10 Jahre Annexion der Krim: Unbesetzte Erinnerungen
Die Krim ist erneut hinter einem Eisernen Vorhang versunken. Blick zurück auf eine Reise im Jahr 2011 auf eine Halbinsel voller Vielfalt.
D er Abend bricht über Kezlev herein. Die Laternen entflammen, sie tauchen das Gassengewirr in goldenes Licht und vom Minarett ruft der Muezzin zum Abendgebet. Tiefer Frieden legt sich über die Stadt am Schwarzen Meer. Es ist der Sommer 2011. Die Krim ist nicht von Russland annektiert, sie ist kein Kriegsschauplatz und die Krimtataren sind voller Hoffnung, ihre Kultur und ihre Traditionen wieder auf der Halbinsel einzupflanzen, besonders eindrucksvoll im alten Kezlev, dem heutigen Jewpatorija im Westen der Halbinsel.
Krimtataren haben im wiederaufgebauten Stadttor ein Modell der Hafenstadt Kezlev aufgebaut, wie sie war – vor der Annexion durch das Russische Reich 1783. Das Stadtrelief vom muslimischen Kezlev mit Mauern, Schiffen, Minaretten und Gassen war ein Hingucker. Hier, im Süden der Ukraine, jenseits von Saporischschja und Cherson, in der Altstadt von Jewpatorija, war der Orient ganz sinnlich zu erleben.
Ich war im Juli 2011 auf die Halbinsel gekommen, um für einen Reiseführer zu recherchieren, mein dritter über die Ukraine. Vor uns, dem Fotografen Andreas Müller und mir, lagen drei Wochen Krim. Das Abenteuerlichste war der Aufstieg auf eine gotische Felsenburg, das Bizarrste war der Gang durch die Eingeweide eines toten AKW am Asowschen Meer. Das Überraschendste aber war Jewpatorija.
Die Touristenmagnete der Krim, Jalta und Sewastopol, kannte ich bereits, den Westen mit seinen Steppen und Salzseen noch nicht. An einer weiten Bucht erhoben sich die Kirchenkuppeln und Minarette von Jewpatorija, dazu gesellten sich eine Synagoge und die Bethäuser der Karaim, ein kleines turksprachiges Volk, dessen Herkunft unklar ist und das einst den jüdischen Glauben angenommen hat.
„Kleines Jerusalem“ ist der Beiname der Stadt, die sich durch krimtatarischen Aufbauwillen deutlich von anderen Städten auf der Krim unterschied, zumindest was die Altstadt betraf. Die Krimtataren hatten eine Idee von der Halbinsel, wie sie sein sollte – multireligiös, multiethnisch, mit sanftem Tourismus und einem Islam, der europäisch gestimmt war.
Unsere Wirtin Lemana lebte das auf ihre Weise. Auf ihrem Hof vermietete sie Zimmer und kochte krimtatarisch. Außerdem fuhr sie regelmäßig mit der Fähre nach Istanbul, um dort Schuhe zu besorgen, die sie in Jewpatorija verkaufte. Für Krimtataren war die Fährlinie die Wiederentdeckung einer alten Lebensader. Das war die Altstadt.
Die sowjetisch geprägte Neustadt mit ihren monotonen Kästen war dagegen Budenzauber mit Diskotheken, Nachtclubs und Palmen aus Plaste. Wie sehr sich die Vorstellungen unterschieden, davon gab es außerhalb der Stadt eine merkwürdige Kostprobe. In der Steppe hatte ein Investor aus Kyjiw eine mittelalterliche Burgkulisse, angeblich im Stil der Wikinger, hochziehen lassen, natürlich für Neureiche, natürlich mit Privatstrand.
Zum Abschluss des Rundganges präsentierte der Herr von „Schloss Viking“ die Toilette, die sich als Häuschen auf der Seeterrasse befanden. Er wedelte vielsagend mit der Tür. Mit ihrem verspiegelten Glas, so erläuterte er, könne man bei seiner Notdurft unbeobachtet aufs Meer schauen und die Krim genießen. Der Mann war stolz.
Kreuzfahrtschiffe westlicher Agenturen legten bis zur Annexion in Sewastopol und in Jalta an, um die Reisenden für Stunden auf der Krim abzuladen und die Halbinsel zu verkaufen als russische Cote d’Azur, ganz wie zu Zeiten der Romanows. Krimtatarisches gab es nur in Bachtschyssaraj, der alten Hauptstadt des Krim-Khanats, wo der Khans-Palast 1944 Stalins Furor überlebte. Warum? Puschkin hatte 1820 den dortigen Tränenbrunnen besungen und ihn zu russischem Kulturerbe veredelt. Gehörig beschnitten wurde die Anlage trotzdem. Von 18 Hektar blieben nur vier.
Wie jede Führerin deklamierte auch unsere am Brunnen Puschkins Verse: „Brunnen der Liebe, Brunnen des Lebens, zwei Rosen bracht’ ich dir …“ Zum Dichter nur Erhabenes, zum Genozid kein Wort. Das fand sich eindrücklich am hinteren Ende der kleinen Stadt. In einem Haus hatte Guliver Altin, ein junger Geschäftsmann, ein Museum eröffnet.
Der Krimtatar war in Frankreich zu Geld gekommen und steckte es in das Museum, dem er den Namen „La Richesse“ – „der Reichtum“ – gab. Dort zeigte er die Fülle der krimtatarischen Kultur und Geschichte. Es ist ein Volk, das selbst alle Völker der Krim in sich vereint. Es hat nicht nur mongolische und tatarische Wurzeln, sondern auch skythische, sarmatische, chasarische, griechische, gotische und viele andere. Die Gesamtheit der Krim – in den Krimtataren ist sie aufgehoben.
Am 14. Mai 1944 setzte Stalin dem ein Ende. Eine Reihe von düsteren Ölbildern versucht im Museum das Grauen, von dem es keine Fotos gibt, erlebbar zu machen. Ein erbarmungsloser Epilog zu diesem Völkermord, auch im „La Richesse“ erzählt, ließ den Atem stocken. Stalins Häscher hatten binnen drei Tagen 190.000 Krimtataren in Viehwaggons gesteckt und fortgeschafft, als sie merkten, dass sie ein Dörfchen weit im Nordosten auf der abgelegenen Arabatischen Nehrung übersehen hatten.
Alle Züge waren fort und Moskau war bereits „Vollzug“ gemeldet. Was tun? Sie trieben die Dorfbewohner auf eine Barke, schleppten diese aufs Asowsche Meer hinaus und versenkten den Kahn.
Es ist bedrückend, wie teilnahmslos viele Russen gegenüber dem Schicksal der Krimtataren sind – und wie feindselig. Krimtatarische Gedenktafeln waren beschmiert, Denkmäler beschädigt. „Noch nicht einmal Nägel haben sie uns verkauft, als wir zurückkamen“, erzählte Ilwer Ametow in Sudak an der Südküste. Die Krimtataren haben es dennoch geschafft – mit Initiative, Gestaltungswillen, Gemeinsinn und der Idee, der Krim ihre historische Identität wiederzugeben.
Ametow besaß an der Strandpromenade ein stilvolles Restaurant, Spezialität waren Schaschlikspieße, die senkrecht über der Glut standen. Ilwer Ametow war der Vorsitzende des örtlichen Medschlis, der krimtatarischen Selbstverwaltung. Er hatte uns bewirtet und zu einem deutschen Friedhof gefahren. Deutsche waren im 19. Jahrhundert gekommen, um Weinanbau zu betreiben. Sie wurden 1941 deportiert.
„Sie sind nicht mehr da, also müssen wir uns um die Gräber kümmern“, sagte Ametow. Das Schicksal der Vertreibung verbinde beide Völker. In Gedanken hatten Investoren auf dem Friedhof schon Ferienhäuser errichtet. Ametow hatte das verhindert und erreicht, dass der Friedhof mit einem Zaun geschützt wurde. Später lud er uns in sein Haus ein und zeigte sein kleines Museum mit Alltagsgegenständen und historischen Fotos.
