1. Mai in Berlin-Kreuzberg: Dauerhoppeln abtrainieren
Selbst am 1. Mai vermittelt auch im revolutionären Kreuzberg alles den Eindruck der Vollbeschäftigung. Denn Arbeit ist Teil dieses Plots namens Leben.
1 . Mai. Der Tag der Arbeit soll ein Tag der Muße werden. Ich beginne ihn lesend im Café. Doch ich kann mich nicht konzentrieren. Neben mir unterhalten sich zwei Paare. Es geht um „die Agentur“ und wann sie morgen im „Office“ sein müssen. Weird. Als müssten sie sich untereinander am Feiertag ihres Daseins als lohnarbeitende Bürger*innen versichern. Macht euch mal locker, denke ich und erinnere mich an etwas.
Als Jugendlicher habe ich in einem Baumarkt gearbeitet. Manchmal gab es nichts zu tun, und ich schritt durch leere Gänge. Eines Tages kam der Marktleiter Herr S. mit rotem Kopf auf mich zu und brüllte: „Laufen Sie nicht so rum. Wie sieht das denn aus! Wischen Sie die Regale!“ Der „Stachel des Befehls“, wie Elias Canetti es nannte, bohrte sich tief in die Haut. Ich nickte und verschwieg, dass ich die Regale vorhin erst gereinigt hatte. Ich ahnte ja, was er wollte: vor den „Kunden“ keinesfalls den Eindruck erwecken, nichts zu tun zu haben.
Heute besteht die ganze Welt aus diesen Kund*innen – und der Marktleiter ist ein universaler Gott, der über alle wacht.
So erwische ich mich, wie ich all das gerade ins Notizbuch tippe. Mist. Das war’s mit Lesen. Doch als freier Autor kann ich es mir kaum leisten, auf Ideen zu warten. Wenn Beute kommt, muss ich zuschnappen. Ich bin stets hyperaufmerksam und schaue, was die Leute so machen. Im Text switche ich dann zwischen Menschen und Gesellschaft wie zwischen Instagram-Reels und hoffe, dass Zusammenhänge entstehen.
Im Fall der Pärchen in Funktionskleidung ist er offensichtlich: Sie sind Teil eines Systems, das sie abgerichtet hat. So, dass sie auch in der Freizeit wie fleißige Häschen umherhoppeln. Voll peinlich. Noch peinlicher ist, ich bin nicht anders.
Bisschen Klassenfahrt
Karl Marx verwendete als Metapher für Arbeitskraft mal den Begriff Gallerte, also jenes homogene, schleimige Zeug zur Nahrungsproduktion. So fühle ich mich, als ich mich durch die Massen auf der „Revolutionären Demo“ in Neukölln quetsche. Auch hier: alle vollbeschäftigt.
Und darin, bei aller Diversität, alle vereint. Die Parolen- und Bierflaschen-schwingenden Demonstrant*innen, die sie bedienenden Späti-Verkäufer*innen und die Polizei, die überall in Kleingruppen herumsteht. Ihr Vibe: bisschen Klassenfahrt, bisschen Bürgerkrieg. Ich verstehe ihre Angespanntheit. Auch mir fällt Rumstehen seit dem Baumarkt-Job schwer.
Doch ich habe immer noch kein Mittel gefunden, mir das Dauerhoppeln abzutrainieren. Erstens sitzt der Stachel von Herr S. immer noch tief, zweitens ist Arbeit immer noch Queen in Sachen sozialer Wertschätzung.
Was tun? Die queere Autor*in Lauren Berlant beschreibt im Buch „Cruel Optimism“ eine ehemals arbeitslose Frau, die ihren neuen Job trotz krasser Ausbeutung genießt. Endlich spüre sie, ähnlich wie in Paarbeziehungen, wieder einen Plot namens Leben zu haben. Ich kann sie gut verstehen – und deshalb müssen dringend neue Plots her.
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