aber eine von Lenin zu Stalin?
Ja, sicher. Stalin ist geradezu der Prototyp des Lenin’schen Berufsrevolutionärs, auch wenn der todkranke Lenin 1922 vor ihm warnt. Stalin verkörpert das Ethos dieses bedingungslos geführten Bürgerkriegs nach 1917, der mehr als zehn Millionen Tote forderte. Stalin ist auch der eigentliche Schöpfer der neuen politischen Klasse, der Nomenklatura, die die Partei um sich herum bildet.
Gehen wir von der Detailaufnahme zur Totalen: Was waren diese Regime? Eine gängige Lesart lautet: an der menschlichen Natur gescheiterte Versuche, das Marx ’sche Ideal zu verwirklichen.
Mit der Wirkungskraft irgendwelcher Ideale habe ich es nicht so. Der marxistische Ideenkanon hat in Russland und China sicherlich zur Bildung der kommunistischen Parteien beigetragen – aber doch in ganz eigenen Anverwandlungen. Stalin verkündete einen ein für alle Mal gültigen Marxismus-Leninismus, die KP Chinas schon vor der Machteroberung 1949 die Mao Tsetung-Ideen. Diese neu kreierten Ideologiesysteme waren vor allem Doktrinen, mit denen die Kommunisten diese sehr alten, gestürzten autokratischen Reiche zu neuen Imperien erhoben. Dabei waren sie von dem Zwangsgedanken getrieben, dass ihre Länder sonst durch die überlegenen, dynamischen kapitalistischen Weltmächte kolonisiert würden. Mit sozialer Emanzipation hatte das kaum noch etwas zu tun.
Ist Kommunismus heute in China noch mehr als Tünche?
Das heutige China ist ein hybrides System, für das uns noch die Kategorien fehlen. Es gibt vielerlei Freiheiten im Privaten, gleichzeitig eine fast neototalitäre mind-control, die tief verinnerlich ist. „Die Partei ist wie Gott“, sagte ein chinesischer Intellektueller dem US-Analysten Richard McGregor. „Sie ist überall, aber du siehst sie nicht.“ Sie steht über der Verfassung, über dem Recht, über allem.
Aber der Markt regiert die Wirtschaft.
Das ist höchstens die halbe Wahrheit. Partei und Staat besetzen noch immer alle Kommandohöhen der Wirtschaft und Gesellschaft. Und der erste Satz des Programms der KP Chinas lautet noch immer: Das Ziel ist die Errichtung des Kommunismus. Das ist nicht nur Rhetorik.
Inwiefern?
Die europäischen Begriffe Kommunismus und Sozialismus übersetzen sich in sehr alte, in der chinesischen Tradition tief verwurzelte Wunschvorstellungen – vom Volk als einer großen Familie, vereint und geschützt von einem „Sohn des Himmels“, der im Idealfall eine „Da Tong“, eine große Gemeinschaft errichtet. Diese Kombination hat den chinesischen Kommunismus als eine zugleich moderne und traditionelle Formation über alle Namens- und Regimewechsel von 1989 so erstaunlich widerstandsfähig und erfolgreich gemacht. Und, wer weiß, auch beunruhigend zukunftsträchtig.
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