100 Jahre rassistische Morde in Tulsa: „Das Schweigen füllen“
Joe Biden hat als erster US-Präsident den Tatort besucht, wo 1921 ein weißer Mob 300 Schwarze Menschen tötete. Aufklärung gibt es bis heute nicht.
Er traf die drei letzten bekannten Überlebenden, die heute 101, 106 und 107 Jahre alt sind und hielt eine nachdenkliche Rede, in der er sagte: „Nur mit der Wahrheit kann die Heilung kommen“, sowie: „Ich bin hier, um zu helfen, das Schweigen zu füllen“. Biden zog eine Linie von Tulsa zu dem Sturm auf das Kapitol am 6. Januar und zu den heutigen Versuchen, das Wahlrecht einzuschränken. Auch legte er eine Gedenkminute für die Opfer des Massakers ein. Über die Reparationszahlungen, die Angehörige seit Langem verlangen, will der US-Präsident nachdenken. Zusagen machte er nicht.
Rund 300 Menschen fielen dem weißen Terror am 31. Mai und 1. Juni 1921 zum Opfer. Tausende flohen aus der Stadt. Es war einer der folgenreichsten rassistischen Angriffe gegen Afroamerikaner in den USA. Unter den Toten waren Männer, Frauen, Kinder. Sie hatten im Bezirk Greenwood auf der nördlichen Seite der Eisenbahnlinie der strikt segregierten Stadt gelebt.
Die meisten von ihnen wurden in Massengräbern verscharrt und sind bis heute weder identifiziert noch beigesetzt worden. 1.200 Häuser wurden zerstört. Die weißen Täter kamen mit brennenden Fackeln und Gewehren. Am Morgen des 1. Juni wurden sie auch aus der Luft unterstützt. Flugzeuge warfen Brandsätze über Greenwood ab, wo Menschen in den Kellerräumen von Kirchen und Wohnhäusern Schutz gesucht hatten.
Kein Prozess, späte Entschuldigungen
Für den millionenfachen Sachschaden in Greenwood sind nie Entschädigungen gezahlt worden. Die Versicherungen lehnten es ab, die örtlichen Würdenträger unternahmen nichts dagegen. Die von Weißen dominierten Medien vermieden es jahrzehntelang, über das Massaker zu berichten. Als einige wenige Überlebende versuchten, ihre Häuser wieder aufzubauen, weigerten sich weiße Geschäftsleute im Ort, ihnen Baumaterial zu verkaufen.
Es war das schwerste Verbrechen in der Geschichte der Stadt mit heute 400.000 Einwohnern. Aber kein Staatsanwalt hat sich damit befasst. Keiner der Täter ist je vor Gericht gekommen.
Die ersten halbherzigen Entschuldigungen von örtlichen Würdenträgern kamen erst in den späten 1990er Jahren. Es dauerte bis 2013, bis sich ein Polizeichef von Tulsa dafür entschuldigte, die Menschen nicht geschützt zu haben.
Die Gewalt in Tulsa war kein Einzelfall. Auch an zahlreichen anderen Orten der USA wütete der weiße Pöbel. Zwischen dem Ende des Bürgerkriegs im Jahr 1865 und 1940 zählen die Historiker Dutzende von rassistischen Massakern in den USA.
Geschichte der Gewalt
1921 liegt die Befreiung der Schwarzen US-Bürger nach dem Ende des Bürgerkriegs längst in ferner Vergangenheit. Die Bürgerrechte von Schwarzen US-Amerikanern sind quer durch das Land zurückgedrängt worden. Stattdessen breiten sich Lynchmorde und Jim-Crow-Gesetze aus, die die „Rassentrennung“ regeln. Vielerorts entstehen „patriotische“ Vereinigungen, die das Erbe der Konföderierten ehren und Denkmäler für jene aufstellen, die im Bürgerkrieg für die Beibehaltung der Sklaverei gekämpft haben.
1915 gründet sich auch der rassistische Geheimbund „Ku-Klux-Klan“ erneut. Als heimkehrende Schwarze Soldaten am Ende des Ersten Weltkriegs zu Hause gleiche Rechte einfordern, reagieren weiße Rassisten wütend.
„Wir haben alles verloren. Unsere Häuser, Kirchen, Zeitungen und Theater“, hat Viola Fletcher im Mai dieses Jahres vor dem Unterausschuss für Bürgerrechte des US-Repräsentantenhauses über das Massaker gesagt. „Mein Land mag das vergessen. Aber ich kann es nicht. Meine Nachfahren können es auch nicht“. Im Alter von 107 hört der US-Kongress sie zum ersten Mal über das traumatische Erlebnis an, das ihr Leben verändert hat.
Vor den Abgeordneten sagt die Frau, dass sie immer noch die Bilder von den Schüssen auf Schwarze Männer, von den Leichen auf der Straße sieht. Fletchers Familie hat ihr Einkommen verloren. Das Mädchen musste nach vier Jahren die Schule verlassen und sich als Hausangestellte durchschlagen. Noch heute lebt Fletcher in Armut. Die Gruppenklage von 125 Überlebenden, die Reparationen verlangen, der sie sich 2003 angeschlossen hat, ist gescheitert. Die Gerichte – bis hin zum Obersten Gericht – haben es abgelehnt, sich damit zu befassen. Am Dienstag war Fletcher eine der drei Überlebenden, die mit dem US-Präsidenten in Tulsa gesprochen haben.
Black Lives Matter fordert Aufklärung
Direkt nach dem Massaker haben Überlebende Augenzeugenberichte veröffentlicht. Aber in Tulsa sorgten örtliche Behörden und Medien dafür, das Verbrechen zu vertuschen. Reporter von außerhalb durften nicht in die Stadt. Die späte Aufklärung hat erst in den 1990er Jahren begonnen.
Nachdem im vergangenen Jahr ein Polizist in Minnesota den unbewaffneten Schwarzen George Floyd ermordet hat, verstärken die Proteste die Forderung nach Aufklärung. Zum 100. Jahrestag soll das Massaker auch im Geschichtsunterricht an den Schulen Oklahomas behandelt werden. Allerdings dürfen die Lehrer dabei nicht auf die Rolle von Rassismus in der US-Geschichte eingehen. Anfang Mai hat der republikanische Gouverneur Kevin Stitt ein Gesetz unterschrieben, das die „Critical Race Theorie“ aus den Schulen Oklahomas verbannt.
In diesem Sommer eröffnet die Stadt Tulsa das Museum „Greenwood Rising“, das sich mit dem Massaker befasst. Bei Schwarzen Aktivisten ist das 30-Millionen-Dollar-Projekt umstritten. Anwalt Amario Solomon-Simmons, der Kläger vertritt, die Reparationen verlangen, nennt es eine „Schönfärberei“, die vor allem weißen Geschäftsleuten zugutekommen werde.
US-Präsident Biden spricht in Tulsa erneut von dem institutionellen Rassismus und sagt, dass er unter anderem mit Förderungen für Schwarze Hauseigentümer gegen die anhaltende Segregation vorgehen will. Als er seine Rede in Tulsa beendet, stimmten einige Anwesende den in der Bürgerbewegung beliebten Song „Ain't gonna let nobody turn me around“ an.
In den USA hat sich der ökonomische Graben zwischen weißen und Schwarzen Familien in der Pandemie noch vertieft. Heute stellen Afroamerikaner zwölf Prozent der Bevölkerung, aber verfügen nur über zwei Prozent des Wohlstands. Am Abend von Bidens Auftritt in Tulsa sagt der Schwarze Ökonom William Darity von der Duke Universität in einem Interview mit dem TV-Sender PBS, dass die Förderung von Hauseigentum ein richtiger Schritt ist. Aber dass sehr viel mehr nötig ist, um das Unrecht von Jahrhunderten auszugleichen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland