Antje Boetius über Tiefsee: „Es gibt Methoden, das Unbekannte zu quantifizieren“
Beim kommerziellen Tiefseebergbau seien wichtige Fragen ungeklärt, warnt die Tiefseeforscherin Antje Boetius.
taz: Die Barbie-Firma Mattel hat extra für Sie eine Boetius-Barbie entworfen. Ist die mit Ihnen nach Kalifornien gereist?
Antje Boetius: Nicht nur diese Polar-Barbie. Es gibt ja mehrere Barbies, die forschen, tauchen, schnorcheln und am Strand Müll sammeln. Die stehen alle hier in meiner Bibliothek.
Die deutsche Tiefseeforscherin ist seit Mai 2025 Präsidentin des Monterey Bay Aquarium Research Institute (MBARI) in Kalifornien. Für ihre Forschung zu mariner Mikrobiologie, zu Polarregionen und Tiefseetechnologien wurde Boetius vielfach ausgezeichnet.
taz: Sie arbeiten am Monterey Bay Aquarium Research Institute (MBARI) an der Pazifikküste in Zentralkalifornien. Das Institut ist berühmt für seine Robotikforschung. Warum sind Roboter für die Meeresforschung so wichtig?
Boetius: Weil man damit schneller zu Wissen kommt und auch überhaupt irgendwohin. Die Ozeanfläche ist riesig, und es gibt nur wenige Forschungsschiffe. Besonders Tiefseeroboter mit bildgebenden Verfahren machen laufend große Fortschritte. Und die Unterwasserfahrzeuge messen nicht nur, sie senden Videos von bisher unbekannten Tierarten. Mit dem Fahrzeug wurde zum Beispiel gerade der bucklige Schneckenfisch entdeckt.
taz: Es gibt eine Aussage, die man immer wieder hört: Der Ozean muss geschützt werden vor Ausbeutung wie dem Tiefseebergbau, weil wir 90 Prozent der Arten darin noch nicht kennen. Wie kann man das behaupten, wenn riesige Bereiche der Tiefsee noch gar nicht erforscht sind?
Boetius: Es gibt Methoden, das Unbekannte zu quantifizieren. Sie fahren irgendwo hin, nehmen eine Probe, sequenzieren sie, dann wissen Sie, was da lebt und auch, wie viele Tiere oder Bakterien noch nicht bekannt waren. Dann wiederholen Sie die Messung in 100 Metern Entfernung, 10 Kilometern, 100 Kilometern und so weiter, und schauen, wie viele neue Arten jedes Mal dazukommen. Mit diesen Methoden lässt sich hochrechnen, wie viel unbekanntes Leben es gibt. Die Zahl ist riesig: Wir gehen von Millionen von Arten aus.
taz: Im Juni gab es einen Durchbruch beim internationalen Hochseeschutzabkommen (BBNJ). Es wurde von über 60 Ländern ratifiziert und kann Mitte Januar in Kraft treten. Deutschland hat es bisher nicht ratifiziert, es wurden diese Woche gerade mal die notwendigen Gesetzentwürfe vom Kabinett beschlossen. Können Sie sich das erklären?
Boetius: Ja, eine solche Ratifizierung ist bei uns ein langer Prozess, der viele Stationen durchlaufen muss: Bundestag, Bundesrat, Bundespräsident. Deutschland wird dennoch kräftig mithelfen. Es wird noch dauern, bis das alles zu konkretem Schutz der Tiefsee führt, aber dieses Abkommen schließt eine Lücke. Denn mit dem Hochseeschutzabkommen haben wir uns als Menschheit darauf geeinigt, dass das Leben im Ozean selbst ein riesiger Schatz ist, und dass wir lernen wollen, darauf aufzupassen. Das ist ein großer Fortschritt.
taz: Gleichzeitig hat man es auf der Konferenz der Meeresbodenbehörde ISA in diesem Sommer nicht geschafft, sich auf einen Kodex für den Tiefseebergbau zu einigen. Der Kodex hätte die kommerzielle Ausbeutung mineralischer Ressourcen in der internationalen Tiefsee geregelt. Das passt nicht zusammen mit dem BBNJ.
Boetius: Der Kodex muss viele Faktoren abdecken, da bleibt es kompliziert, sich international zu einigen. Mit dem BBNJ wird die Aufgabe verstärkt, Regeln zu finden, wie man die Tiefsee schützen und gleichzeitig nutzen kann. Eins ist klar: Tiefseebergbau würde wie der Bergbau an Land auch immer Schaden anrichten. Es geht darum, keine irreparablen Schäden wie den Verlust von Arten hinzunehmen. An Land wissen wir, wie man eine Bergbaulandschaft heilt, und wie lange das dauert. Am Meeresboden wissen wir das noch nicht. Da sind die einfachsten Fragen nicht geklärt. Könnte die Schlammwolke, die sich beim Abbau von Manganknollen verteilt, anderswo den Fischfang beeinträchtigen? Wie lange braucht es, bis sich ein Gebiet erholt, auf dem man Knollen geerntet hat, die zwei Millionen Jahre gewachsen sind? Da fehlt noch viel Forschung und viel Regulierung, und das müssen die beteiligten Nationen einschließlich ihrer Industrien aushandeln.
taz: Welche Konsequenzen hat es, dass dieser Kodex nicht vereinbart wird?
Boetius: Dass sich der Bergbau in nationale Gewässer verlagert. Zum Beispiel in Norwegen gibt es Diskussionen um den Abbau von seltenen Metallen im Nordmeer. Und es laufen Erkundungen im Südpazifik, bei Nauru, den Cook-Inseln, Samoa oder den Marshall-Inseln. Gerade Insel-Regierungen wollen wissen, welche Schätze sich am Meeresboden befinden. Sie möchten sich nicht von anderen reinreden lassen, sondern direkt mit Investoren Deals machen. Die USA haben derzeit die Nationale Ozean und Atmosphärenbehörde (NOAA) beauftragt, Meeresbodenkarten anzufertigen und über den Bergbau zu beraten. Es soll eine neue Abschätzung der möglichen Gewinne und Verluste geben. Dabei ist die Entsorgung der giftigen Schlämme nach Extraktion der Wertstoffe noch gar nicht geklärt.
taz: Sie wirken sehr geduldig angesichts der Dringlichkeit dieser Fragen.
Boetius: Es ist wie bei allen Konflikten um Ressourcen, und es können auch Lösungen gefunden werden. In Norwegen hatte die Regierung 2024 geplant, Bodenschätze kommerziell in der norwegischen Tiefsee abzubauen. Dann hat die Bevölkerung protestiert und diese Pläne wurden für ungewisse Zeit gestoppt. Denn es gibt grundsätzliche Fragen: Gibt es überhaupt ein Geschäftsmodell für den Tiefseebergbau? Warum sind wir abhängig von diesen Metallen? Brauchen wir die in Zukunft, oder können andere Materialien genutzt werden?
taz: Haben wir so viel Zeit? Nicht nur der Bergbau, auch der Klimawandel gefährdet das Leben im Ozean.
Boetius: Bei mehr als 200 verschiedenen Nationen und den unterschiedlichsten Regierungen treffen sehr viele verschiedene Konzepte darüber aufeinander, was Sicherheit und Wohlstand eigentlich sind, und inwiefern auch kommende Generationen berücksichtigt werden. Um eine Einigung hinzubekommen, braucht es Abkommen wie die der Vereinten Nationen oder den Antarktischen Vertrag. Ich finde es schade, dass Aushandlungsprozesse wie die der Klimakonferenz oft so negativ dargestellt werden. Wie soll es Menschheitsfortschritt geben, wenn nicht durch internationale Verträge?
taz: Auf der anderen Seite betonen Sie als bekannte Tiefseeforscherin immer wieder, wie viel wir gerade verlieren durch unsere Lebensweise.
Boetius: Die Wissenschaft wird immer vor gesellschaftlichen Risiken warnen, aber auch zu Lösungen beitragen. Und ja, wir messen, wie schnell das Meereis schmilzt und die Korallenriffe ausbleichen. Es gibt riesige Verluste in der Natur. Das ist ungerecht gegenüber denjenigen, die das weder verursachen noch das Konzept teilen, dass die Natur uns untertan wäre. Es gibt sehr altes Kulturwissen, dem zufolge wir Teil eines ewigen Kreislaufs sind und unser Überleben davon abhängt, im Gleichgewicht mit den Elementen der Natur zu sein. Es ist auch möglich und notwendig, dieses Gleichgewicht mit Hightech-Lösungen zu erreichen.
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