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Alltag in OstdeutschlandNichts wird noch mal gut gegangen sein

Das Buch „Extremwetterlagen. Reportagen aus einem neuen Deutschland“ versammelt Texte, die vor den Landtagswahlen im Osten 2024 entstanden sind.

Was tun im Auge des Orkans? Foto: Alexander Wolf/imago

Seit wann wissen wir, dass Extremwetterereignisse häufiger werden, wenn wir den menschengemachten Klimawandel nicht stoppen? Und seit wann ahnen wir, dass wir nach irgendeiner der kommenden Landtagswahlen in Ostdeutschland nicht mehr sagen können: „Noch mal gut gegangen“?

So unterschiedlich diese beiden Fragen thematisch auch sind, im Titel des Buchs „Extremwetterlagen“ (dreizeilig gesetzt „EXTREM WETTER LAGEN“) kommen sie zusammen: Nichts am gesellschaftlichen Klima in Deutschland und vor allem in den ostdeutschen Bundesländern ist „normal“, und nichts wird noch mal gut gegangen sein.

In dem nun erschienenen Band, der den Subtitel „Reportagen aus einem neuen Deutschland““ trägt, sind Texte versammelt, die für das Projekt „Überlandschreiberinnen“ entstanden sind. Als solche sind die Autorinnen Manja Präkels, Tina Pruschmann und Barbara Thériault im Sommer 2024 durch ostdeutsche Städte gefahren, um Stimmungen und Haltungen dort einzufangen.

Mit initiiert hat das Projekt der Soziologe Alexander Leistner von der Universität Leipzig; man müsse schauen, was auf den Straßen passiert sei, wolle man verstehen, wie „Stimmungen zu Strukturen gerinnen konnten, die sich manchmal beklemmend, zementiert und ausweglos anfühlen können. Die tief hineinragen in das Denken und die Wahrnehmung von Politik“, schreibt er. Die versammelten Texte waren vorher zum Teil in der taz, zum Teil in anderen Medien erschienen, einige waren bislang unveröffentlicht.

Das Buch

Alexander Leistner, Tina Pruschmann, Manja Präkels, Barbara Thériault: „Extremwetterlagen. Reportagen aus einem neuen Deutschland“. Verbrecher Verlag, Berlin 2025, 208 Seiten, 20 Euro

Sie lesen sich wie ein lauter Aufschrei, sind eine Zumutung in dem Sinne, dass aus ihnen eine fortgeschrittene Normalisierung des menschenfeindlichen und rechtsextremen Diskurses spricht.

Leh­re­r:in­nen ducken sich bei rechtsextremen Worten und Taten weg; ein Bewohner einer erzgebirgischen Kleinstadt fürchtet sich, wenn er den „Hass in den Augen“ seiner Mit­bür­ge­r:in­nen sieht; die hundert größten rechtsextremen Telegram-Kanäle haben allein in Sachsen mehrere Hunderttausend Mitglieder; bei der Abschlusskundgebung des BSW in Dresden wird ein sowjetisches Militärlied angespielt; Ressentiments werden gezielt getriggert, wo es nur geht: Willkommen in (Ost-)Deutschland 2024/25.

Die Trigger der Rechts­ex­tre­mis­t:in­nen und -populist:innen werden jeweils der Lage angepasst – Geflüchtete, Corona, „Frieden“ mit Russland etc. —, sie warten nur auf Abnehmer:innen.

„Eigentlich ist es immer dieselbe Unzufriedenheit“, erklärt der ehemalige Punkmusiker Bernd Stracke („L ’Attentat“) von der Initiative „Augen Auf Zivilcourage zeigen“, den die Autorin Tina Pruschmann in Kittlitz besucht, einer kleinen Gemeinde in der Oberlausitz. Stracke beschreibt einen finsteren Normalzustand, in dem Verschwörungserzählungen und Demokratieverachtung auf fruchtbaren Boden fallen.

Das Schüren von Ressentiments folgt, daran erinnert Pruschmann, dem Playbook des neurechten Vordenkers Götz Kubitschek, der schon 2006 in dem Text „Provokation“ schrieb: „Unser Ziel ist nicht die Beteiligung am Diskurs, sondern sein Ende als Konsensform, nicht ein Mitreden, sondern eine andere Sprache, nicht der Stehplatz im Salon, sondern die Beendigung der Party.“

Genug Erklärungsansätze dafür, wie die Neue Rechte so dominant werden konnte

Die Alltagsszenen, Beobachtungen, Satzfetzen, die die drei Reporterinnen notieren, sind oft stark, stehen für sich. Doch bietet der Band auch genug Erklärungsansätze dafür, wie die Neue Rechte so dominant werden konnte. Der Redner einer Bürgerinitiative für Toleranz und Demokratie, ebenfalls im Erzgebirge, sagt treffend: „Jahrzehntelang haben Ignoranz von oben und eben auch die jahrelange Gleichgültigkeit von unten uns dahin gebracht, wo wir jetzt stehen. Deshalb sollten wir nicht mehr schweigen.“

Der Appell, die Zivilgesellschaft möge nicht mehr bloß dem Ende der Demokratie beiwohnen, sondern endlich aufwachen, lässt sich aus vielen der hier versammelten Texte herauslesen.

Stellvertretend für die merkwürdige Apathie im Land steht eine Szene, die Barbara Thériault in Thüringen kurz vor der Landtagswahl erlebt. Lo­kal­jour­na­lis­t:in­nen sitzen da träge zusammen, nichts kann die schwere Stimmung, die über dem Zusammensein liegt, aufhellen; auch nicht ein heruntergefallenes Glas, dessen Inhalt sich über einen der Anwesenden ergießt.

„Zu gerne würde ich hier berichten, dass der Krach des zersplitternden Glases irgendwie alle wachgerüttelt und – wie ein Blitz – die Luft gereinigt hätte, um so endlich den Weg zum Spaß zu eröffnen. Aber nein. Das Einzige, was gereinigt wurde, war der Boden“, schreibt Thériault. Es wird so viel mehr kaputtgehen als bloß Glas, denkt man sich während der Lektüre dieses Bandes des Öfteren.

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