10 Jahre Maidan-Proteste: Ganz in der Gegenwart
Vor 10 Jahren begannen in der Ukraine die Maidan-Proteste. Ihr Vermächtnis sind Menschen, die sich selbst als Subjekte der Geschichte verstehen.
D ie Gegenwart ist nicht fassbar weil sie nicht von Dauer ist. Jean-Paul Sartre verstand die Gegenwart als eine Grenze zwischen dem Bereich der Faktizität – dem, was bereits geschehen ist und deshalb einfach ist – und dem Bereich der Transzendenz, einer Öffnung, die über das hinausgeht, was bisher gewesen ist. Die Revolution beleuchtet diese Grenze. Sie ist ein Moment der Entscheidung.
Im Jahr 2004 beging das Team des ukrainischen Präsidentschaftskandidaten Wiktor Janukowitsch, ein mit dem Kreml verbündeter Oligarch, Wahlbetrug – und Janukowitschs Gegner, Wiktor Juschtschenko, wurde während des Wahlkampfs mit Dioxin vergiftet. Massenproteste auf dem zentralen Platz in Kyjiw, dem Maidan, erzwangen eine Wiederholung der Wahl. Diesmal gewann Juschtschenko deutlich. In Kyjiw herrschte eine ekstatische Stimmung. Es schien, als könne Janukowitsch nie wieder zurückkommen.
ist Professorin für Osteuropageschichte an der Yale University, New Haven, USA. 2018 erschien ihr Buch über die Maidan-Revolution: „The Ukrainian Night. An Intimate History of Revolution“.
Doch Juschtschenko erwies sich als Präsident als eine große Enttäuschung. Und Janukowitsch wählte aus den Angeboten der amerikanischen PR-Industrie eines für Gangstertypen mit Präsidentschaftsambitionen aus. Unter Anleitung seines Washingtoner PR-Beraters trat er 2010 erneut an und gewann die Präsidentschaftswahlen, diesmal rechtmäßig.
Anschließend überreichte Janukowitsch seinem Washingtoner Berater Paul Manafort als Dankeschön ein Glas Kaviar im Wert von über 30.000 Dollar.
In letzter Minute abgesagt
Der Trostpreis, den Janukowitsch der ihm verhassten liberalen Intelligenz in Aussicht stellte, war die Aussicht, wenn auch weit entfernt, auf die europäische Integration. Vor allem für die junge Generation war „Europa“ das Objekt ihrer Sehnsucht. Im November 2013 sollte die Ukraine dann ein lang erwartetes Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union unterzeichnen. In letzter Minute, am 21. November 2013, weigerte sich Janukowitsch.
Besonders geschockt von dieser Entscheidung waren Studierende, die das Gefühl hatten, ihre Zukunft sei vorbei. Europa würde ihnen verschlossen bleiben. Am selben Abend noch schrieb ein 32-jähriger ukrainischer Journalist namens Mustafa Nayyem, der aus Kabul stammte, auf Russisch auf seiner Facebook-Seite: „Kommt schon, lasst uns ernst machen. Wer ist bereit, heute um Mitternacht auf den Maidan zu gehen? ‚Likes‘ zählen nicht.“
In dieser Nacht kamen überwiegend Studierende auf dem Maidan zusammen und blieben dort. Sie hielten sich an den Händen und riefen: „Die Ukraine ist Europa!“
Am 30. November 2013 schickte Janukowitsch um 4 Uhr morgens seine Bereitschaftspolizei auf den Maidan, um die Studierende zusammenzuschlagen. Die Gewalt gegen friedliche Demonstranten war ein Schock. Janukowitsch rechnete offenbar damit, dass der Schock die Eltern dazu bringen würde, ihre Kinder von der Straße zu holen. In diesem Moment geschah aber etwas Frappierendes: Anstatt ihre Kinder von der Straße zu holen, schlossen sich die Eltern ihnen an. Jetzt waren fast eine Million Menschen auf den Straßen von Kyjiw, und sie riefen: „Wir werden nicht zulassen, dass ihr unsere Kinder schlagt!“
Eines dieser geschlagenen Kinder war der 16-jährige Roman Ratushnyy.
