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Das Unentrinnbare verdichtet sich

Barrie Kosky inszeniert jetzt auch am Berliner Ensemble. Sein „K. Ein talmudisches Tingeltangel rund um Kafkas ‚Prozess‘“ verknüpft eindrucksvoll Kafkas Texte mit Schumann, Bach und jiddischem Vaudeville

Kathrin Wehlisch als K in „K“ von Barrie Kosky Foto: Jörg Brueggemann

Von Katharina Granzin

„Jemand musste mich verleumdet haben, denn ohne dass ich etwas Böses getan hätte, wurde ich eines Morgens verhaftet“, sagt die Schauspielerin Kathrin Wehlisch, die, bekleidet nur mit einer Garnitur altmodischer Herrenunterwäsche, soeben die Bühne betreten hat – falls „betreten“ es überhaupt trifft, so verloren wirkt ihre Gestalt, beziehungsweise seine Gestalt. Denn Wehlisch ist K., wie in „Josef K.“, und wie in „Franz Kafka“, beide werden an diesem Abend eins.

„Ein talmudisches Tingeltangel rund um Kafkas ‚Prozess‘“ nennt Regisseur Barrie Kosky die Produktion, für die er unter anderem mit guten alten Bekannten aus der Komischen Oper zusammengearbeitet hat: Adam Benzwi zeichnet für den musikalischen Rahmen verantwortlich, und die Sopranistin Alma Sadé, Expertin auf dem Gebiet des jiddischen Kunstlieds, schlüpft in die Rolle von Kafkas Geliebter Dora Diamant.

Franz Kafka war im echten Leben fasziniert von der jiddischen Sprache und Kultur, zu der er, in dessen Familie das Deutsche als Maß aller kulturellen Dinge galt, aber erst näheren Zugang bekam, als eine jiddischsprachige Theatertruppe für längere Zeit in Prag gastierte. Auch Dora Diamant, Gefährtin in Kafkas letztem Lebensjahr, war ein Mädel aus dem Schtetl und damit wie selbstverständlich in der für den assimilierten Städter exotisch-reizvollen Welt ostjüdischer Frömmigkeit verwurzelt.

In Koskys „talmudischem Tingeltangel“ gehen viele scheinbar disparate Elemente eine dramaturgische Allianz ein. Welch komplexes Unterfangen das ist, zeigt sich auch darin, dass der Abend eine Weile braucht, um zu großer Form zu finden. Der undurchschaubare „Prozess“ gegen Josef K. wird einigermaßen ausführlich aufgerollt, und diese thematische Exposition hat hier und da Längen, obwohl (vielleicht auch weil) zwischendurch regelmäßig Figuren aus ihrer Rolle treten und anfangen zu singen, meistens auf Jiddisch. Das Ensemble beweist dabei durchweg musikalisch große Klasse und viel komisches Talent.

Kathrin Wehlisch legt einen letzten kabarettistischen Soloauftritt hin

Die meisten Frauenrollen werden von der hochhackig einherschreitenden Constanze Becker gegeben, die von turmhoch oben auf K. herabblickt und in deren komisch-stoischer Miene sich unnachahmlich feine Abstufungen von Sadismus spiegeln. Ein wiederkehrender Running Gag ist Beckers Auftritt als K.s Vermieterin Frau Grubach, die mit Ungeziefervernichtungsmittel um sich spritzt, dabei auf dem Rücken einen giftig gelben Kanister mit Käferaufdruck tragend.

Während Josef K. von allen (nicht nur weiblichen) Wesen drangsaliert wird, wird der andere, reale K. von Alma Sadés Dora mit Liebesliedern verwöhnt. Originär jiddisches Liedgut kommt dabei im ersten Teil des Abends zum Einsatz, zum Ende hin sind es einzelne Herzschmerz-Nummern aus Robert Schumanns Zyklus „Dichterliebe“, deren Texte (im Original von Heinrich Heine) hier auf Jiddisch ganz so klingen, als könnte es gar nicht anders sein. Im übrigen ist die Bandbreite der musikalischen Stilistiken des Abends enorm; und auch wenn Adam Benzwis Arrangements sich ganz organisch zwischen übersprudelndem jiddischem Vaudeville und barockem Hintergrundgeklinge bewegen, so kann man doch, rein inhaltlich betrachtet, geteilter Ansicht darüber sein, ob der musikalische Kosmos eines Johann Sebastian Bach und die Vorstellungswelten eines Franz Kafka wirklich genügend valide Berührungspunkte haben, um ersteres sinnvoll als Bühnenmusik zur Dramatisierung des letzteren einsetzen zu können.

Übersprudelndes Vaudeville in „K“ mit Kathrin Wehlisch in der Mitte Foto: Jörg Brueggemann

Im zweiten Teil des Abends verdichtet sich die Atmosphäre unbestimmter Bedrohung, die den „Prozess“ durchwabert, zu atemberaubender Unentrinnbarkeit. Das abstrakte Prinzip des „Gesetzes“ nimmt übergroße, bühnenfüllende Form an, wird visuell verdeutlicht zu einem talmudischen Über-Ich. Kathrin Wehlisch verliest die „Vor dem Gesetz“-Passage aus „Der Prozess“ auf Hebräisch.“ Constanze Becker doziert mit faschistischer Kälte über die Funktionsweise des tödlichen Folterinstruments aus „In der Strafkolonie“, der finstersten aller Kafkaschen Erzählungen. Wenn K. schließlich stirbt, so ist es nicht der sich die Seele aus dem Leib hustende Franz, der sein Leben aushaucht, sondern der fiktive Josef K., dem in einer surrealen Szene die Kehle durchgeschnitten wird.

Danach aber steht Kathrin Wehlisch auf, wischt sich lapidar das Blut aus dem Gesicht und legt einen allerletzten kabarettistischen Soloauftritt hin – eine fulminante physische Tour de Force als krönender Abschluss einer absolut sensationellen schauspielerischen Leistung. Und ekstatischer Schlusspunkt einer denkbar vielschichtigen Inszenierung, die man mehrmals sehen kann, um jedes Mal neue Bezüge darin zu entdecken.

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