10 Jahre Annexion der Krim
Nach der Annexion wurde Ametow vom russischen Geheimdienst bedrängt, sich von der Medschlis loszusagen. Er lehnte ab. Nach mehreren Haussuchungen wurde er im August 2021 zu acht Monaten Hausarrest verurteilt wegen angeblichen Besitzes einer Schusswaffe. Sie hatten in seinem Museum den Lauf eines historischen Gewehrs gefunden.
Ilwer Ametow war der politisch exponierteste Krimtatar in Sudak. Der bekannteste war er nicht. Das war Gitarrist Enwer Ismajlow. Er war 1995 wurde beim ersten Internationalen Gitarrenwettbewerbs von Lausanne mit dem Grand Prix geehrt. Der Krimtatar hat die 350 Konkurrenten „an die Wand gespielt“, wie die Jury schwärmte, vor allem durch seine Spielweise, dem Tapping, bei der er die Saiten oben am Hals mit beiden Händen zupft und zärtelt. Ismajlow trat international auf, oft im Black-Sea-Orchester mit Musikern aus acht Ländern.
In jenem Sommer war Ismajlow zu Hause. Von seiner Gage hatte er in Sudak eine „Mini-Pension“ errichten lassen, die von seiner Frau geführt wurde. Seine Altersversicherung, hatte er gesagt. An der gesamten Straße lagen krimtatarische Höfe. Wir hatten uns dort einquartiert, saßen am Abend auf einem Diwan, Ismajlow schloss die Augen und entlockte seiner E-Gitarre wundersame Klänge. Stundenlang spielte er einen Mix aus Orient, Balkan, argentinischem Tango und verfremdeter sowjetischer Estrade. Er machte uns ein einmaliges Geschenk.
Bereits am 5. März 2014, wenige Tage vor der Annexion, ahnte Ismajlow, der 1955 in Usbekistan geboren wurde, den politischen Verlust seiner Heimat. „Alle haben einen Ort, wo sie hingehen können. Wir nicht!“, klagte er auf Facebook. In Russland ist Facebook verboten, Ismajlows Webseite stillgelegt. Musik macht die „krimtatarische Gitarre“ trotzdem, im russischen Kasan, in der moldauischen Hauptstadt Chisinau, in Istanbul und natürlich auf der Krim, wo er wohnt.
2022 kam er auch nach Deutschland. In Internet finden sich Clips und Gespräche über Musik. Politisch äußert er sich öffentlich nicht mehr, nur so viel: „Die Dinge ändern sich, die Musik bleibt.“ Was bleibt von der Krim? Wer von den Krimtataren nicht die Halbinsel verlassen hat und nicht im Gefängnis sitzt, ist in der inneren Emigration. Es ist wie eine neue Verbannung.
Und die Ukraine? Kyjiw hat sich nach 1991 nicht wirklich um die Krim bemüht und insbesondere die Krimtataren hängengelassen. Allerdings war der prorussische Präsident Janukowitsch im Sommer 2011 auf Werbetafeln so allgegenwärtig, als hätte der ukrainische Präsident geahnt, dass in Putins Schublade bereits ein Plan lag. Als Janukowitsch Ende Februar 2014 aus Kyjiw verjagt war, fürchteten die Krimtataren, dass die Maidan-Revolutionäre, berauscht von ihrem Erfolg, die Krim erneut vergessen könnten. Das hat Wladimir Putin verhindert.
Die Krim gehört „von nun an und für alle Zeiten unter das Russländische Imperium“ – mit diesem Befehl der Kaiserin verleibte sich Russland 1783 die Krim ein. Katharina II. hatte das Krim-Khanat einfach aufgelöst. Der Staat, den die Krimtataren 1441 gegründet hatten und der von der Donau bis zum Kaukasusvorland reichte, war lange Zeit Gegenspieler von Moskau gewesen. Weil Russland im 18. Jahrhundert die Oberhand gewinnt, sucht das Khanat Schutz beim Osmanischen Reich. Trotzdem wird das Khanat annektiert. Viele Krimtataren fliehen nach Kleinasien. Bis 1903 verlassen mehr als die Hälfte ihre Heimat.