„Deine Mutter muss sehr besorgt gewesen sein“, sagte ich zu ihm später in einem Gespräch. „Aber sie hat dich zurückgehen lassen?“
„Meine Mutter hat in der Hrushevskogo-Straße Molotow-Cocktails gemacht“, antwortete er.
Eine Polis
Der Maidan wurde nicht nur zu einem Ort des Protests, sondern auch zu einer Polis. Musiker traten auf, Künstler malten, Ärzte behandelten die Verletzten. Es gab eine Bibliothek, eine offene Universität, ein gemeinsames Klavier. Die Menschen errichteten Zelte, machten Lagerfeuer und kochten Suppe in eisernen Kesseln. Freiwillige räumten Schnee und Eis. Eine LGBT-Organisation verwandelte ihre vertrauliche Hotline für LGBT-Personen in eine Notfall-Hotline für den Maidan.
Grenzen, die normalerweise zwischen Menschen bestehen, lösten sich auf. Es wurde sehr einfach, mit Fremden zu sprechen. „Es gab sehr unterschiedliche Menschen“, erzählte mir ein Student namens Misha, „Ukrainer, Russen, Juden, Polen, Tataren, Armenier, Georgier“. Man hatte das Gefühl, dass nicht nur ethnische, sondern auch sozioökonomische Trennungen überwunden worden waren.
Der Maidan war ein „Laboratorium des Gesellschaftsvertrags“, wie es ein Schriftsteller beschrieb, „eine Vereinigung von IT-Spezialisten aus Dnipropetrowsk und einem huzulischen Hirten, einem Mathematiker aus Odessa und einem Kyjiwer Geschäftsmann, einem Übersetzer aus Lemberg und einem tatarischen Bauern von der Krim“.
Der Historiker Yaroslav Hrytsak beschrieb den Maidan als eine Art Arche Noah: Er nahm „zwei von jeder Art“ auf. Es gab Menschen mit allen politischen Sympathien, von der radikalen Linken bis zur radikalen Rechten. Der junge linke Filmemacher Oleksiy Radyński sagte, Europa blicke voller Erschrecken in einen Spiegel, wenn man auf dem Maidan auch Neonazi-Symbole neben EU-Fahnen sehe, schließlich säßen Vertreter der fremdenfeindlichen extremen Rechten auch in fast jedem europäischen Parlament.
Am 16. Januar verabschiedete Janukowitschs Regierung „Diktaturgesetze“, mit denen das Recht auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit aufgehoben wurde. Jeder, der sich auf dem Maidan aufhielt, wurde zu einem Kriminellen erklärt. Janukowitschs Bereitschaftspolizei setzte Tränengas, Gummigeschosse, Blendgranaten und bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt auch Wasserwerfer ein.
Demonstranten verschwanden. Die Leiche eines Aktivisten wurde verstümmelt und erfroren in den Wäldern gefunden. Diejenigen, die zurückkehrten, waren oft entstellt, ihnen fehlte zum Beispiel ein Teil eines Ohrs.
In Kyjiw schlief niemand mehr
Hannah Arendt beschrieb den „Charakter des verblüffend Unerwarteten, der allen Anfängen innewohnt“. Als die Ukrainer am 21. November auf den Maidan gingen, erwartete niemand, dort zu sterben. Aber Ende Januar, nachdem die ersten Demonstranten von der Polizei erschossen worden waren, war eine existenzielle Veränderung spürbar. Die Qualität der Zeitlichkeit selbst veränderte sich. Die Menschen verloren das Gefühl für die Zeit, für Tag und Nacht.
In Kyjiw schlief niemand mehr. Der Maidan lebte in einer Zeit, die Walter Benjamin die „Jetztzeit“ nannte. Eine kritische Masse von Menschen hatte eine Entscheidung getroffen: Sie waren bereit, dort zu sterben, wenn es sein musste.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Dies war der Moment – so glaubt der Kunstkurator und Maidan-Aktivist Vasyl Cherepanyn –, in dem die ukrainische Gesellschaft, wie sie heute existiert, geboren wurde.
Im Februar 2014 gipfelte die Spannung des Maidans in einem Massaker, das Scharfschützen anrichteten. Etwa hundert Demonstranten starben. Janukowitsch floh nach Russland. Der Kreml annektierte illegal die Krim und schickte „russische Touristen“ über die Grenze, um einen Krieg in der Ostukraine anzuzetteln, wo eine bunt zusammengewürfelte Truppe vom Kreml unterstützter Separatisten behauptete, russischsprachige Menschen vor den ukrainischen Nazis zu schützen, die durch den von den USA inszenierten faschistischen Putsch in der Hauptstadt an die Macht gekommen waren.
Dieser Krieg ist noch nicht zu Ende.
Subjekte, nicht Objekte der Geschichte
Während des Winters 2013-2014 fragten russische Journalisten die Menschen auf dem Maidan immer wieder, wer sie organisieren würde, welche Hilfe sie von den Amerikanern erhielten. „Sie konnten einfach nicht begreifen“, erzählte eine junge Frau, „dass wir uns selbst organisiert haben.“ Die Propaganda des Kremls, die Überzeugung, dass der US-Geheimdienst oder eine andere weltbeherrschende Macht die Fäden zieht, verriet nicht nur böswillige Absichten, sondern auch die Unfähigkeit zu glauben, dass es so etwas wie selbständig denkende und handelnde Individuen geben könnte.
Acht Jahre später, im Frühjahr 2022, konnten die russischen Soldaten, die damals Cherson besetzt hielten, nicht glauben, dass die Menschen, die zum Protestieren auf die Straße gingen, nicht von einem „Mastermind da draußen“ gesteuert wurden. „Sie waren nicht in der Lage, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass Menschen, denen Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung am Herzen liegen, sich selbst organisieren“, erzählte eine Frau aus Cherson später Journalisten.
Roman Ratushnyy gehörte zu der Generation, die auf dem Maidan erwachsen geworden ist. Das Vermächtnis des Maidan sind Menschen, die sich als Subjekte und nicht als Objekte der Geschichte sehen. Roman wurde Umwelt- und Anti-Korruptions-Aktivist. Als Russland im Februar 2022 eine groß angelegte Invasion startete, ging er zum Militär.
Im Juni 2022 wurde Roman an der Front getötet.
„Nach dem Sieg“
Heute sprechen die Ukrainer nicht von der Zeit „nach dem Krieg“, sie sagen „nach dem Sieg“ –пiсля перемоги (pislya peremohy). „Peremoha“ – so schlug der polnische Theaterregisseur Krzysztof Czyżewski vor – sollte Teil eines neuen universellen Wortschatzes werden. Die Vorsilbe pere bezeichnet eine Kreuzung und moha bedeutet „ich kann“. Peremoha – „Sieg“ – drückt buchstäblich aus, dass man über das hinausgeht, wozu man in der Lage ist.
Wenn die Kollegen der ukrainischen Schriftstellerin Kateryna Mischtschenko über den Krieg sprachen, sprachen sie über den russischen Imperialismus, den Stalinismus und die Kolonialisierung. „Für mich“, schrieb Kateryna Mischtschenko, „hat dieser Krieg einen ziemlich klaren Bezugspunkt – den Maidan. Vielleicht lohnt es sich, an diesen Ort zurückzukehren, um die Zukunft zu finden.“
Unaufrichtig zu leben, bedeutete für Sartre, das Faktische in die Zukunft zu projizieren und damit die Möglichkeit – und die Verantwortung – zu leugnen, über das, was ist, hinauszugehen. Die Lehre des Maidan ist, dass wir über das hinausgehen können, was wir bis jetzt gewesen sind. Wir können es – auch wenn das Licht, das die Grenze, die die Gegenwart ist, erhellt, nur in seltenen Momenten aufleuchtet, flackert und dann wieder zu verschwinden scheint.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn