: „Es geht jetzt um das Streben nach Gerechtigkeit“
Die größte Herausforderung in Syrien sei das friedliche Zusammenleben der Menschen, sagt Yara Badr, syrische Journalistin und Menschenrechtsaktivistin: „Wir müssen an einer nationalen Identität arbeiten“
Interview Julia Völcker
taz Panter Stiftung: Frau Badr, was sind die größten Errungenschaften in Syrien seit dem Sturz des Assad-Regimes?
Yara Badr: Der größte und glücklichste Moment überhaupt war die Öffnung der Gefängnisse. Mein Vater wurde 1986 verhaftet und war 12 Jahre lang politischer Gefangener. Als Kind besuchte ich ihn regelmäßig im Sednaya-Gefängnis (Syriens schlimmster Folterkerker; d. Red.), ich kenne dieses Gefängnis sehr gut. Ich werde niemals den frühen Morgen des 8. Dezember 2024 vergessen, als mich die Nachricht vom endgültigen Sturz des Assad-Regimes erreichte.
Wo sehen Sie heute die größten Probleme im Land?
Die politische Situation im Land ist gerade alles andere als perfekt. Wir haben viele Sorgen, die Zukunft ist unklar. Die größte Herausforderung aber besteht im Zusammenleben der Menschen. Wir müssen einen Weg finden, wieder als Gemeinschaft in Harmonie zu leben. Es gibt so viel Leid, so viel Blut. Es gibt so viel Wut. Wir müssen an einer nationalen Identität arbeiten, statt uns auf kleinere Identitäten zu konzentrieren, denen sich derzeit viele zuwenden.
Das bringt mich zu meiner nächsten Frage. Jahrzehntelang hat das Assad-Regime die Spaltung der Gesellschaft vorangetrieben. Wie steht es um die Versöhnung im Land?
Niemand in Syrien verwendet den Begriff „Versöhnung“.
Nein?
Wir sprechen lieber von Gerechtigkeit. Es redet auch niemand von der „Aufarbeitung der Vergangenheit“, denn die Menschen haben noch nicht mal die Leichen ihrer Angehörigen zurückerhalten. Es geht jetzt um das Streben nach Gerechtigkeit. Syrische Menschenrechtsverteidiger und Anwälte haben hinsichtlich der universellen Gerichtsbarkeit großartige Arbeit geleistet. Es gab zuletzt viele Gerichtsverfahren gegen Menschen, die in den letzten 14 Jahren schwere Verbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben. Das Verständnis für verschiedene Wege, Gerechtigkeit zu schaffen, und dafür, wie wir sicherstellen können, dass sich das Geschehene nicht wiederholt, ist sehr ausgeprägt. Auch die syrische Zivilgesellschaft hat sich sehr stark für die Gründung und Etablierung von Verbänden für Überlebende und Angehörige von Opfern eingesetzt. Im Frühjahr 2023 erreichten sie sogar eine UN-Resolution zur Einrichtung eines Sonderausschusses für vermisste Menschen.
Auch zwei Nationale Kommissionen wurden eingerichtet.
Eine ist die Nationale Kommission für Vermisste. Diese arbeitet schnell, denn jeder, unabhängig von seiner politischen Meinung, gesellschaftlichen Position oder seinem Wohnort, möchte wissen, wo sich seine Angehörigen befinden. Die zweite ist die Nationale Kommission für Übergangsjustiz.
Wie laufen die Dinge dort?
Yara Badr
ist eine syrische Journalistin und Menschenrechtsaktivistin, die das Syrische Zentrum für Medien und Meinungsfreiheit leitet. Ihr Einsatz für Menschenrechte und syrische Gefangene wurde mehrfach international ausgezeichnet. Badr lebt in Paris.
Hier geht es langsamer voran, weil es sich eben um ein sehr sensibles Thema handelt. Wenn man Gerechtigkeit sucht, sollte es gewissermaßen Gerechtigkeit für alle Bürger sein. Man kann keine „positive Diskriminierung“ für dieses oder jenes Opfer vornehmen. Und natürlich kann es nicht nur um strafrechtliche Gerechtigkeit gehen. Gerechtigkeit beginnt auch damit, dass man Verbrechen zugibt und dass Täter verstehen, welches Verbrechen sie begangen haben. Außerdem gibt es im syrischen Strafgesetzbuch die Todesstrafe, die von der mehrheitlich islamischen Gesellschaft akzeptiert wird. Um eine Übergangsjustiz gemäß den Menschenrechtsbestimmungen umzusetzen, sollte es diese Strafe nicht geben.
Welche Rolle spielen Frauen bei der Suche nach Gerechtigkeit?
Als Menschenrechtsverteidigerinnen, als Vertreterinnen der Zivilgesellschaft und Mitglieder von Organisationen spielten sie eine großartige Rolle. Einige bringen sich heute in die neu gegründeten Nationalen Kommissionen ein. Auf wirtschaftlicher Ebene und auf der Ebene der Regierungsführung aber haben wir derzeit sehr wenige Frauen. Ich schaue jedoch nicht so sehr darauf, wie viele Frauen heute in diesem oder jenem Bereich vertreten sind. Die für mich wichtigste Frage ist, wie Frauen im zukünftigen Bildungssystem behandelt werden. Denn meine größte Befürchtung ist, dass sich die Lehrpläne in die falsche Richtung entwickeln. Nach großen militärischen Konflikten konzentrieren sich die Menschen meist verstärkt auf den Wiederaufbau der Infrastruktur, doch das Bauen von Schulen allein reicht nicht aus. Wir sollten uns vielmehr Gedanken über die Bildung an sich machen. Das ist der Schlüssel zum Wiederaufbau und zur Zukunft eines jeden Landes.
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