Verbandsvorstände über Antiziganismus: „Ignoranz ist auch eine Form der Diskriminierung“
Gibt es Fortschritte im Kampf gegen den Antiziganismus? Mario Franz und Jill Strüber vom Verband deutscher Sinti über Runde Tische und alte Traumata.
taz: Herr Franz, Frau Strüber, der ursprüngliche Anlass für unser Gespräch war die feierliche Eröffnung des „Runden Tisches SiRo 3.0“ im Hannoverschen Rathaus. Aber das ist schon eine Weile her.
Mario Franz: Ja, die Medienresonanz darauf war nicht so, wie wir uns das gewünscht hätten. Aber das sind wir ja gewohnt. Ignoranz ist auch eine Form der Diskriminierung.
taz: Pardon, aber möglicherweise liegt das daran, dass Runder Tisch einfach nicht so richtig aufregend klingt. In meinen Ohren eher nach einer weiteren Runde, die wohlklingende Abschlusspapiere produziert.
Mario Franz: Aber in diesem Fall ist das etwas ganz anderes! Klar gibt es diese Runden, wo auf Worte niemals Taten folgen. Aber das hier soll eine feste Einrichtung werden, keine einmalige Angelegenheit. Wir haben zweieinhalb Jahre darauf hingearbeitet. Für uns ist das ein Riesenschritt, vergleichbar mit der Mondlandung.
Warum so groß?
Mario Franz: Weil es das erste Mal ist, dass es so einen Dialog auf Augenhöhe gibt. Das ist ein Zeichen dafür, dass alte verkrustete Machtstrukturen aufbrechen. Wir sind sehr stolz darauf, dass es uns gelungen ist, hier tatsächlich auch Entscheidungsträger an den Tisch zu bekommen. Zur Eröffnung waren beispielsweise auch die Kultusministerin und Führungspersonal aus der Polizeidirektion Göttingen, der Zentralen Polizeidirektion Hannover und der Polizeiakademie da.
39, Bildungsreferentin beim Nds. Verband deutscher Sinti und Co-Host des Podcastes „Chaya's Talk“.
taz: Aber was soll dieser Runde Tisch denn nun konkret bewirken?
Mario Franz: Wir besprechen dort alles, was auf landespolitischer Ebene zu regeln ist: Bildungspolitik, Soziale Arbeit, Polizeiangelegenheiten. Den Auftakt wird eine Runde im Kultusministerium zur rassismuskritischen Überarbeitung der Kerncurricula aller Schulformen machen. Da geht es auch um eine verbesserte Teilhabe von Schüler*innen mit Sinti- oder Romahintergrund.
taz: Vor zwei Jahren sorgte eine wissenschaftliche Studie für Furore, die nachwies, wie stark Verwaltungshandeln in der Stadt Hannover durch antiziganistische Einstellungen geprägt wird. Hat sich danach etwas geändert?
Mario Franz: Ja, und ich rechne das dem Oberbürgermeister hoch an, dass er sich an dieser Stelle nicht weggeduckt hat, sondern offen gesagt hat, dass es hier ein Problem gibt und dass wir etwas dagegen unternehmen müssen. Er hätte ja auch mit dem Finger auf andere zeigen können, das Problem besteht ja nicht bloß in Hannover, das war nur ein Beispiel.
Jill Strüber: Wir haben eine ganze Workshop-Reihe mit Angehörigen der Stadtverwaltung und des Jobcenters der Region gemacht.
taz: Die Abkürzung SiRo bezieht sich auf Sinti und Roma. Wie schwierig ist es denn da an einen Tisch zu kommen?
Mario Franz: Wir arbeiten mit dem Roma Center in Göttingen sehr gut zusammen. Aber natürlich sind unsere Interessen nicht immer deckungsgleich. Wir Sinti sind die älteste autochthone Minderheit Deutschlands. Roma sind viel mehr mit aktuellen Zuwanderungsfragen befasst. Aber uns eint natürlich das Leiden an der gleichen Art von Diskriminierung. Ich nenne das die „Z-Projektion“.
taz: Projektion, weil es mehr mit den Bedürfnissen der Mehrheitsgesellschaft zu tun hat als mit dem tatsächlichen Leben von Sinti und Roma?
Mario Franz: Natürlich. Auch medial werden da ja immer wieder die gleichen Bilder reproduziert. Am liebsten irgendwas mit Wohnwagen und Müllbergen.
taz: Sie haben auch viel von der dritten Generation gesprochen. Deshalb heißt der Runde Tisch ja auch SiRo 3.0. Was unterscheidet die von den vorangehenden?
Mario Franz: Erst einmal machen wir das natürlich am Überleben fest. Die erste Generation ist die, die den Horror der Vernichtungslager noch am unmittelbarsten miterlebt hat. Die ist häufig verstummt. Und die Ausgrenzung, die Ghettoisierung, die Schulverbote – das hörte nach 1945 ja nicht auf. Die zweite Generation war diejenige, die allmählich anfing, von den neuen Ressourcen zu profitieren …
Jill Strüber: Meine Generation also. Die aber auch häufig mit dem Gefühl lebt, den Vorfahren etwas schuldig zu sein oder eben etwas zurückgeben zu dürfen.
Mario Franz: Genau. In der dritten Generation sehen wir nun zunehmend Bildungsaufsteiger, sie ist aber auch insgesamt mutiger, fordernder, hat gelernt, Dinge auszusprechen und einzufordern.
Jill Strüber: Wobei das insgesamt auch immer noch ein sehr ambivalentes Thema ist. Gerade unter den Älteren ist die Angst sich zu exponieren, sichtbar zu werden, sehr verbreitet. Das habe ich auch bei der Debatte um unseren Podcast gemerkt.
taz: Sie machen diesen Podcast zusammen mit der Schauspielerin Taisiya Schumacher.
Jill Strüber: Genau, er heißt „Chaya's Talk“. Es war durchaus eine längere Debatte, ob wir uns da mit Namen und Gesicht – den Podcast gibt es auch auf Youtube – als Sintizza und Romni outen. Und zwar sowohl hier im Vorstand als auch in unseren jeweiligen Familien. Und wir merken das auch bei Interviewanfragen für unseren Podcast, dass manche zögern.
Mario Franz: Manchmal glaube ich, dass wir unsere Kinder da vielleicht auch nicht gut genug vorbereitet haben, in dem Bestreben viele der alten Traumata von ihnen wegzuhalten. Wir sehen das auch oft bei Beratungsfällen aus Unis und Ausbildungsstätten.
Jill Strüber: Die sitzen dann da nett in einigermaßen internationalen Runden und plaudern locker über die familiäre Herkunft. Aber oft – wenn sie dann sagen, dass sie Roma oder Sinti sind – bemerken sie in den Tagen darauf dann plötzlich doch, dass etwas anders ist, sie anders behandelt werden. Es beginnt die subtile Ausgrenzung.
taz: Geht das denn überhaupt, die Traumata von den Kindern wegzuhalten?
Wahrscheinlich nicht. Am Ende holt es einen immer ein. Aber auch bei uns hat die Aufarbeitung der NS-Verfolgung ja spät begonnen. Viele konnten ja zunächst gar nicht darüber sprechen, die beginnen damit erst am Lebensende. Oft holen einen ganz unvermutet Dinge ein. Wir hatten den Fall, dass bei unserer eigenen Ausstellung „Aus Niedersachsen nach Auschwitz“ in der Polizeidirektion ein Mitglied unseres Verbandes zusammenklappte – weil er plötzlich mit den Polizeifotos seines Großvaters konfrontiert war.
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