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1. Mai in BerlinKampftag zwischen Sternis und Raketen

Am Tag der Arbeit gleicht Berlin einem politischen Volksfest. Die taz rekonstruiert das Geschehen bis zur revolutionären Abenddemo.

Am Cape Gruneval werden Milliardäre und ihrer Stiefellecker zum Mars geschickt Foto: Florian Boillot

Autonome Aktion, Grunewald

2 Tage zuvor: Die taz erhält ein Bekennerschreiben mit dem Betreff: „Vorgezogener, kleiner militanter Nachtspaziergang durch’s Grunewaldviertel mit anschließender Brandstiftung.“ Man habe ein „Trafohaus zur Stromversorgung des Viertels in der Clayallee gegrillt“ sowie verschiedene Funkmasten, auch für den Polizeifunk, in Brand gesteckt, heißt es.

Begründet wird die Tat in einem sehr, sehr langen Schreiben, bei dem es insbesondere um im Grunewald ansässige russische Oligarchen und Botschaften geht. Unterschrieben ist das ganze mit „Vulkangruppe Friede den Hütten …“ – und damit ganz bewusst in der Tradition jener anarchistischen Gruppen, die in den vergangenen Jahren unter wechselnden Vulkan-Namen immer wieder für Kabelbrände gesorgt haben.

DGB-Demo, Friedrichshain

11 Uhr: Am Strausberger Platz, wo die Demo unter dem Motto „Mach dich stark mit uns“ tatsächlich starten soll, haben sich derweil schon Blöcke vorbildlich strukturiert. Ganz vorne: der DGB. Gewerkschaften, Parteien, Sozialverbände und Organisationen folgen. Nur ein Redner von der IG Metall will erst nicht auftauchen: „Lieber Raphael, solltest du hier sein – mach doch mal die Fahne hoch“, ruft es durch den Lauti. Die Teil­neh­me­r:in­nen lachen. „Es geht langsam voran, aber es geht voran“, scherzt die Stimme aus dem Lauti.

Dann setzt sich der Demozug in Bewegung. Immer wieder kritisieren Red­ne­r:in­nen die Sparpolitik des schwarz-roten Senats, der mit seinen Kürzungen Soziales und Bildung gegeneinander ausspiele: „Schulessen gegen ÖPNV, Integration gegen Bildung.“ Dieser Weg führe in eine Sackgasse, heißt es: „Herr Wegner, da machen wir nicht mit.“ Jubel, Klatschen und Trillerpfeifen.

My Gruni, Johannaplatz

Mittags: „Drei, zwei, eins, Umverteilung!“, rufen einige hundert Menschen aus geeinter Kehle auf dem ehemaligen Johannaplatz, von der diesjährigen MyGruni-Demo liebevoll in Cape Gruneval umbenannt. Dann schon verdunkelt viel Rauch den Himmel, nur leicht flackert noch die Sonne im weit entfernten All durch den Smog der Rakete mit der Aufschrift „MyAss“, kurz für „Antinationales Space Shuttle“, das symbolisch die ersten Superreichen auf ihrem One-Way-Flug zum Mars transportieren soll. Mit dem Themesong von Stanley Kubricks „2001 – A Space Odyssey“ schallt angemessen epochale Musik über den Platz im Villenviertel.

Ganz Berlin

Vor allem in Kreuzberg sind sie schon seit Tagen sichtbar: mobile Poller, die als Zufahrtsschutz all jene Straßen und Plätze schützen sollen, auf denen die Massen unterwegs sind. Polizeisprecher Florian Nath hatte zuvor vor einer abstrakten, aber weltumspannenden Gefahrenlage gesprochen, von den Auto-Anschlägen in Magdeburg, München oder Kanada. Am Rande von Demos sollten zumindest Polizeifahrzeuge für Abschirmung sorgen. Doch das klappt nicht überall. Auf dem langen Anfahrtsweg in den Grunewald bleiben immer wieder Seitenstraßen ungeschützt.

Fest der Linken, Mariannenplatz

Mittags: Das Fest der Linken am Mariannenplatz steht – zumindest bei den meisten – unter dem Stern der guten Laune. Familien schmieren sich gegenseitig Sonnencreme ein, Kleinkinder schlecken Eis. Man könnte meinen, die Leute hier lebten bereits in der befreiten Gesellschaft. Am Luftballonstand fragt eine Frau mit Kind auf dem Arm: „Habt ihr noch ein Polizeiauto?“ Daneben verkaufen zwei 30-Jährige Sekt. Sie haben darauf verzichtet, an ihrem Stand politische Symbole anzubringen. „Ja, was soll ich sagen? Wir stehen hier am 1. Mai und verkaufen Aperol. Wir wollen uns die Mieten leisten können“, erzählt die junge Mutter Olivia. Sie und ihr Partner mussten während ihrer Schwangerschaft bei den Eltern wohnen, da sie „aus ihrer Wohnung gekickt worden sind“.

My Gruni, Grunewald

Mittags: Die kleine Villen-Allee verbindet den Ort der Hauptkundgebung mit dem Straßenfest von Extinction Rebellion. Polizeiwannen sichern den Reichtum. Als ein kleiner Junge an den Mast einer historischen Laterne einen MyAss-Sticker anbringt, springen zwei Polizisten heraus.

Der Junge muss die Laterne wieder ein Stück hochklettern, zieht den Aufkleber ab und übergibt ihn. Dann rennt er davon. Die Umherschlendernden reagieren höhnisch. „Ganz wichtige Polizeiarbeit“, ruft einer; ein anderer: „Den an der Bullenwanne kannst du kleben lassen.“

Nicht-mehr-Myfest, Kreuzberg

14.30 Uhr: Der Kiez ist erwacht. Aus den Wohnungen schallt Musik und erfüllt die Straßen. Die Polizei hat sich am Kotti und an der Hasenheide in Position gebracht. Ebenso An­woh­ne­r*in­nen und Gastro-Besitzer*innen mit Caipi- und Mojito-Ständen. Vom Kotti findet eine Völkerwanderung in Richtung Görli statt. Hier hatte ein breites Bündnis aus Kulturinitiativen, An­woh­ne­r*in­nen und politischen Gruppen zum „Rave against the Zaun“ aufgerufen.

Auf dem Steinrondell steht ein DJ-Pult mit angebrachten Palästina- und Kommunismus-Flaggen. „Kai Wegner lügt dich an!“, steht auf einem Transpi dahinter. In silbernen Overalls und Sonnenbrillen stehen tanzen DJ Craft auf den Boxen, singen und feuern die Meute an.

My Gruni, Johannaplatz

15 Uhr: „Wir schicken die Milliardäre zum Mars, aber der Besitz bleibt hier, ist ja klar!“, ruft eine Rednerin. Es sei ja ersichtlich, dass die Milliardäre des Lebens auf der Erde überdrüssig seien – insofern sei dies als ein Angebot einer „Politik der ausgestreckten Hand“ zu verstehen. „Und Merz kann auch mit“, lacht die Rednerin.

„Er ist zwar kein Milliardär, aber er macht Politik für Milliardäre – und vielleicht fühlt er sich ja auch wohl als Kanzler der Marskolonie Neu-Grunewald.“ Die Menge lacht, großer Applaus. Viele haben sich als Aliens verkleidet, haben sich etwa ein drittes Auge angeheftet oder Lauscher auf den Kopf geklebt. 1.800 Menschen sollen laut Polizeiangaben gekommen sein.

DGB-Demo, Rotes Rathaus

Mittags: Kurzinterview mit Anne, 27. Sie arbeitet als Diätassistentin in der Patientenverpflegung bei der Charité-Tochter CFM. „Ich arbeite beim CFM, und wir kämpfen für unsere Arbeitsrechte. Der schwarz-rote Senat unter Kai Wegner hat versprochen, uns wieder zurück zur Charité in den öffentlichen Dienst zu führen. Dieses Versprechen muss eingehalten werden. Es kann nicht sein, dass wir die gleiche Arbeit machen, aber unterschiedlich bezahlt werden. Wir wollen ein Recht auf Vollzeit haben. Es werden einfach neue Stellen besetzt, anstatt dass Kol­le­g:in­nen ihre Stunden erhöhen können. So können wir aber nicht leben. Wenn die Bezahlung besser wäre, würden wir das natürlich nicht fordern – aber weil sie so schlecht ist, bestehen viele darauf, mehr arbeiten zu dürfen. Ich finde das alles völlig absurd.“

Nicht-mehr-Myfest, Kreuzberg

15.30 Uhr: Jugendliche leeren den Sekt aus Flaschen, Jungsgruppen trichtern hemmungslos Sterni. An den zwei mobilen Toiletten haben sich – oh Wunder – ewig lange Schlangen gebildet. Im vergangenen Jahr waren bei zwei ähnlichen Demonstrationen im Görli jeweils zehntausende Menschen gekommen. Der Bezirk war jedoch der Meinung, es werde ein Tag, „wie jeder andere Tag im Görli“. Vor der Bühne zeigen die Caipis ihre Wirkung: Tausende tanzen ausgelassen zu „Der Zaun ist Böse“ und „Fick den Zaun“.

Ein Redner erinnert sich an die alten Zeiten in Kreuzberg und die legendäre Hiphop-Bühne während des 1. Mai in der Naunynstraße. Damit ist seit dem Ende des MyFests Schluss. Er ärgert sich über die Gentrifizierung des Kiezes: „Warum gehen diese Leute nicht nach Zehlendorf oder Grunewald und zerlegen die Kieze dort?“

Fest der Linken, Mariannenplatz

Beim Stand von Deutsche Wohnen Enteignen, sagt Annalena, 32, sie sei auf diesem angepassten Mainstreamfest, um Präsenz zu zeigen. „Wir wollen die Leute über Stand unserer Kampagne informieren: Wir planen einen neuen Gesetzesvolksentscheid, der dann direkt bindend ist.“

Das ist die neue Strategie der Initiative, nachdem der letzte gewonnene Volksentscheid von Rot-Rot-Grün nicht umgesetzt wurde. Hat der neue Erfolg der Linken eine Bedeutung für ihr Projekt? „Ja, definitiv. Die Linke unterstützt das Anliegen von allen Parteien am stärksten“, sagt Annalena. Sie hat die Hoffnung, dass der Mietenkampf, auch mit den neuen Leuten in der Partei, ab jetzt erfolgreicher wird.

Pressekonferenz, Feuerwache Urban

Früher Nachmittag: Auf einer Pressekonferenz zur aktuellen Lage kommen bei der Neuköllner Feuerwehr der Regierende Bürgermeister Kai Wegner (CDU), Innensenatorin Iris Spranger (SPD), Polizeipräsidentin Barbara Slowik Meisel und Landesbranddirektor Karsten Homrighausen zusammen.

Die taz kann sich vorstellen, wie die Lobeshymnen auf die mehr als 6.000 eingesetzten Po­li­zis­t:in­nen klingen, die an diesem Tag „den Rechtssaat verteidigen“ sollen, und erwartet auch sonst wenig Erhellendes. Ergo: Wir verzichten und begleiten stattdessen weiterhin die sozialen Bewegungen.

Fest der Linken, Mariannenplatz

Nachmittags: „Wo issn hier der Teeech­no?“, fragt ein betrunkener Mann Mitte 40 eine Mietaktivistin. „Immer jeradeaus, hier runter“, antwortet die schlagfertige Lichtenbergerin Annalena grinsend und deutet zum Feuerwehrbrunnen, wo gerade ein Rockkonzert stattfindet. Er dankt freundlich, reckt die Faust zum kämpferischen Gruß und stolpert den Hügel hinunter.

Dann schlendert Kerstin Wolter vorbei. Sie ist Linken-Vorsitzende des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg und kandidiert für den Vorsitz des Berliner Landesverbands. Sie erinnert daran: „Der 1. Mai ist aus den Kämpfen für den Achtstunden-Tag entstanden und nächste Woche wählt der Bundestag einen Kanzler, der den Achtstunden-Tag abschaffen will.

Warum sind die Leute trotz der Verhältnisse hier so gut gelaunt? Wolter vermutet, das liege „schon am Wetter“. Aber in einer Stadt wie Berlin, in der die Linke bei der Bundestagswahl stärkste Kraft wurde, sei den Leuten auch bewusst: Es gibt Alternativen zum Kürzungskahlschlag und das macht Hoffnung. Wolter findet es „voll okay, dass man auch einfach mal rauskommen will aus dem Malochen und eine gute Zeit haben“.

Sie verweist auf eine neue Umfrage, der zufolge nur noch 50 Prozent der Beschäftigten mit ihren Jobs zufrieden sind. Nur jeder Vierte gibt an, vom Job noch abschalten können. „Deshalb fordert die Linke unter anderem, dass der 8. Mai zum Feiertag gemacht wird“, sagt Wolter mit Blick auf die nächste Woche, klopft sich das Gras von der Hose und macht sich für ihre Rede auf den Weg zur Bühne.

DGB-Demo, Rotes-Rathaus

Mittags: Am Ende der DGB-Demo wartet vor dem Roten Rathaus auch die traditionelle Rote im Brötchen. Die Sonne knallt auf den Platz, viele machen es sich deshalb zum Essen im Schatten der Bäume bequem. „Heute ist kein Arbeitstag, heute ist Mampftag“, scherzt einer.

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1 Kommentar

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