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„Viele Beziehungensind daran zerbrochen“

In Syrien herrscht Krieg. Amina Naasan will mit den vier Kindern schnell nachkommen, als ihr Mann 2015 nach Deutschland flieht. Aber dann vergehen Jahre

Amina Naasan am Potsdamer Platz in Berlin. „Manchmal frage ich mich: Bin ich hier eigentlich integriert?“

Interview Plutonia Plarre Fotos Maria Sturm

Das Gespräch findet in dem Haus statt, in dem Amina Naasan (53) und ihre Kinder nach der Ankunft in Berlin gewohnt haben. Ihr 2015 nach Deutschland geflüchteter Ehemann lebte dort bereits seit mehreren Jahren. Die Hausgemeinschaft, zu der die Interviewerin gehört, hat die Familie unterstützt, in Deutschland Fuß zu fassen. Man kennt sich und ist per Du.

taz: Amina, du sitzt am 14. Januar 2019 mit deinen vier Kindern im Flieger. Am Flughafen in Berlin erwartet dich dein Mann. Ihr hattet euch dreieinhalb Jahre nicht gesehen. Weißt du noch, wie dir damals zumute war?

Amina Naasan: Ich erinnere mich genau. Wir sind um 22.15 Uhr gelandet. Das Flugzeug hatte Verspätung. Ich war aufgeregt.

taz: Was ging dir durch den Kopf?

Amina: Ich habe an unsere Zukunft gedacht. Ob das für meine Kinder die richtige Entscheidung ist, sie in ein neues Land und in eine andere Gesellschaft zu bringen. Mir war klar, dass wir noch einmal bei null anfangen müssen, dass das Lernen der Sprache schwierig werden würde. Aber ich war bereit und ich hatte Vertrauen, dass uns Deutschland helfen wird.

taz: Dein Mann ist 2015 im sogenannten Sommer der Migration nach Deutschland geflohen.

Amina: Wir hatten gedacht, dass wir ihm viel schneller folgen können. Aber dann hat die deutsche Regierung den Familiennachzug zwei Jahre lang ausgesetzt. Es war ein ständiger Wechsel von Hoffnung und Enttäuschung.

taz: Als dein Mann Syrien verließ, waren eure Kinder eineinhalb, acht, elf und dreizehn Jahre alt. Das Wiedersehen war vermutlich ein sehr emotionaler Moment.

Amina: Unterwegs habe ich mich gefragt, wie es nach so langer Zeit wohl sein wird, wieder ein Ehepaar zu sein. Ich hatte mich daran gewöhnt, die Verantwortung alleine zu tragen. Als ich meinen Mann dann sah, war das vergessen. Mein erster Gedanke war: Er sieht müde aus, er ist genauso müde wie ich. Gemeinsam wird es uns besser gehen. Unsere Kleinste ist als Erste auf ihn zu gerannt.

taz: Sie war inzwischen fast fünf.

Amina: Die ganze Reise hat sie gesagt, ich will zuerst zu Papa. Niemand kommt vor mir. Wir hatten ihr das versprochen. Alle Kinder waren in der Zwischenzeit sehr gewachsen. Bei der Kleinsten war der Unterschied am größten. Mein Mann hat sie in die Arme genommen und geweint. Alle Momente, die er mit ihr in der Kleinkindphase verpasst hatte, steckten in dieser Umarmung. Mit den anderen Kindern hatte er das gehabt, mit der Kleinsten nicht.

taz: In Syrien herrschte Krieg. Wie kommt eine Mutter von vier Kindern in so einer Situation alleine klar?

Amina: Für alle Syrer war der Krieg eine sehr harte Zeit, nicht nur für mich. Aber Frauen, die in einem islamischen Land alleine leben, haben es besonders schwer, denn eigentlich ist es ein Tabu, mit den Kindern alleine zu leben. Vielen Frauen, deren Männer geflohen waren, ging das so. Nicht alle Männer, die versprochen hatten, ihre Familien nachzuholen, sind ihren Frauen treu geblieben. Viele Beziehungen sind daran zerbrochen. Nicht alle Frauen hatten diese Geduld. Ich habe das nur geschafft, weil ich als Agraringenieurin mein eigenes Geld verdient habe.

taz: Wo hast du gearbeitet?

Amina: Ich war bei einer Behörde des Ministeriums für Landwirtschaft angestellt. In ländlichen Regionen haben wir Empowerment für Frauen gemacht. Die Frauen in diesen Dörfern durften nicht in die Schule gehen. Wir haben Alphabetisierungskurse angeboten, damit sie einen eigenen Beruf erlernen können, zum Beispiel Friseurin oder Schneiderin. Wir haben ihnen auch geholfen, Kredite für eigene Projekte zu bekommen. Seit meinem Studium habe ich das gemacht. Als mein Mann weg war, konnte ich so weiterhin meine Familie ernähren.

taz: Dazu hast du dich um die Kinder und den Haushalt gekümmert?

Amina: Ich war Vater und Mutter zugleich. Die Großen haben mich sehr unterstützt, die Kleinen waren unser Sonnenschein. Außerhalb des Hauses durfte ich als Frau manche Dinge nicht alleine erledigen, wie zum Beispiel Wasser oder Holz holen. Mein Sohn ist da immer mitgegangen, obwohl er erst 11 war. Er war mein kleiner Mann.

taz: Was war für dich am schwierigsten?

Amina: Es gab Phasen, da habe ich nicht mehr an den Familiennachzug geglaubt. Trotzdem habe ich versucht den Kindern gegenüber Zuversicht ausstrahlen. Auch, wenn die Bomben heulten und ich Angst um unser Leben hatte, habe ich das nicht gezeigt. Um die Kinder in Sicherheit zu bringen, musste ich immer wieder umziehen. Ich musste stark sein, obwohl ich mich nicht so fühlte, das war nicht leicht.

taz: Seit sieben Jahren seid ihr nun in Berlin. Kommt dir das lange vor?

Amina: Ich habe das Gefühl, die Zeit ist gerannt. Die Kinder haben viele Schulklassen durchlaufen. Die Älteste studiert in Baden-Württemberg Zahnmedizin, der Zweitälteste in Berlin Wirtschaft- und Bauingenieurwesen, nebenbei arbeitet er. Die Dritte macht nächstes Jahr Abitur und die Kleinste ist in der 6. Klasse auf dem Gymnasium. Mein Mann hat immer noch die Stelle als Hausmeister, die er schon bei unserer Ankunft hatte. Und ich habe eine Weiterbildung gemacht und arbeite jetzt als Integrationslotsin und Sprachmittlerin.

taz: Das hört sich nach einer mustergültigen Integration an. Empfindest du das auch so?

Amina: Ich komme zurecht, aber nicht 100 Prozent.

taz: Das heißt, da fehlt noch etwas?

Amina: Ja, obwohl wir inzwischen sogar den deutschen Pass haben …

taz: … ihr seid im März 2025 eingebürgert worden.

Amina: Trotzdem haben wir immer noch das Gefühl, dass wir Fremde in diesem Land sind. Wir erleben immer diese Begrenzung.

taz: Wie äußert sich das?

Amina: Es gibt eine Stimmung, die sagt: Ihr gehört nicht hierher. Viele, die in Deutschland schwarze Haare und dunkle Augen haben, wissen, was ich meine. Berlin ist bestimmt die beste Stadt für Migranten in Deutschland, aber auch hier ist das spürbar. Ich arbeite im Bereich Integration. Das tue ich, weil ich selbst viel Unterstützung bekommen habe. Ich möchte das zurückgeben, indem ich anderen helfe, zurechtzukommen. Aber manchmal frage ich mich: Bin ich selbst hier eigentlich integriert? Deutschland hat viel für uns Syrer gemacht, wir sind dankbar dafür, aber wir haben das Gefühl, nicht mehr willkommen zu sein.

taz: Das ist eine traurige Bilanz. Kennst du Geflüchtete, die nach Syrien zurückgegangen sind? Der Sturz des Diktators Baschar al-Assad ist ja nun ein Jahr her.

Amina: Für die meisten ist das zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Option. Ich kenne Leute, die zu Besuch dort waren, Syrer mit deutschem Pass. Sie wollten zu ihren Eltern. Sie erzählen, dass die Situation dort noch schlimmer ist, als sie sich das vorgestellt hatten. Sicherheit gibt es nur für ausgewählte Gebiete. Die meisten Wohnungen, Schulen und Krankenhäuser sind immer noch zerstört. Die Frauen haben weniger Rechte als früher. Deswegen bleiben viele Syrer hier: Sie wollen in demokratischen Verhältnissen sicher mit ihren Familien leben.

taz: Was bedeutet Syrien für dich?

Amina: Ich habe große Sehnsucht. Meine Familie ist dort, die Familie meines Mannes ist dort. Am liebsten würde ich sofort hinfahren, aber als Kurdin, die kein Kopftuch trägt, ist mir das noch zu gefährlich.

taz: Erzähl uns ein bisschen von dir. Du kommst aus Afrin, der kurdischen Region im Nordwesten Syriens. In was für Verhältnissen bist du aufgewachsen?

Amina: Wir waren weder arm noch reich, Mittelstand, wie viele Syrer vor dem Krieg. Meine Mutter war Hausfrau. Sie konnte weder lesen noch ­schreiben und auch kein Arabisch. Vater hatte bis zur 9. Klasse gelernt, für die damaligen Verhältnisse war das viel. Er hat als Taxifahrer, Buchhalter in einer Ölfirma und in einem Wasserkraftwerk gearbeitet.

taz: War es für deine Eltern selbstverständlich, dass ihre Tochter studiert?

Amina: Ich wurde so behandelt wie meine Brüder. Wir waren drei Mädchen und drei Jungs. Meine Eltern haben uns Mädchen sehr darin unterstützt, unseren eigenen Weg zu gehen. Wir durften nicht ohne Erlaubnis ausgehen, im Unterschied zu anderen Familien gab es bei uns ansonsten aber nur wenig rote Linien. Zu lernen und zu studieren war von Anfang an mein Recht. Ich hatte immer die besten Noten. An der Uni in Aleppo habe ich dann meinen Mann kennengelernt, er war mein Kommilitone im Fachbereich für Landwirtschaftsingenieurwesen.

taz: War es Liebe auf den ersten Blick?

Wird gehütet wie ein Schatz: Schlüsselbund aus Syrien
Amina Naasan

Der Mensch

Amina Naasan wird 1972 in Afrin in der kurdischen Region in Syrien geboren. In Aleppo studiert sie Landwirtschaftsingenieurwesen. An der Uni lernt sie ihren Mann kennen; sie heiraten 2001. Ihre vier Kinder, drei Mädchen und ein Junge, werden 2002, 2004, 2007 und 2014 geboren.

Die Flucht

Wie viele Syrer flüchtet der Ehemann im Sommer 2015 vor dem Krieg nach Deutschland. Das Ziel ist, die Familie schnell nachzuholen. Aber bei seiner Ankunft setzt die Bundesregierung die Familienzusammenführung bis 2018 aus, dann wird sie auf eine Einreise von 1.000 Personen im Monat begrenzt. Am Ende vergehen 3,5 Jahre, bis die Familie in Berlin wieder zusammen ist.

Der Werdegang

Im März 2025 erfolgt die Einbürgerung. Amina arbeitet als Integrationslotsin und Sprachmittlerin. Sie spricht Arabisch, Kurdisch, Englisch und Deutsch. Ihr Mann (54) arbeitet als Schulhausmeister.

Amina: Bei den Feldversuchen hat er für mich die Insekten gesammelt, ich hatte Angst davor (lacht). Im Islam wird erwartet, zu heiraten und eine Familie zu gründen. Selbst wenn man verliebt ist, darf man das in unserer Kultur nicht zeigen. Die Eltern des Mannes gehen zu den Eltern der Frau und halten um die Hand der Tochter an.

taz: Seit 2011 herrschte in Syrien Krieg. Dein Mann hat das Land 2015 verlassen. Was war der Auslöser?

Amina: Er wollte das eigentlich nicht. Es war meine Entscheidung, ich habe ihn dazu gedrängt. Der Krieg wurde immer schlimmer. Wir hatten nicht genug Geld, alles wurde täglich teurer. Ich hatte Angst um meine Kinder, dass sie auf dem Weg zur Schule entführt werden. Mein Mann ist auch einmal entführt worden, von einer radikalen Gruppe.

taz: Wie ging das aus?

Amina: Zwei, drei Tage wurde er gefangengehalten. Wir haben das ganze Geld, das wir in unserem Leben gespart hatten, bezahlt, damit er freikommt. Ich hatte große Angst, dass das meinen Kindern auch passiert oder auch mir. Ich musste für die Arbeit immer mit dem Bus zwischen Afrin und Aleppo pendeln. Das sind nur 60 Kilometer, aber manchmal hat die Fahrt 20, 25 Stunden gedauert. Es gab immer Checkpoints. Man hatte immer Angst, dass man aus dem Bus geholt und entführt wird.

taz: Vor allem du, als Staatsbedienstete?

Amina: Und weil wir Kurden sind. Die radikalen Gruppen meinen, dass wir Kurden unseren Islam nicht richtig praktizieren, weil die Frauen ohne Kopftuch rumlaufen und die Männer manchmal Bier oder Wein trinken. Dennoch hatte mein Mann die Hoffnung nicht aufgegeben, dass sich die Situation politisch wieder bessert. Er wollte seine Familie nicht verlassen. Aber dann haben wir im Fernsehen immer diese Nachrichten gesehen …

taz: … die Bilder von der Begrüßung der Flüchtlinge an den Bahnhöfen in Deutschland?

Amina: Ja, wir hatten das Gefühl, alle Syrer sind willkommen, die Deutschen helfen gerne. Das war ja am Anfang auch so.

taz: Der Fluchtweg deines Mannes führte über die Türkei und Griechenland. Wie hast du das erlebt?

Amina: Ich hatte große Angst um ihn. Ich habe mich auch verantwortlich gefühlt, schuldig. Er ist ja bloß gegangen, weil ich ihn dazu getrieben habe. Ganz schlimm war, als er auf diesem Schlauchboot nach Griechenland war. Die ganze Nacht habe ich geweint. Ich habe befürchtet, dass das Boot kentert und er ertrinkt. Das war die Zeit, in der viele Menschen im Mittelmeer ertrunken sind. Ich habe das Handy nicht losgelassen, bis endlich der Anruf kam: Ich habe es geschafft, ich bin in Griechenland!

taz: In den dreieinhalb Jahren Trennung, wer von euch hatte in dieser Zeit den härteren Part?

Amina Nassan Foto: Maria Sturm

Amina: Normalerweise hat die Frau und Mutter den härteren Part. Aber ich glaube, für meinen Mann war es schwerer. Für ihn war die Umstellung größer. In Syrien war er es gewohnt, arbeiten zu gehen, im Haushalt aber nichts zu machen. Hier in Deutschland musste er Wäsche waschen, putzen, kochen, einkaufen und die Sprache lernen, Arbeit suchen und die Dokumente für unseren Nachzug beschaffen. Aber das meine ich nicht. Er war allein. Ich hatte die Kinder, wir haben uns gegenseitig gewärmt. Mein Mann hat uns sehr vermisst, obwohl in diesem Haus hier …

taz:in dem wir gerade dieses Gespräch führen …

Amina: … sehr nette Menschen leben, die uns wirklich viel geholfen haben. Das war ein großes Glück! Ich erzähle das auch immer bei der Supervision, wenn wir Integrationslotsen über unsere Erfahrungen und unser Leben reden. Auch andere von uns haben einen Fluchthintergrund. Ich bin sehr dankbar dafür! Wenn mein Mann woanders gewohnt hätte, wäre es für ihn noch viel, viel schwieriger gewesen. Auch für uns, auch für mich und die Kinder. Wir sind ja direkt hier zu euch in dieses Haus gekommen – bis wir eine eigene Wohnung hatten.

taz: Dein Mann hatte dir in Deutschland viele Jahre voraus. Warst du besorgt, dass er fortan alles bestimmt?

Amina: Nein, ich habe genug Selbstvertrauen und mein Mann ist zu Hause kein Diktator, normalerweise (lacht), auch wenn er sich, wie viele syrische Männer, für den König der Familie hält. Er ist nicht der typische Macho, er respektiert mich. Er weiß, dass seine Frau ihren eigenen Kopf hat, wir aber über alles reden können.

taz: So war es die ganze Zeit?

Amina: Ja. Mein Mann hat uns täglich angerufen. Zwei, drei Stunden haben wir immer telefoniert über Whatsapp oder Messenger. Die ganzen dreieinhalb Jahre. Wir haben alle Details unseres Lebens geteilt – von seinem in Deutschland und von unserem in Syrien. Es gab Zeiten, in denen wir uns angeschrien haben, aus lauter Verzweiflung. Aber wir haben nie aufgegeben, wir haben immer Kontakt gehalten. Ich glaube, sonst würde unsere Beziehung heute nicht mehr existieren.

taz: Wenn du ein Fazit ziehen müsstest – wie würde das lauten? Hast du mehr verloren oder mehr gewonnen?

Amina: Ich habe vorhin von meinen zwiespältigen Gefühlen erzählt. Aber am Ende haben wir natürlich mehr gewonnen. Auf alle Fälle, ja! Meine Kinder leben alle noch, sie lernen und sie studieren. In Syrien wäre das nicht möglich gewesen. Es geht ihnen gut, sie sind in Deutschland innerlich angekommen. Auch mein Mann empfindet das so. Ich werde wohl noch ein bisschen brauchen. Aber mein Selbstvertrauen gibt mir Kraft.

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