100 Tage Schwarz-Rot in Berlin: Die Stadtrand-Koalition
Am Samstag wird Kai Wegner mit seiner Koalition hundert Tage im Amt sein. Freundlich im Ton hat das Bündnis die Politik der Stadt nach rechts gerückt.
Eine 100-Tage-Bilanz des schwarz-roten Senats muss also ohne das Gesicht auskommen, das die Stadt länger geprägt zu haben scheint als die 16 Monate, die Giffey tatsächlich Regierende Bürgermeisterin war. Zuletzt waren nur 18 Prozent der Berlinerinnen und Berliner zufrieden mit ihr als Regierungschefin. Die große Mehrheit, 71 Prozent, drückte dagegen ihre Unzufriedenheit aus.
So gesehen müsste der Start von Kai Wegner als geglückt gelten, auch wenn bei ihm die Zahl der Unzufriedenen ebenso größer ist als die der Zufriedenen. 42 zu 32 Prozent lautet seine Quote, für Berliner Verhältnisse ist sie aber gar nicht so schlecht.
Wegner selbst sagt über seine ersten hundert Tage, dass er vor allem „hart gearbeitet“ habe. Bemerkenswert in seinem Bilanzinterview, das er der Berliner Morgenpost gegeben hat, ist sein freundlicher, zurückhaltender Ton. Nichts an ihm ist schrill, das unterscheidet ihn von seiner Vorgängerin. Offenbar hat er damit Erfolg.
Politische Debatte scheint ohne Wegner auszukommen
Zum Problem könnte dabei werden, dass die politische Debatte mitunter auch ohne Kai Wegner auszukommen scheint. Einer der Aufreger der ersten 100 Tage – der Stopp der Radwegeplanungen – wurde zwischen Verkehrssenatorin Manja Schreiner (CDU) auf der einen und der Opposition sowie der Verkehrsverbände auf der anderen Seite ausgetragen. Am Ende musste Schreiner zurückrudern.
Wegner sagt dazu: „Das Vorgehen von Manja Schreiner war richtig und absolut normal.“ Wenn eine neue Verkehrssenatorin ins Amt komme, müsse sie erst analysieren, was die Vorgängersenatorin gemacht hat. So spricht einer, der Schlachten vermeidet, um keinen Schaden zu nehmen. Aber eben im Zweifel auch nicht den Glanz davontragen kann, wenn die Schlacht erfolgreich war.
Wegners Schlachten schlagen meistens andere. Neben Schreiner ist das Finanzsenator Stefan Evers (CDU). Auch der musste zurückrudern. Nach einer aufgeregten Diskussion um einen drohenden sozialen Kahlschlag, die vor allem auch von der SPD in den Bezirken befeuert wurde, war im Berliner Portemonnaie plötzlich nicht weniger, sondern mehr Geld. Es allen recht machen und dabei auf die Reserven zurückgreifen geht allerdings nur einmal. Der nächste Doppelhaushalt wird ein Haushalt der Wahrheit sein.
Dass Kai Wegner dennoch nicht das Etikett „blass“ anhängt wie Eberhard Diepgen – dem letzten CDU-Regierenden vor ihm –, hat mit der Innenpolitik zu tun. „Wir werden nicht dulden, dass die Freibäder zu rechtsfreien Räumen werden“, sagte Wegner nach den Vorfällen im Neuköllner Columbiabad.
Deutliche Postionierung gegenüber Merz und AfD überraschend
„Ich habe das Gefühl, dass das, was unsere Gesellschaft ausmacht und zusammenhält, gerade unter die Räder kommt“, kommentierte das dieser Tage die ehemalige SPD-Staatssekretärin Sawsan Chebli. „Während rechtsextreme Gewalt verharmlost wird, flippen viele in der Politik und in der Öffentlichkeit bei Migrant:innen, die Fehler machen, ja auch Recht brechen, regelmäßig aus.“ Ihr mache Angst, „wie der politische Diskurs scheinbar unaufhaltsam nach rechts außen driftet“.
Natürlich ist der Biedermann Wegner nicht zum Brandstifter geworden, obwohl er in seiner Zeit bei der Jungen Union alle Voraussetzungen dafür mitgebracht hat. Liberal ist er vor allem da, wo es nichts kostet und Wählerstimmen bringt, etwa beim Christopher Street Day oder seiner überraschend deutlichen Positionierung gegenüber der AfD und Friedrich Merz.
In innenpolitischen oder migrationspolitischen Themen bedient er dagegen gerne Law-and-Order-Positionen. Damit hat er sogar Innensenatorin Iris Spranger (SPD) die Show gestohlen. Freundlich im Ton haben Kai Wegner und die Große Koalition die politischen Koordinaten der Stadt nach rechts gerückt.
Schwarz-Rot ist damit die erwartete Stadtrand-Koalition geworden, die aus ihrem Fremdeln mit der grün geprägten Innenstadt keinen Hehl macht. Der Spandauer Kai Wegner und Franziska Giffey, die ihren Wahlkreis in Rudow hat, schenken sich diesbezüglich nichts.
Schwarz-Rot nur eine Koalition auf Zeit
Und der Rest der SPD? Die Debatten um einen drohenden Kahlschlag im Sozialbereich kann die Berliner CDU durchaus als Warnung sehen. Auch Schwarz-Rot ist, wenngleich von Giffey maßgeblich betrieben, nur eine Koalition auf Zeit. Bereits im Herbst 2026 wird wieder gewählt. Natürlich möchte die SPD dann wieder ins Rathaus ziehen. Früher als in anderen Legislaturperioden wird deshalb der Vorwahlkampf beginnen.
Dass die SPD wieder mit Franziska Giffey ins Rennen geht, ist unwahrscheinlich. Auch wenn sie sich mit ihrem Abtauchen aus dem Schussfeld genommen hat, haben ihr viele Genossen nicht verziehen, auf die CDU und nicht auf Rot-Grün-Rot gesetzt zu haben. Weil nur ein führendes SPD-Mitglied künftig im Landesvorstand sein darf, wird Giffey im kommenden Jahr den Co-Parteivorsitz abgeben müssen. Dann ist sie nur noch Wirtschaftssenatorin. Das automatische Zugriffsrecht auf die Spitzenkandidatur hat sie nicht mehr.
Bei der Bilanz von 100 Tagen Schwarz-Rot tritt damit auch Cansel Kiziltepe in den Blick. Noch fremdelt die ehemalige Staatssekretärin im Bundesbauministerium mit ihrem Berliner Job als Sozialsenatorin. Allerdings setzt sie mit ihrer Forderung nach einer Debatte um die Schuldenbremse nicht nur politische Akzente, sondern streichelt auch die linke SPD-Parteiseele. Keine schlechten Voraussetzungen dafür, selbst nach der Kandidatur für die kommenden Abgeordnetenhauswahlen zu greifen.
Das zentrale Versprechen steht noch aus
Eine neue Rolle sucht inzwischen auch SPD-Fraktionschef Raed Saleh. Schon einmal, während der Koalition mit der CDU in den Jahren 2011 bis 2016, schaffte er es, die eigene Fraktion als Player im politischen Feld zu etablieren. Immer wieder handelten er und sein damaliger CDU-Kollege Florian Graf Kompromisspakete aus, die der Senat schließlich akzeptieren musste.
Auch in den vergangenen Tagen hatte sich Saleh zu Wort gemeldet und gefordert, die Sozialbindungen für die Wohnungsbauförderung von derzeit 30 Jahren zu entfristen. Die politische Lücke, die Giffey inzwischen hinterlässt, nützt also nicht nur Cansel Kiziltepe, sondern auch Giffeys ehemaligem Mehrheitsbeschaffer Raed Saleh.
Hat das „harte Arbeiten“ von Kai Wegner die Stadt in diesen 100 Tagen vorangebracht? Die Einigung auf den Doppelhaushalt und das fünf Milliarden schwere Sondervermögen zum Klimaschutz stehen auf der Habenseite von Schwarz-Rot, auch wenn Letzteres noch inhaltlich unterfüttert werden muss. Das zentrale Versprechen der Koalition aber, dass Berlin endlich anfangen müsse zu funktionieren, steht aus. Den nächsten Termin beim Bürgeramt zur Verlängerung eines Personalausweises gab es am Donnerstag für den 22. September.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Bundestagswahlkampf der Berliner Grünen
Vorwürfe gegen Parlamentarier
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt