100 Jahre türkische Republik: Gaza-Solidarität als Innenpolitik
Vor dem hundertjährigen Jubiläum der Türkischen Republik ruft Erdoğan einen Palästina-Tag aus. Es ist ein weiterer Schritt weg vom säkularen Staat.
A m Sonntag, dem 29. Oktober 2023, wird die Türkische Republik hundert Jahre alt. Das Ereignis hätte ein großes Fest werden sollen, doch die Stimmung ist gedämpft. Das hängt einmal damit zusammen, dass der Krieg im Gaza-Streifen derzeit in der Türkei alles überschattet.
Der zweite Grund ist ein interner. Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seine AKP haben ein sehr ambivalentes Verhältnis zur Republik. Einerseits wollen sie den Nationalstolz befeuern, anderseits herrscht offiziell unter Erdoğan eine Mischung aus Islamismus und Nationalismus, die mit dem säkularen Nationalismus der Republikgründer um Mustafa Kemal Atatürk nicht kompatibel ist.
Erdoğan will den Säkularismus Atatürks abschaffen und am liebsten den Islam wieder als Staatsreligion in der Verfassung verankern. Da die Mehrheit der TürkInnen aber am Republikfeiertag vor allem der Republik Atatürks gedenkt, stehen Erdoğan und seine Anhänger den Feierlichkeiten eher abweisend gegenüber.
Doch Erdoğan zeigt in diesen Tagen wieder einmal, warum er sich seit mehr als 20 Jahren an der Macht gehalten hat und dabei ist, dem Land seinen Stempel aufzudrücken, wie es vor ihm eben nur Mustafa Kemal Atatürk gelungen war.
Großer Palästina-Tag
Er lässt am heutigen Samstag einen großen Palästina-Tag veranstalten, den die islamistische Hüdar Par Partei, die über Erdoğans AKP-Liste ins Parlament gekommen ist, auf dem früheren Flughafen Istanbuls mit Erdoğan als Hauptredner ausrichtet. Da der ganz überwiegende Teil der türkischen Bevölkerung die massiven Vergeltungsschläge Israels im Gazastreifen verurteilt, richtet er mit dem Palästina-Tag ein Massenevent aus, das geeignet ist, die eigentlichen Feiern zum hundertjährigen Bestehen völlig in den Schatten zu stellen. Statt Gedenken an Atatürk also Solidarität mit den Palästinensern.
Ideologisch führt das dazu, dass die Türkei sich, statt zu einem säkularen demokratischen Staat zu werden, wie es Atatürk vorschwebte, immer weiter vom Westen wegbewegt. Wie einseitig die Erdoğan-Regierung mittlerweile die Islamisten im Gazastreifen unterstützt, musste zuletzt auch Wirtschaftsminister Habeck feststellen, der am Donnerstag und Freitag die Türkei besuchte. „Beim Thema Nahostkrieg waren wir völlig gegensätzlicher Meinung“, sagte er nach einem Gespräch mit dem neuen Vizepräsidenten Cevdet Yılmaz.
So nutzt Erdoğan den Krieg in Gaza geschickt, um sein innenpolitisches Projekt voranzutreiben. Wären da nicht die Massen, die am Sonntag auf allen Plätzen des Landes Atatürk feiern werden. Sie widersetzen sich hartnäckig der Islamisierung der Türkei, auch nach 20 Jahren Erdoğan. Zum hundertsten Jahrestag der Republik ist die Türkei ein gespaltenes Land.
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