100. Todestag von Henry James: Subtil und ungewöhnlich
Verborgene Details, selbstbewusste Frauenfiguren: Vor 100 Jahren starb Henry James, der große Erneuerer des Romans.
„Wer am Rande der Tanzfläche steht“, schrieb Fernando Pessoa, „tanzt mit allen.“ Pessoa könnte bei diesem Satz an Henry James gedacht haben: Er ist der genaue, sezierende, am Rand stehende Beobachter. In einem Brief aus dem Jahr 1879 formulierte James sein Ideal: „Man kann Figuren über Figuren erschaffen, ohne Verallgemeinerungen zu beabsichtigen – Verallgemeinerungen, vor denen ich einen Horror habe. […] – ich bin übersubtil und analytisch –, und mit Gottes Segen werde ich leben, um alle Arten von Darstellungen von allen Arten von Gegenständen zu machen.“
Das Übersubtile und Analytische zeigt sich vor allem an der Zeichnung seiner Heldinnen: Er schien seismografisch genau zu erfassen, dass sich unter der Oberfläche der viktorianischen Gesellschaft feine Risse bildeten und gerade der noch im engen Korsett von Moral und Etikette eingezwängten Frau in Zukunft eine entscheidende Rolle zukommen könnte. Seine selbstbewussten Frauenfiguren vor allem sind es, die uns heute beeindrucken – Isabelle Archer im „Porträt einer jungen Dame“ oder Kate Croy in „Die Flügel einer Taube“.
Er wollte ihr Wesen, dieses „merkwürdige Mosaik“, psychologisch genau ergründen. Die junge Catherine Sloper etwa, ein wenig blass um die Nase und vermeintlich auch blass im Gemüt, verliebt sich in „Washington Square“ aus dem Jahr 1881 in den gut aussehenden Morris Townsend. Catherine hat den gewinnenden Vorzug, wohlhabend zu sein. Ihr Vater glaubt, dass dies nicht der mindeste Grund ist, warum der unsolide Townsend seiner Tochter stürmisch den Hof macht.
Und er versucht mit allen Mitteln, die sich anbahnende Liaison zu verhindern. Die ökonomischen Grundlagen bestimmen jeden seiner Schritte in dieser am Materiellen orientierten Gesellschaft; sie sind die heimliche Triebfeder aller Handlungen, zumindest aber deren Voraussetzung.
Fancywork
Was dann geschieht, ist tatsächlich faszinierend: Weil James es vermeidet, über die wahren Beweggründe des heiratswilligen Morris aufzuklären, schauen wir mit wankelmütigen Emotionen dem bemitleidenswerten Schwanken von Catherine zu – beugt sie sich der väterlichen Autorität, oder vertraut sie ihren aufrichtigen Gefühlen für den jungen Liebhaber?
Die Auflösung dieses inneren Konflikts ist von solch stolzer Konsequenz, dass es einem fast das Herz zerreißt. Auf ein bezeichnendes Bild am Ende des Buches weist die Übersetzerin Bettina Blumenberg hin: „Fancywork heißt die feine Handarbeit, der Catherine sich zuwendet, und fancywork ist die Metapher, die Henry James in Briefen und Aufzeichnungen so häufig für seine Lebensarbeit verwendet, die Mühsal des Schreibens.“
Fancywork – das steht für ein fein ziseliertes, subtiles Erzählen, für das Vermögen, ungewöhnliche Perspektiven einzunehmen und verborgene Details herauszuarbeiten. Um allerdings wirklich einen unverhohlenen Blick auf das Wesen der Frauen werfen zu können, musste sich James auf gewisse Weise von ihnen fernhalten.
„Henry James behandelt seine Themen mit den Augen des Forschers, unbeeinträchtigt von den Gefühlswallungen eines Empathikers“, schreibt seine Biografin Verena Auffermann. Dass er sich im Sexuellen mehr für Männer interessierte als für Frauen, darf zudem angenommen werden; ob er seine Sehnsucht aber jemals auslebte, ist noch immer ein beliebtes Gossip-Sujet der James-Forschung.
Salons der Upperclass
Der Autor blieb jedenfalls zeitlebens allein. Und doch war er immer und überall Teil der Welt, über die er schrieb – ob er den Salons von Paris oder New York, London oder Venedig seine Aufwartung machte. Mit Autoren wie Gustave Flaubert, Iwan Turgenew oder Robert Louis Stevenson verbanden ihn Freundschaften. Bettina Blumenberg wundert sich zu Recht darüber, wie dieser Autor so ungemein produktiv sein und 20 Romane sowie unzählige Erzählungen hinterlassen konnte – Essays und Literaturkritiken noch gar nicht eingerechnet. „Umso erstaunlicher“, schreibt sie, „dass derselbe Mann an nahezu 300 Tagen im Jahr Abendeinladungen gefolgt ist.“
Für Henry James waren die Einladungen in die Salons der Upperclass Arbeitsessen und die Protagonisten der großbürgerlichen Welt Objekte seiner literarischen Feldforschungen. Seine Notizbücher zeugen davon, wie ihm bei solchen Anlässen Ideen und Dialoge zuflogen, die sich im Lauf eines kreativen Prozesses in Fiktion verwandelten. James, der Balzac bewunderte, blieb der außenstehende Gesellschaftsreporter, der er zu Anfang seiner Karriere in Paris tatsächlich war.
Auch in anderer Hinsicht hielt sich James am Rande des Tanzparketts auf: Er pendelte zwischen der Alten und der Neuen Welt hin und her. Lange konnte er sich nicht entscheiden, wo er zu Hause sei. Das ruhelose Bummeln zwischen zwei Kontinenten war ihm mehr oder minder in die Wiege gelegt: Die Familie wechselte die Wohnorte wie andere Leute ihre Hemden; Reisen durch Europa gehörten ebenso zum guten Stil wie die permanente Verschickung der Kinder in verschiedenste Bildungsinstitute im In- und Ausland.
Wild wuchernde Lektürelust
Europa sei zudem das Familienrezept gegen Eigensinn oder unverständliche Krankheiten gewesen, merkt Hazel Hutchison in ihrer Biografie an. Henry James senior war ein ehrbarer Mann irischer Abstammung, ein Theologe, dem es vor allem der Mystiker Swedenborg angetan hatte und der mit der versammelten intellektuellen Elite Neuenglands auf freundschaftlicher Ebene verkehrte. James’ älterer Bruder William sollte ein angesehener Philosoph und Psychologe werden – und bis zuletzt am Werk des Jüngeren herumkritteln.
Dieses literarische Werk entsprang wie bei den meisten Schriftstellern einer wild wuchernden Lektürelust: James, am 15. April 1843 in New York geboren, verschlang in jungen Jahren alles, was ihm in die Hände fiel, und es dauerte nicht lange, bis er sich selbst im Schreiben versuchte. Seine erste Erzählung erschien inmitten des Amerikanischen Bürgerkriegs – aufgrund einer Rückenverletzung (die bis heute unter Jamesianern für Spekulationen sorgt) musste er nicht wie zwei seiner Brüder auf die Schlachtfelder ziehen.
Biografien:
Verena Auffermann: „Henry James“. Deutscher Kunstverlag, Berlin 2015, 80 Seiten, 22 Euro
Hazel Hutchison: „Henry James“. Biografie. Übersetzt und mit einem Anhang versehen von Ute Astrid Rall. Parthas Verlag, Berlin 2015, 224 Seiten, 24,80 Euro
Neuübersetzungen:
„Die Europäer“. Roman. Aus dem Englischen von Andrea Ott. Nachwort von Gustav Seibt. Manesse Verlag, Zürich 2015, 248 Seiten, 24,95 Euro
„Die Gesandten“. Roman. Übersetzt von Michael Walter. Herausgegeben von Daniel Göske. Carl Hanser Verlag, München 2015, 700 Seiten, 39,90 Euro
„Die mittleren Jahre“. Erzählung. Aus dem Englischen übertragen und mit einem Nachwort von Walter Kappacher. Jung und Jung, Salzburg und Wien 2015, 68 Seiten, 12 Euro
„Eine Dame von Welt. Eine Salonerzählung“. Herausgegeben und aus dem Englischen übersetzt von Alexander Pechmann. Aufbau Verlag, Berlin 2016, 176 Seiten, 16,95 Euro
„Im Käfig und andere Erzählungen“. Aus dem Englischen von Gottfried Röckelein, Elke Link, Sabine Roth und Ingrid Rein. Ars vivendi, Cadolzburg 2015, 406 Seiten
„Porträt einer jungen Dame“. Roman. Aus dem Englischen von Gottfried Röckelein. Ars vivendi. Cadolzburg. Überarbeitete Neuausgabe 2015, 668 Seiten, 24,90 Euro
„Was Maisie wusste“. Roman. Aus dem Englischen von Gottfried Röckelein. Nachwort von Angela Schader. ars vivendi, Cadolzburg 2016, 344 Seiten, 22,90 Euro
„Washington Square“. Roman. Aus dem Englischen übersetzt und mit einem Nachwort von Bettina Blumenberg. Manesse Verlag, Zürich 2014, 278 Seiten, 24,95 Euro (btb, 10,99 Euro)
Bei dtv sind als Neuausgabe erschienen: „Das Durchdrehen der Schraube“, „Die Aspern-Schriften“, „Daisy Miller“, „Porträt einer jungen Dame“, „Washington Square“.
Nachdem er sein Jurastudium abgebrochen hatte, verdingte er sich als Korrespondent und Reiseschriftsteller. Er ahnte rasch, dass die Literatur als Beruf Geschäftstüchtigkeit verlangt, Verhandlungen mit Zeitschriften und Verlegern, Rücksichtnahme auf die Vorlieben eines vornehmlich weiblichen Publikums notwendig macht.
Henry James hatte nur wenige Verkaufserfolge – die Erzählung „Daisy Miller“ und die Geistergeschichte „Die Drehung der Schraube“ gehörten dazu. Als Theaterautor hätte er gerne reüssiert, schon allein um seine Einkünfte aufzubessern; allerdings scheiterte er gleich mehrfach. Die Ansprüche an sein eigenes Schreiben wurden mit der Zeit immer höher, und als in seiner Spätphase die Bücher stilistisch komplexer wurden, arbeitete er zum Ärger seines Publikums das Frühwerk nach den ästhetischen Maßstäben des reifen Autors für eine Werkausgabe fundamental um.
Am Ende seines Lebens war Henry James zum Briten geworden und lebte zurückgezogen in seinem Landhaus in Sussex. Das „internationale Thema“ aber zieht sich durch viele seiner Romane. In „Die Europäer“ etwa fallen der Bonvivant Felix und seine Schwester Baronin Eugenia Münster bei ihren amerikanischen Verwandten ein, die in den 1840er Jahren in der Nähe von Boston ein redliches, gottesfürchtiges Leben führen.
Es kommt, wie es in einer Komödie kommen muss: Die beiden Europäer wirbeln alles durcheinander, es wird so fleißig kreuz und quer geheiratet wie in einer Opera buffa. Hinter den beschwingten Dialogen dieses Kammerspiels verbirgt sich freilich eine aufschlussreiche Pointe: Die verruchten Europäer bringen den scheuen Puritanern etwas bei, das sie verlernt zu haben scheinen – eine Form der Lebenskunst. Die Befremdung weicht zusehends einer Neugierde, die Neugierde einer ungekannten Offenheit.
Bildungsromane (Goethe war ihm ein Hausgott) paarte der ironische Melancholiker James mit dem „Marriage Plot“ des viktorianischen Romans und der Gesellschaftssatire. Je tiefer man eindringt in seine Geschichten, desto mehr Schichten tun sich darin auf. Henry James, dieser Erneuerer des Romans, der in dem imposanten Spätwerk „Die Gesandten“ das Mittel des Bewusstseinsstroms noch vor James Joyce oder Virginia Woolf nutzte, ist ein Gigant. Nun, zu seinem 100. Todestag, aus dessen Anlass etliche Neuübersetzungen vorliegen, darf man Rolf Vollmann aus vollem Herzen zustimmen: „Nichts von ihm wird man ab jetzt versäumen mögen: eine Idee, die sehr hemmend sein kann für das Leben, das man neben dem Lesen doch auch noch haben könnte.“
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