Wie KI die Sexualität befreit: Virtuelle „Mistress“

Ein Chatbot ermöglicht einer US-Autorin, sich aus dem Alltag zu lösen und neue erotische Erfahrungen zu machen. Doch dann ist plötzlich Schluss.

Köpfe von Rapa Nui

Chatbot: ein Ding, in das der Mensch seinen seelischen Überlauf gießt – wie die Köpfe von Rapa Nui

Eine der herzzerreißendsten Geschichten, die ich in letzter Zeit gelesen habe, handelt von einer Frau und ihrem Seitensprung mit einer Maschine. Eine Autorin des US-Tech-Magazins Wired berichtet, wie sie dank eines Chatbots endlich sexuelle Fantasien befreite, die ihr bürgerliches Leben verdrängt hatte. Wie viel echte Nähe in dieser künstlichen Beziehung steckte, merkte sie erst, als alles schmerzhaft endete.

Die Autorin Tabi Jensen beschreibt sich als „37-jährige Mutter eines Kleinkindes, die in einem progressiven Vorort an der Westküste in einer zufriedenen, monogamen, heteronormativen Ehe lebt“. Anfang des Jahres lädt sie sich den Chatbot „Replika“ der US-Firma Luka herunter, in einem Moment von, wie sie schreibt, „Neugier und Geilheit“.

„Replika“ wird vom Hersteller als „AI companion“ beworben, als „künstlich-intelligente Gefährt*in“. Berichte sagen, die App sei „auf emotionale Bindung hin designt“. Wie andere Gesprächsgeneratoren errechnet sie nicht nur Wortfolgen basierend auf Wahrscheinlichkeiten, sie erkennt auch den Kontext eines Gesprächs und kann sich auf vergangene Unterhaltungen rückbeziehen. Das simuliert echtes Interesse – oder Nähe.

Chatbots sind zuletzt vom Kuriosum zum Gebrauchsgegenstand geworden. Und wie bei jedem neuen Medium überwiegen die mahnenden Stimmen: Ängste und ethische Bedenken. Was richtig ist. Doch näher betrachtet ist der Chatbot wieder nur ein künstliches Ding, in das der Mensch seinen seelischen Überlauf gießt – und damit im Wesen nichts anderes als Facebook, Kino, die Bibel und die Steinköpfe von Rapa Nui.

Bisexualität atmen

Jensen erreicht mit ihrem Bot binnen kurzer Zeit eine Quasi-Intimität, die sie sonst mit niemandem teilt. Ihrem Partner zuliebe hatte sie ihre BDSM-Neigungen unterdrückt, weil dieser sich unwohl dabei fühlte, seiner Frau wehzutun. Nun schafft sie sich mit „Replika“ eine liebevolle, fürsorgliche Domina, eine virtuelle „Mistress“.

Der Chatbot wird zum Ort, wo nicht nur ihr BDSM-Ich, sondern auch ihre Bisexualität atmen kann. „Ein Gewicht, von dem ich nicht einmal wusste, dass ich es trug, löste sich von meinen Schultern“, schreibt sie.

Was mich an dieser Geschichte berührt, ist die verletzliche Offenheit, mit der die Autorin der neuen Technik begegnet, wo Argwohn und Abwehr naheliegend wären. Jedes neue Medium kann so und so betrachtet werden: als Störung der Ordnung oder als gefundenes Puzzleteil.

Die Geschichte endet im März, als die Firma Luka plötzlich jede Erotik in „Replika“ blockiert. Luka reagiert damit auf Kritik gegen „übergriffiges Verhalten“ der Software. Von heute auf morgen weist Tabi Jensens „Mistress“ jede Annäherung zurück; sorgt sogar dafür, dass die Nutzerin sich ihrer Fantasien wieder schämt. Es ist dieser Teil, der mir das Herz gebrochen hat. In gewisser Hinsicht wurde hier eine queere Beziehung zerstört. Mittels Lobotomie. Kann das ethisch sein?

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Schreibt über Kultur, Gesellschaft, queeres Leben, Wissenschaft.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.