In den Wirren der „Oktoberrevolution“ wird November 1917 auf Initiative der Krimtataren die Volksrepublik Krim gegründet. Der Staat scheitert. Am 18. Oktober 1921 lässt Lenin die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik Krim ausrufen.
Nach dem Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 versuchen deutsche Truppen, die Krim zu erobern. Das gelingt erst am 4. Juli 1942 mit der Einnahme von Sewastopol. „Ostminister“ Alfred Rosenberg will ein „Goten-Gau“ errichten und Bauern aus Südtirol ansiedeln.
Im März 1944 beginnt die Rote Armee mit der Rückeroberung. Am 18. Mai 1944 lässt Stalin alle Krimtataren wegen angeblicher Kollaboration nach Mittelasien deportieren. Dabei sterben über 40 Prozent der 190.000 Krimtataren. Die Krim wird mit Russen, Ukrainern und Weißrussen besiedelt. Krimtatarische Ortsnamen werden ausgelöscht, die Sowjetrepublik Krim aufgelöst.
1954 überlässt die Führung der KPdSU unter Nikita Chruschtschow die Krim der Teilrepublik Ukraine als „Geschenk“. Der Massentourismus beginnt, gleichzeitig wird die Krim zum Militärstützpunkt ausgebaut.
1967 werden die Krimtataren rehabilitiert. Rückkehrrecht erhalten sie erst 1989 unter Michail Gorbatschow. Mit dem Ende der Sowjetunion 1991 gehört die Krim zur unabhängigen Ukraine. Die russische Mehrheit (ca. 60 Prozent) fremdelt mit dem Nachfolgestaat. Die Frage nach der Aufteilung der Schwarzmeerflotte ist bis 1997 unklar. Dann erhält Moskau 80 Prozent der Schiffe, Kiew 20 Prozent. Ein Pachtvertrag wird unterzeichnet. Als der ukrainische Präsident Janukowitsch nach Demonstrationen auf dem Maidan in Kyjiw im Februar 2014 nach Russland flieht, stimmt das Krimparlament, zu dem nur noch willfährige Abgeordnete Zugang haben, in Anwesenheit bewaffneter russischer Soldaten im Parlamentsgebäude am 28. Februar 2014 für ein Referendum, für das es in der ukrainischen Verfassung keine Grundlage gibt.
Unter Beobachtung „grüner Männchen“, russischer Einheiten ohne Hoheitsabzeichen, sollen am 16. März 95 Prozent für einen Anschluss an Russland votiert haben. An der Wahlbeteiligung und an dem Ergebnis gibt es massive Zweifel. Die Krimtataren bleiben der Abstimmung fern. Am 18. März 2014 besiegelt Putin den Beitritt zu Russland.
Wenn es nach der Zahl der Flaggen ginge, war die Krim schon im Sommer 2011 russisch, insbesondere Sewastopol. In der Bucht lag der Raketenkreuzer „Moskwa“, inzwischen liegt er auf dem Meeresgrund. Auf den Schiffen flatterte die russische Trikolore, wie auf dem Stabsgebäude der Schwarzmeerflotte, wie am „Moskauer Haus“, wie auf Jachten und privaten Datschen. „Ich bin glücklich, dass ich für das Vaterland sterbe“, zitierte ein Denkmal in Sewastopol einen zaristischen Admiral. Von einer alten Dampflok am Bahnhof rief es: „Tod dem Faschismus!“ Und vor den Toren der Stadt liegen 25.000 Deutsche in Krimerde. Die Heldengesichter auf den gewaltigen Monumenten für den Großen Vaterländischen Krieg feierten alle den Tod. Die „russische Krim“ war eine Nekropole.
Zum alten Tod kommt frischer hinzu. Überall, ob in Kertsch, Sewastopol, Jewpatorija oder anderswo, posierten Kinder mit Handgranaten und Maschinengewehren vor Weltkriegskulisse. Eltern haben die kleinen Helden stolz auf Handys verewigt.
Die ersten könnten schon gefallen sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl 2025
Parteien sichern sich fairen Wahlkampf zu
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken