15-Jähriger in Celle erstochen: Vorschnelles Vorgehen
In Celle wird ein 15-Jähriger mit jesidischen Wurzeln von einem Deutschen getötet. Nach kurzer Zeit geht die Polizei von einer unpolitischen Tat aus.
Am Dienstagabend wurde in der niedersächsischen Stadt Celle ein 15-jähriger Junge mit jesidischen Wurzeln von einem 29-jährigen Deutschen getötet. Der Junge war mit dem Fahrrad unterwegs, als ein Mann auf ihn einstach.
„Angriff aus dem Nichts“, titelte die Cellesche Zeitung tags darauf und verwies auf eine Polizeisprecherin. „Verdächtiger wirkt bei Festnahme verwirrt“, schrieb der NDR in einem Zwischentitel.Eine Presseagentur meldete, das Opfer sei „offenbar grundlos“ erstochen worden. Die Polizei Celle und die Staatsanwaltschaft Lüneburg hatten am Mittwochabend erklärt, dass dem Täter vorgeworfen werde, den Jungen „offenbar grundlos mit einem Messer niedergestochen zu haben“. Bisherige Ermittlungen lieferten „in keiner Hinsicht Anhaltspunkte für eine ausländerfeindliche oder politisch motivierte Tat“. Stattdessen sprachen sie bei ihrem derzeitigen Ermittlungsstand von einem „Zufallsopfer“.
Knapp 12 Stunden nach der Tat hatten die Behörden erklärt, dass der 15-Jährige mutmaßlich grundlos attackiert worden sei. Dass der Täter in Untersuchungshaft bisher schweigt, scheint den Glauben an einen tragischen Zufall zu stärken. Weil solche Gewaltverbrechen in diesem Land aber lange Tradition haben, verlassen sich nicht alle auf den Zufall.
Zeit Online veröffentlichte am Donnerstag eine Recherche, nach der „zumindest Zweifel“ an der Zufallsthese erlaubt seien: Drei Social-Media-Konten des Täters, deren Authentizität die Polizei bestätigt habe, belegten die Nähe des Täters zu rechtsextremen Verschwörungsideologien. Seiten, denen der Täter folge, verbreiteten Inhalte, auf die sich auch die Täter von Hanau und Halle bezogen hätten. Außerdem befänden sich unter den Onlinefreunden Neonazis. Deshalb fragt die Cellesche Zeitung am Freitag dann doch: „Tat politisch motiviert?“ Sie gibt an, dass Polizei und Staatsanwaltschaft der Bitte einer erneuten Stellungnahme noch nicht nachgekommen seien.
Wochen nach Hanau drängt sich einmal mehr die rhetorische Frage nach dem Ermittlervorgehen auf: Wäre es bei derartigen Gewaltverbrechen gegenüber Menschen, die von Rassisten als anders markiert werden, nicht richtiger, zunächst von politischen Motiven auszugehen, bis diese widerlegt sind, statt diese nach wenigen Stunden auszuschließen? Was andernfalls passiert, haben die NSU-Morde gezeigt.
„Es wird allen Hinweisen nachgegangen“, schreibt die Polizei Celle am Freitagvormittag auf Twitter. Tut sie das wirklich? Und wenn, hätte sie das auch getan ohne Recherchen von Dritten?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Berliner Sparliste
Erhöht doch die Einnahmen!
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid