100 Jahre deutsch-türkische Beziehungen: Die gemeinsame Geschichte würdigen
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist für drei Tage zu Besuch in der Türkei. Dort wird er nicht nur mit offenen Armen empfangen.
In seiner Auftaktrede erinnert Steinmeier an diese Geschichte, würdigt die damaligen ArbeitsmigrantInnen und deren mittlerweile knapp drei Millionen Nachkommen in Deutschland als wichtigen Teil „unseres Landes“. Zu Steinmeiers Delegation gehören neben Finanzminister Christian Lindner (FDP) und anderen BundespolitikerInnen deshalb auch etliche VertreterInnen von Deutschen mit türkischem Migrationshintergrund, die längst, wie Steinmeier sagte, zum „Herzbestand“ Deutschlands gehören.
Offizieller Anlass für den Besuch des Bundespräsidenten ist das 100-jährige Jubiläum der deutsch-türkischen Beziehungen. Vor 100 Jahren wurde die Verbindung zur Türkischen Republik neu geknüpft, nachdem in der Folge des Ersten Weltkrieges, in dem Deutschland und das Osmanische Reich Verbündete waren, beide Kaiserreiche untergegangen waren.
Steinmeier erinnerte in seiner Rede daran, dass es schon vor dem Ersten Weltkrieg eine rege Einwanderung deutschsprachiger Menschen in das Osmanische Reich gegeben hatte und „in den dunklen Jahren“ während der Nazi-Diktatur viele Deutsche Zuflucht am Bosporus fanden. Auch heute, so Steinmeier, leben rund 50.000 Deutsche in der Türkei, eine der größten Auslandsgemeinden außerhalb der EU überhaupt. Die Einwanderung von TürkInnen nach Deutschland sei also keine Einbahnstraße.
Eine Türkei jenseits von Erdoğan
Doch der Besuch des Bundespräsidenten hat nicht nur einen geschichtlichen Hintergrund. Neben der Würdigung der langen Zusammenarbeit der beiden Ländern ist auch ein Besuch im Erdbebengebiet im Südosten des Landes geplant. Dort will er am Dienstag Opfer und Helfer des Erdbebens vom Februar 2023 treffen. Aber sein Besuch hat noch eine weitere Ebene: Steinmeier sondiert die Lage in der Türkei nach der Wahlniederlage von Präsident Recep Tayyip Erdoğans bei den Kommunalwahlen am 31. März dieses Jahres. Er ist der erste hochrangige deutsche Politiker, der nun das Land besucht.
Seither ist in dem scheinbar so fest gefügten autoritären Staat Erdoğans wieder etwas Bewegung gekommen. Steinmeier trägt dem Rechnung, indem er demonstrativ zum Auftakt seines Besuchs dem Sieger dieser Kommunalwahlen, Ekrem İmamoğlu, Oberbürgermeister Istanbuls und Angehöriger der oppositionellen CHP, seine Aufwartung macht. Darum hat er seinen Besuch nicht wie sonst üblich in der Hauptstadt Ankara mit einem Treffen mit Erdoğan begonnen, sondern startet in Istanbul mit einem Treffen mit dem wichtigsten Vertreter der Opposition, Ekrem İmamoğlu.
Der Rundgang im Bahnhof Sirkeci zeigte sie bei einem vertrauten Gespräch, das später hinter verschlossenen Türen fortgesetzt wurde. Schon nach seiner ersten Wahl 2019 waren viele europäische Politiker neugierig auf İmamoğlu, doch erst jetzt, nach seiner Wiederwahl und dem landesweiten Erfolg der oppositionellen CHP, scheint sich in der deutschen Politik der Eindruck festzusetzen, dass es auch noch eine Türkei jenseits von Erdoğan gibt und dieser Türkei womöglich die Zukunft gehört.
Entgegengesetzte Auffassungen zum Krieg in Gaza
Das zeigt sich auch daran, dass Steinmeier, wenn er am Mittwoch in Ankara ist, dort nicht nur Präsident Erdoğan treffen wird, sondern auch den neu gewählten Vorsitzenden der CHP, Özgür Özel und den ebenfalls zur CHP gehörenden Ankaraner Oberbürgermeister Mansur Yavas.
Beim Gespräch mit Erdoğan dürfte es doch noch um die diametral entgegengesetzten Auffassungen zum Krieg in Gaza und das Verhältnis zu Israel und der Hamas gehen. Erdoğan hat sich ja gerade erst am Wochenende demonstrativ mit der Hamas-Spitze in Istanbul getroffen und wird wohl in den nächsten Wochen als Interessenvertreter der Hamas noch weiter in den Vordergrund rücken. In Europa und den USA macht er sich damit keine Freunde.
Ein fest geplantes Treffen mit US-Präsident Joe Biden für den 4. Mai scheint wieder infrage zu stehen. Schon während des feierlichen Rundgangs in Sirkeci bekam Steinmeier einen Eindruck davon, wie die Stimmung in der Türkei gegenüber der deutschen Unterstützung für Israel ist. Lautstark schrie eine Gruppe Demonstranten Steinmeier ihre Wut über die deutsche Unterstützung für die „israelischen Mörder“ zu. Die Demonstranten wurden von der Polizei verdrängt, wahrgenommen haben wird Steinmeier den Protest wohl dennoch.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland