Folgen des Kriegs in Syrien: Die versteckte Gefahr
In Syrien sind die Spuren des Konflikts in den Städten noch sichtbar. Doch gefährlicher sind seine unsichtbaren Hinterlassenschaften.
W enn Hassan sich bereit macht, auf das Minenfeld zu gehen, denkt er nicht an das, was passieren könnte, falls sein Auge das metallische Glimmern des hervortretenden Zünders einer nicht detonierten Streubombe übersieht. Er denkt nicht an die Blindgänger, die sich unter seinen Füßen verstecken.
Wenn Hassan sich die blaue, vier Kilogramm schwere Weste überstreift, sein Teammitglied die Gurte hinter seinem Rücken überkreuzt und die Schnallen verschließt, hat er keine Angst. Er denkt an seine fünf Kinder. Wie sie rennen, straucheln könnten über einen jener Zünder, beim Wandern, beim Spielen. Wie sie Gliedmaßen verlieren könnten, einen Fuß, ein Bein. Ihr Leben. Und daran, dass er lebend zu ihnen zurückkehren will.
Wenn Hassan und die anderen vier Mitglieder seines Minenräumungsteams sich in einer Reihe aufstellen und das ihnen zugeteilte Rechteck durchkämmen, denken sie nicht an die Gefahr.
Doch die Gefahr lauert unter der Erde. „Du kannst diesen Job nicht machen, wenn du Angst hast“, sagt Hassan in dem Zelt, gut 200 Meter von der Suchstelle entfernt, das als Erholungsoase zwischen den Schichten gilt, den weißen Helm gelassen unter die Achsel geklemmt.
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Ein riskanter Job
Wenn er auf das Minenfeld geht und dort mit langsamen Schritten, die Augen fest auf den Boden gerichtet, nach Minen sucht, unter dem Visier, das die Augen schützt, doch die Sicht erschwert, ist Hassan dann nur eines: konzentriert.
Hassan, ein robuster Mann mit schwarzem Haar, markanten Augenbrauen und nachdenklichem Blick, der nicht will, dass sein ganzer Name in der Zeitung steht, sucht seit Oktober 2019 Blindgänger im Boden Rojavas. „Ich will meinen Leuten helfen“, sagt der 48-Jährige. Früher war er Bauer, also jemand, der einem hohen Risiko durch nicht detonierte Minen ausgesetzt ist. Jetzt ist er Kampfmittelbeseitiger, auch ein riskanter Job, aber ein gut entlohnter. 800 Dollar im Monat. Und er ist erfolgreich: 38 Sprengkörper hat er allein auf diesem Feld gefunden.
Hassan spricht langsam, er sieht müde aus vom Einsatz. Die erste Schicht dauert etwa 45 Minuten, heute bei 28 Grad und einer gnadenlosen Sonne. Das Feld, ein ehemaliger Fliegerhorst für Helikopter, 8 Kilometer südlich von Tabqa in Nordsyrien, der 2014 zum Schauplatz einer brutalen Schlacht zwischen Kämpfern des Islamischen Staats und syrischen Streitkräften wurde, ist reine Erde und Schotter und ausgedorrtes Gestrüpp, kein Baum in Sicht. Schon nach 15 Minuten klebt der Schweiß unter dem Helm und dem hellblauen Overall, unter dem Visier sehen die Objekte etwas verzerrt aus.
Auf dem Feld liegen Steine, weiße und rote. Die weißen bedeuten Sicherheit, die roten Gefahr. Der Mann mit dem Metalldetektor hebt die Arme in die Luft, er hat etwas gefunden. Diesmal ist es nur eine leere Patrone, Entwarnung.
Hassan und sein Team laufen jetzt das Feld auf und ab, suchen nach Anomalien, Abweichungen von der Norm, von dem, was auf einem ausgetrockneten Feld zu erwarten wäre. Ihre einzige Waffe im Kampf gegen die Waffen ist das Auge.
Hassan und sein Team gehören einer internationalen NGO an, Handicap International (HI), die sich der Minenräumung und Hilfe für Minenopfer widmet. In Syrien arbeiten sie an verschiedenen Orten, die während des 14-jährigen Bürgerkriegs besonders heftig unter Beschuss kamen. Von diesen Bomben und Minen, die Russland, Israel, Assad und die Rebellen abfeuerten oder unter die Erde legten, stellen die nicht explodierten noch eine große Gefahr dar. Kaum eine Woche vergeht ohne Meldung, dass ein Kind oder ein Erwachsener versehentlich darauf getreten und verletzt oder gar tot ist.
Hassan und sein Team sind Einheimische, einige ziehen seit Jahren Minen, Bomben und Patronen aus dem Boden. Von Hand. Maschinen sind teuer, besonders deren Instandhaltung. Meistens finden sie Streubomben und Streumunition, die in 112 Ländern verboten sind, teilweise Antipersonenminen, die aus 165 Ländern verbannt sind, weil sie beim Menschen solche Schäden anrichten, dass sie sogar für den Krieg zu grausam sind.
„Der Wichtigste ist der Mann hinten, der Geschwindigkeit und Aufstellung kontrolliert“, sagt David Francis, der in seinem Leben Sprengkörper auf vier Kontinenten entschärft hat. Francis, Ex-Militär, Khakihose, Baseballcap und britischer Akzent, überwacht die Arbeit. Er könnte jetzt überall sein, und doch ist er hier. Auf einem verminten Feld in Syrien. „Ich weiß, dass es ein riskanter Job ist. Aber es ist auch ein sehr befriedigender. Ich wollte schon immer helfen“, sagt er.
Er warnt: Diese Dinger seien mit einem einzigen Ziel gebaut worden – dich zu töten. Zeit mache sie nicht weniger gefährlich. Während ein Teammitglied mir die Weste zuschließt, horcht Francis auf. „Oh, warte!“, sagt er und legt eine Aderpresse in meine Vordertasche. Eine Binde, die bei Verlust von Gliedmaßen die Blutung stoppen kann. Das nächste Krankenhaus liegt 20 Minuten Autofahrt entfernt.
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Nachdem das Team, das jetzt etwa 50 bis 100 Meter von uns entfernt läuft, die Inspektion beendet hat, ist es an der Zeit, die Funde zu entschärfen. Nicht die kleine Patrone, die ist harmlos, doch die russische Bombe von gestern. Eingegraben in der Erde liegt der ovale, silberne Sprengkörper. AO-2.5 RT/RTM, 15 Zentimeter lang, teilt sich beim Fall in zwei Hälften und detoniert in hunderte Bruchstücke, die Menschen in einem Umkreis von 20 Metern töten können.
Die Blindgänger werden vor Ort gesprengt, wenn es zu riskant ist, sie aus dem Boden zu heben. Eine falsche Bewegung, eine falsche Berührung könnte eine Detonation auslösen, die im besten Fall Gliedmaßen und im schlimmsten Fall Leben mit sich reißt. So liegen jetzt weiße Sandsäcke um die russische Bombe herum. Ein einzelner Mann steht mitten auf dem Feld, verschränkt die Hände hoch in der Luft, das bedeutet: Kreuzt die Drähte, hier ist alles bereit. Der Kollege neben der Fernbedienung checkt die Schaltung.
Eigentlich wird der Sprengkörper nicht gesprengt, sondern von innen heraus verbrannt. Ein heißer Strahl bohrt ein Loch 60 Millimeter tief in die äußere Hülle und verbrennt den Sprengstoff. Eine kleine, kontrollierte Explosion. Und diese soll ich jetzt einleiten.
Der Kontrollkasten, eine schwarze Plastikbox, aus der zwei Stromkabel herausragen, die dann in der Lanze münden, hat zwei Kontrollleuchter und zwei graue Knöpfe. Zuerst drückt man den unteren, dann wartet man auf das rote Licht. Dann drückt man den oberen. Grünes Licht blinkt, los.
Alle Männer haben sich in sichere Entfernung zurückgezogen.
Drücken, warten. Rot.
Drücken, warten. Grün.
Nichts.
Mist!
Spannung auf den Gesichtern. Wenn die Sprengung versagt, müssen sich die Männer der nicht explodierten Bombe nähern, das will keiner. Die Gefahr einer Verletzung ist dann sehr hoch.
Hassan, Kampfmittelbeseitiger
Warten. Jetzt hebt sich eine weiße Rauchwolke aus den Sandsäcken, orangefarbene Flammen flackern in der Entfernung.
Bumm!
Erde wird neben der Bombe in die Luft geschleudert. Jubelschreie, Erleichterung auf den Gesichtern. Wir warten noch, dann wird jemand die Reste aufsammeln. Unsere Arbeit hier ist zu Ende.
In dem weißen Kombiwagen unterhalten sich nun Francis und die anderen über Räumungstechniken, Risiken und Möglichkeiten. Sie sprechen über ein virales Video des Beduinen, der mit einem Stock Landminen im Sand aufspürt und hochflippen lässt. Das sei ein riskantes Vorgehen, erklärt Francis. Es könnte sich eine andere Mine unter der ersten befinden. Francis ist Lehrer, bildet die Teams weiter aus. Schon denkt er darüber nach, wie er die leere Patrone, die das Team heute gefunden hat, beim nächsten Unterricht einsetzen kann.
Der Wagen holpert auf dem Schotterweg, der Fahrer starrt konzentriert aufs Lenkrad, korrigiert den Kurs leicht nach links, dann nach rechts. Staubwolken wirbeln vor uns auf. „Wir finden gerade viel russische Streumunition, gerade außerhalb der Stadt. Oft sammeln Kinder sie auf“, sagt Francis.
155 Geschosse habe er einmal auf einem Schrottplatz entdeckt. Teilweise weigerten sich die Menschen, die Munition auf ihren Grundstücken sprengen zu lassen – wohl aus Angst, die Nachbarn dächten, sie seien Kämpfer. Oder aus Unwissenheit.
Erst gestern wollte eine Frau Munition verbrennen, die ihre Kinder aus einer benachbarten Müllhalde nach Hause gebracht hatten. Ein Glück, dass der Ehemann die Gefahr rechtzeitig erkannte und das Beseitigungsteam alarmierte.
Hinterm Haus die Mülldeponie
Heute stehen Francis und sein Team wieder bei der Frau und ihrem Mann, der gerade das Treiben vor seinem Haus beobachtet. Das Haus ist bloß ein Raum aus Lehm und sticht doch aus den Baracken drumherum hervor, einem Ozean aus Stofffetzen, Schichtholz und am Boden befestigten Plastikplanen.
Das Gelände ist ein inoffizielles Flüchtlingslager. Sahlet al-Banat Camp, östlich von Raqqa. Hier leben Hunderte geflüchtete Familien, etwa 6.000 Menschen nach jüngsten Schätzungen, viele davon Kinder. Nicht wenige kommen aus der Gegend um Deir al-Sor, Ex-IS-Gebiet im Osten.
So wie der Ehemann der Frau, Abdallah Jasin.
Jasin trägt die grauen Haare offen unter einem roten Turban, den ergrauenden Bart unrasiert über die Wangen. Er steht lächelnd in Jeans und Flip-Flops auf seinem Hof, hinter ihm trocknen Kinderklamotten an einem Seil unter der Sonne, das jemand an zwei abgemagerten Bäumen befestigt hat. Etwas weiter liegen kleine Berge von Schrott, meistens Metall und Autoreifen. Ein Hund, das Fell so grau wie der Müll, neben dem er liegt, döst in der Hitze.
Hinter Jasins Haus beginnt die Mülldeponie, eine scheinbar endlose Weite von Abfallresten, die unter der Sonne rotten, zwischen Pfützen aus fauligem Wasser. Ein Geruch von langsam zerfallendem Müll und Benzin schwebt über dem öden Gelände, auf dem Kinder herumrennen. In Schwarz voll verschleierte Frauen wandern entlang der Hauptstraße. Plastikflaschen, Schrotthaufen, Matratzen und alte Kühlschränke liegen am Straßenrand.
Jasin zog vor sechs Jahren mit der Familie hierher, aus einem Dorf mitten in der Wüste. Zurück will er nicht. Weil er in der Armee war und desertierte und jetzt eine Verhaftung fürchtet. Und weil er hier im Camp einen guten Job hat. „Gut“ ist aus westlicher Sicht übertrieben, aber zumindest ist es einer. Er verkauft wiederverwertbare Stoffe, die er auf der Deponie findet.
Vor der Haustür stapeln sich Spielzeuge, ein verstaubtes Dreirad liegt in der Ecke. Es ist Dienstag, 12:50 Uhr, doch die Kinder sind nicht in der Schule, sondern sitzen im Halbkreis vor einem aufgehängten braunen Stoff, der als Zelt gilt. Vor ihnen steht eine junge Frau in pinkem Jackett und Jeans, die Sonnenbrille über dem weißen Kopftuch, und deutet auf die Folie, die von einem Flipchart hängt. „Wie heißen diese?“, fragt sie in die Runde. Alle Kinder heben die Hand, einer antwortet. Munition ist das, in Comics eingebettet und kindgerecht. „Und was machen wir dann?“
Es ist ein informeller Unterricht, direkt vor Jasins Haus. Die NGO Handicap International hat ihn organisiert, nachdem Jasins Kinder die Projektile mit nach Hause genommen haben und Jasins Frau sie beinahe angezündet hätte. Als Ex-Soldat hat er die Gefahr rechtzeitig erkannt, ein Glück. Es hätte schlimm ausgehen können.
Laut der NGO Halo Trust, die sich weltweit mit Minenräumung beschäftigt, sind seit dem Fall des Regimes mehr als 1.000 Zivilist*innen in Syrien durch Blindgänger verletzt oder getötet worden, im Schnitt also 160 pro Monat. Ein Drittel davon Kinder. Daher der Unterricht heute. Damit die Jüngeren den Umgang lernen, wenn sie mal eine Landmine ausgraben. Denn dies ist keine Frage des Ob, sondern des Wann.
Am Auge verletzt
15 Kinder sitzen auf dem Boden, drei weitere schauen neugierig hinter dem Vorhang hervor. Fliegen setzen sich auf die verschwitzte Haut. Jasin blickt zufrieden auf die Kleinen, die wie gebannt auf die junge Frau starren. Yeter, die Lehrerin, erläutert ihnen, wie sie sich zu verhalten haben, wenn sie auf alte Waffen stoßen – nicht anfassen, Erwachsene rufen. Ein Mädchen im Grundschulalter mit lockigen, strubbeligen Haaren erzählt mit heller Stimme, ihr Onkel sei durch eine Explosion am Auge verletzt worden.
Viele Jugendliche streifen durch die Deponie und verkaufen das Metall und Plastik, das sie finden. Teilweise auch Munition. Die Deponie ist Haupteinnahmequelle für die Geflüchteten hier. Im Camp mangelt es an allem: sauberem Wasser, Strom. Einige Bewohner*innen haben sich Solarpanels gekauft, NGOs helfen mit Sanitäranlagen, doch die Grundinfrastruktur fehlt. Einige dieser Kinder sind hier geboren, von der Welt haben sie nur das Zeltlager und diese Müllhalde gesehen.
„Manche Leute hier sagen, das Leben unter dem IS war schlecht, weil sie Menschen enthauptet haben. Aber sie haben fünf Kilo Fleisch gekauft, die Leute jetzt eins“, erzählt Francis mit einem bitteren Lächeln in dem Kombiwagen, auf der Rückfahrt vom Camp.
Der Veteran blickt durch die Sonnenbrille aus dem Fenster, auf die öde, faul riechende Fläche, die braune Kefija um den Hals. Er deutet auf eine Gruppe verschleierter Frauen, die am Straßenrand wartet. Unklar ist, ob sie Tagelöhner*innen sind oder auf eine Fahrtmöglichkeit in die Stadt warten. Die Wirtschaft hat in der Region stark gelitten, nicht nur im Flüchtlingscamp sind die Lebensbedingungen harsch.
Raqqa, die ehemalige Hauptstadt des IS-Kalifats, 220.000 Einwohner*innen bei der letzten Volkszählung vor 20 Jahren, hat die Narben des Konflikts inzwischen gut kaschiert. Neue, einigermaßen glänzende Gebäude entstehen gerade, ihre Säulen aus Zement ragen wie Skelette in den Himmel. Neonlichter erhellen die Nacht.
Doch immer wieder sieht man hinter vergessenen Ecken Überbleibsel einer nicht zu fernen Vergangenheit. Trümmer, die zwischen dem Müll noch auf dem Boden liegen. Verstaubte, verrostete Rollläden, die seit Jahren niemand renoviert hat. Zerbombte Wände, durchlöcherte Mauern. Frauen, die vollverschleiert entlang der staubigen Gassen schlendern. Teenager, die neben Reihen von gelblich gefüllten Kanistern am Straßenrand auf Kund*innen warten. Tankstellen gibt es hier nicht.
So wie die Stadt zeigt auch das staatliche Krankenhaus die Spuren des Kriegs. Die Klinik, ein runder Bau aus nackten Ziegeln und durchsiebten Mauern, wurde mindestens dreimal von Raketen getroffen. Drinnen reihen sich Tragen entlang der Wände, von denen der Putz teilweise abgeblättert ist. In der Luft hängt ein Geruch von Urin und Desinfektionsmittel.
24 Stufen sind es bis zum Rehabilitationszentrum im Untergeschoss. Für diejenigen, die sie hinuntergehen können. Für die anderen steht ein Fahrstuhl in der Ecke. Etwa für Ibrahim, der eigentlich anders heißt, und auf einer Trage im Behandlungsraum liegt. Er schaut weg, irgendwo auf die Wand, auf einen Punkt oder einen Ort, der sich ganz klar nicht in diesem Raum befindet. Er schweigt.
Vor einer Woche trat er auf eine Landmine
Ibrahims Bein endet kurz unter dem Knie und ist in einen weißen, sterilen Verband eingehüllt. Sein Bruder erzählt seine Geschichte, da Ibrahim nicht dazu in der Lage ist.
Ibrahim, 22 Jahre alt, sportliche Figur in gelbem T-Shirt und hellblauen Shorts, eine Infusionsnadel an der Hand und eine OP-Maske auf dem Mund, ist vor einer Woche auf eine Landmine getreten. In Raqqas Umland, als er mit einem Freund dessen verlassenes Haus besuchen wollte. Er habe die Mine beim Betreten des Gebäudes nicht gesehen. Nach der Operation hat man ihn hier hergeschickt, um die Rehabilitation zu starten. Nur die erste Etappe eines langen Wegs.
Ibrahim hat ab und zu noch Schmerzen, die seelischen sind noch stärker als die körperlichen. Vor dem Unfall spielte er gern Fußball, arbeitete als Bauer auf den Feldern. Jetzt ist alles auf Halt, er muss mit Physio- und Psychotherapie anfangen. Es geht nun darum, selbstständig aus dem Rollstuhl aufzustehen. Wie lange es bis dahin dauert, das weiß noch keiner.
Jemand, der hingegen die 24 Stufen ins Rehazentrum schon hinabsteigen kann, wenn er will, ist Ahmed Haj Khalaf. Khalaf ist heute 18 Jahre alt. Als er zehn war, schlenderte er entlang der Straße. Jemand schrie, daran erinnert er sich noch. Doch er verstand die Worte nicht. Dann explodierte der Boden unter Khalafs Füßen. Unter seinem rechten Fuß, um genauer zu sein.
Khalaf erinnert sich daran, dass ein Nachbar ihn vom Boden hob und ins Krankenhaus brachte. Schmerz verspürte er nicht, verlor aber seinen rechten Unterschenkel. Und damit auch vieles von dem, was er liebte. Tennis, Fußball, mit Freunden abhängen. Er verließ die Schule.
Doch dann ändert sich etwas. Akzeptanz, vor allem. Dass nichts mehr so wie früher sein könnte, dafür anders. Er bekam eine Prothese, entwickelte eine Leidenschaft fürs Malen. Heute arbeitet Khalaf in einem Restaurant. Auf den Füßen fast den ganzen Tag, teilweise hat er Schmerzen. Die Arbeit im Restaurant, an den Tischen, ist hart auf der Prothese. Gern möchte er den Beruf wechseln, aber wer könnte ihn ohne Bein aufnehmen? Ein Bürojob vielleicht – ohne Schulabschluss?
Die Behandlung ist kostenlos
Inzwischen ist Khalaf fast jede Woche im Rehabilitationszentrum, er kennt die Namen aller, sogar der Putzfrau. Das sagt eine Mitarbeiterin und lächelt. Khalaf, in Trainingsschuhen und Hosen, die schwarzen Haare nach oben gegelt, stellt sich auf das Metallbein, steigt aufs graue Podest, stützt sich dann an die Parallelstangen und beginnt seine Übungen.
Die Behandlungen sind hier kostenlos. Im Nebenraum misst gerade ein Mann in hellblauem Schutzanzug einen Beinstumpf aus Gips. Eine Frau mit Kopftuch und Schutzuniform schneidet einen Schaft aus Harz in Hautfarbe. Laminierung heißt der Prozess. Silikonfutter kommt auch noch dazu. Dann das Metallbein und der Fuß. Erst dann beginnt das Training.
Zwei Jahre sollte eine Prothese halten, 600 US-Dollar kostet sie. Hinzu kommt die Physiotherapie. Ein Team von Therapeut*innen fährt für die Behandlungen täglich in vier Dörfer, in denen Amputierte leben. Und dann gibt es die Psychotherapie, nötig bei allen, die einen Arm oder Bein verloren haben, aber nur zögerlich in Anspruch genommen, weil sie noch immer stigmatisiert wird.
Es sind hohe Kosten, die der Konflikt selbst Jahre nach seinem Ende fordert. Menschliche Kosten, finanzielle noch dazu. Wer keine NGO findet, der sie übernimmt, wer sie sich nicht leisten kann, muss ein Leben im Schatten führen.
Jahrzehnte kann es dauern, bis alle nicht detonierten Sprengkörper beseitigt sind. In Deutschland finden Kampfmittelräumer*innen immer noch Bomben aus dem Zweiten Weltkrieg, der nun 80 Jahre zurückliegt.
Laut den Vereinten Nationen hat man zwischen Dezember und Februar 2025 im nördlichen Syrien mehr als 1.400 Blindgänger beseitigt. Die Finanzierung ihrer Entfernung sei wichtig, sagt Francis – aber auch die medizinische Ausstattung in den Kliniken. Und zügige Prozesse, weniger Bürokratie.
Es ist Nachmittag. Hassan und sein Team werden schon längst fertig sein mit ihrer Arbeit, die schweren Schutzwesten und -helme abgestreift haben, zurück aus dem verminten Gefechtsfeld mitten im Nichts. Nach Hause, zu den Kindern, den Familien. Yeter und ihre Kolleg*innen werden den Unterricht bereits beendet haben, die Kinder werden zurückgekehrt sein in ihre Zelte und manche von ihnen auf die Müllhalde. Im Rehazentrum arbeiten die Therapeut*innen hingegen noch einigen Stunden mit den Patienten, um sie wieder auf die Beine zu kriegen.
Der Kombiwagen mit Francis und seinen Kollegen steuert langsam in die engeren Gassen von Raqqa, biegt in einen Schotterweg ein, zwischen Bauschutt und einem verlassenen Bus, zurück in das von Mauern umgebene Gebäude, das als Zentrale und Gästehaus des Teams dient. Eine gut ausgestattete Küche und der Geruch von Kaffee warten auf die ausländischen Mitarbeiter*innen, die kein Zuhause und keine Familie in Syrien haben.
Noch monatelang wird Veteran Francis in Syrien bleiben und Menschen wie Hassan ausbilden, die jeden Tag ihr Leben für ihr Land riskieren. Um es wieder bewohnbar zu machen, um die Spuren des Kriegs zu beseitigen. Für die Kinder der anderen. Für die eigenen.
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