Schau zu Chris Marker in Jerusalem: Es bleibt ein Kampf
Der Filmemacher Chris Marker reiste 1960 durch den jungen Staat Israel. Das Israel-Museum in Jerusalem zeigt bisher unbekannte Fotografien von damals.

Ein Film, der mit den damals typischen zionistischen Narrativen brach. Er stellte Israel nicht nur als Zufluchtsort für Juden dar, sondern als einen Ort, der von tiefen Spannungen geprägt war – zwischen Alt und Neu, Einheimischen und Einwanderern, Ideal und Realität.
Markers Kamera zeigte, was in den offiziellen staatlichen Darstellungen oft ausgelassen wurde. Der Filmemacher war fasziniert von den ethischen Dilemmata und ideologischen Widersprüchen Israels. In seinem Film beobachtet er gewöhnliche Menschen im Alltag und persönliche Momente. In oft stillen Szenen fing er die Komplexität, Paradoxien und frühen psychologischen Spannungen einer Gesellschaft ein, die noch in der Entwicklung war.
Der Film gewann 1961 den Goldenen Bären bei der Berlinale, etwa vier Jahre, bevor die diplomatischen Beziehungen zwischen Israel und Deutschland überhaupt aufgenommen wurden. „Description of a Struggle“ und eine Auswahl seiner wiederentdeckten Standbilder stehen im Zentrum der großen Retrospektive „Chris Marker: The Lost Photographs of Israel“ im Israel-Museum, kuratiert von Gilad Reich und dem Künstler Shuka Glotman.
„Chris Marker: The Lost Photographs of Israel“, Israel-Museum Jerusalem, bis 14. Oktober
Sie richtet einen prophetischen Blick auf ein Land im Entstehen – ein Land, das Marker als „Wunder“ bezeichnete. Und sie gibt Eindruck von einer vergangenen Zeit – Israel vor dem Sechstagekrieg von 1967.
Ein Land in seiner existenziellen Unsicherheit
1960 war Jerusalem eine geteilte Stadt – Westjerusalem stand unter israelischer Kontrolle, Ostjerusalem, einschließlich der Altstadt und der Klagemauer, wurde von Jordanien regiert. Die Grüne Linie markierte noch die Grenze zwischen Israel und Jordanien, das die Westbank kontrollierte, während Ägypten über den Gazastreifen herrschte.
Marker filmte in einem Land, das mit seiner existenziellen Unsicherheit zu kämpfen hatte und noch nicht durch militärische Dominanz gestärkt war. Seine Kamera wanderte durch Westjerusalem, Tel Aviv, Haifa, verschiedene Kibbuzim und entstehende Städte im Negev. Er hielt neu angekommene jüdische Einwanderer, gebrochene Menschen, fröhliche Kinder und die ultraorthodoxe Haredi-Gemeinde im Jerusalemer Viertel Me’a Sche’arim fest.
Er zeigt kurdische Juden, die in einem Durchgangslager tanzen, und Holocaustüberlebende, die eine emotionale Last mit sich tragen. Arabische Bürger Israels (der Begriff „Palästinenser“ war noch nicht geprägt, um ihre Identität zu beschreiben) tauchen in Straßenszenen auf, als Arbeiter oder als Kinder einer neuen Generation in einer sich wandelnden Welt.
Kinder schauen aus Zelten der Ma’abarot, der Durchgangslager im Land, hervor, Arbeiter ernten Orangen auf Kollektivfarmen, Beduinen posieren an einer Bushaltestelle und Pilger beten an religiösen Stätten. Markers Kamera hält den Blick eines Dichters fest, der angezogen ist von Ambiguität, Trauer und Anmut.
Vorgriff auf moralische Dilemmata
Der Titel des Films, der aus Kafkas Kurzgeschichte „Beschreibung eines Kampfes“ stammt, spielt auf einen metaphysischen, inneren Konflikt an. Nicht einen Konflikt um Grenzen, sondern um Identität, Geschichte und Zukunft. Markers Voice-over-Kommentar im Film war dabei auf unheimliche Weise vorausschauend in Bezug auf die moralischen Dilemmata, die nur wenige Jahre später auftreten sollten: „Israel hat alle Formen des Kampfes kennengelernt. Heute offenbart es eine neue Art von Kampf – den Kampf, den ein junges und starkes Land gegen sich selbst führen muss, um auch im Sieg den Werten treu zu bleiben, die seinen Namen glorifizierten, als es noch verfolgt wurde.“
Bis dahin waren Filme über Israel meist von der dortigen Regierung beauftragt worden. Marker sollte den ersten unabhängigen Film über das Land drehen. Die Gründerin der Jerusalem Cinematheque, Lia van Leer, und ihr Ehemann Wim van Leer, hatten Marker dazu eingeladen, nachdem sie seinen Film „Letter from Siberia“ auf dem Moskauer Filmfestival 1959 gesehen hatten. Sie boten Marker völlige künstlerische Freiheit. Marker willigte ein – aber erst nach einem einmonatigen, selbst finanzierten Besuch, um das Land zunächst nach seinen eigenen Vorstellungen beobachten zu können.
Der Vertrag zwischen den van Leers und Marker, der Jahrzehnte später in Paris gefunden wurde, zeigt, wie viel Autonomie der französische Filmregisseur hatte. Er konnte jederzeit aussteigen, seinen Namen aus dem Film entfernen oder jeden inhaltlichen Eingriff ablehnen. Der Film wurde durch eine unabhängige Stiftung der van Leers finanziert und war damit eines der seltenen Beispiele für echtes Autorenfilmschaffen im frühen israelischen Kino.
Israelische Flagge auf der Berlinale
Als „Description of a Struggle“ 1961 den Goldenen Bären für den besten Dokumentarfilm gewann, wehte zum ersten Mal die israelische Flagge auf der Berlinale. Das sorgte international für Schlagzeilen. In Israel hingegen waren die Reaktionen eher verhalten, die Filmpremiere im Maxim Theater in Tel Aviv fiel mit den ersten Wochen des Eichmann-Prozesses zusammen, der damals die meisten kulturellen Ereignisse überschattete. Dann geriet Markers Film in Vergessenheit.
Marker, ein bekanntermaßen zurückhaltender Künstler, sprach selten wieder darüber. Die Fotos, die er während der Produktion aufgenommen hatte, wurden nie öffentlich gezeigt. Erst nach seinem Tod im Jahr 2012 begann der Künstler und Filmemacher Shuka Glotman, angeregt durch einen Hinweis von Lia van Leer, nach den Fotos zu suchen. 2018 fand Glotman in den Archiven von Marker in der Cinémathèque française in Paris über 1.000 Negative – verpackt, beschriftet und im Dunkeln vor sich hin vegetierend.
Die bahnbrechende Retrospektive im Israel-Museum, das dieses Jahr sein 60-jähriges Bestehen feiert, präsentiert nun eine Auswahl von 120 Fotos aus dem Pariser Fund zusammen mit Dokumenten, Verträgen und einer restaurierten Version des Films. Außerdem werden israelische Filme gezeigt, die von Marker beeinflusst waren.
Wie David Perlovs „In Jerusalem“ (1963), ein wegweisendes Werk des israelischen Dokumentarfilms, das ein poetisches und kontemplatives Porträt des geteilten Jerusalem bietet, und Dan Gevas „Description of a Memory“ (2006), der Markers „Discription of a Struggle“ in die Jahre der zweiten Intifada überträgt. Für die Kuratoren der Ausstellung, Glotman und Reich, sind Markers Film und Fotografien nicht nur Archivschätze. Sie sind das Fenster zu einem historischen Moment, der heute auf unheimliche Weise wieder aktuell wirkt.
Lösegeld für Ungerechtigkeit
Die letzte Szene von „Description of a Struggle“ widmet Chris Marker einem jungen Mädchen in Haifa während des Kunstunterrichts. Still skizziert es vor sich hin. Mit seinem langen Hals und seinen mandelförmigen Augen sieht es den Figuren von Modiglianis Porträts verblüffend ähnlich. Das Mädchen ist zu dem Zeitpunkt genauso alt wie Israel im Jahr 1960, gerade einmal 12 Jahre.
Marker vermeidet es, sich auf die große Erzählung nationaler Mythen zu stürzen. Stattdessen überlässt er das letzte Wort einem stillen, persönlichen Moment: einem Kind mit einem Bleistift in der Hand, einem Land, das noch nicht definiert ist, einer Zukunft, die noch nicht geschrieben ist. Während das Bild stehen bleibt, spricht Marker aus dem Off die eindringlichsten Sätze des Films: „Dies ist das kleine jüdische Mädchen, das niemals Anne Frank sein wird. Wir müssen sie verstehen, mit ihr sprechen, sie vielleicht manchmal daran erinnern, dass Ungerechtigkeit im Land Israel schlimmer ist als Ungerechtigkeit anderswo. Denn dieses Land ist das Lösegeld und die Bezahlung für Ungerechtigkeit.“
Für Marker kann eine Gesellschaft, die als Zufluchtsort vor Gräueltaten aufgebaut wurde, sich der kritischen Betrachtung nicht entziehen; vielmehr tragen ihre Handlungen eine schwerere moralische Last. Unschuld ist vorhanden, aber auch eine stille Warnung: Israels moralische Prüfung hat gerade erst begonnen.
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