Urteil im Vergewaltigungsprozess: Betäubt, gefilmt und vergewaltigt
Tabea R. wäre fast gestorben. Nun wurde Marvin S. in Berlin zu 5 Jahren und 6 Monaten Haft wegen Vergewaltigung und Körperverletzung verurteilt.

Die Existenz dieses und weiterer Videos sowie Fotos, die Schwake teils als „verstörend“ bezeichnet, gehört zu den zentralen Gründen, dass Marvin S. am Freitag zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt wurde. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass S. Tabea R. vergewaltigt hatte. Weitere Straftatbestände sind unter anderem Körperverletzung sowie der Besitz von Missbrauchsdarstellungen von Kindern. Die Staatswanwaltschaft hatte sechs Jahre, die Verteidigung Freispruch gefordert. Marvin S. hatte die Tat bestritten.
Tabea R., zum Zeitpunkt der Tat 20 Jahre alt und kurz vor ihrem Fachabitur, trinkt an einem Abend im April 2022 „größere Mengen“ Alkohol in der Wohnung einer Freundin in Berlin-Steglitz, beschreibt Schwake in der Urteilsbegründung. Sie hat Liebeskummer und sei „emotional aufgewühlt“. Nach Mitternacht macht sie sich auf den Heimweg, verpasst den Bus und geht deshalb zu Fuß.
Einer weiteren Freundin schickt sie mehrere Sprachnachrichten – auch, als Marvin S. sie anspricht und beide gemeinsam entscheiden, zu seiner nahen Wohnung zu gehen. Der Blutalkoholwert von Tabea R. habe zu diesem Zeitpunkt bei mindestens 2,45 Promille gelegen.
„Wehrlos und zur Einwilligung unfähig“
Zwar habe man den Gesamtablauf der Nacht nicht lückenlos aufklären können, so Schwake – aber durch Aussagen von 14 ZeugInnen, drei Sachverständigen sowie durch Sprachnachrichten, Fotos und Videos eben doch „einzelne Sequenzen“. Diese bestehen unter anderem darin, dass Marvin S. Tabea R., die keinerlei Erfahrungen mit harten Drogen hatte, Heroin zu rauchen gibt, dass sie beide das Beruhigungsmittel Alprazolam, Kokain und Cannabis konsumieren. S. selbst konsumiert zu diesem Zeitpunkt „täglich“ Heroin und Crack. Der heute gepflegt erscheinende 38-jährige habe zum Zeitpunkt der Tat „das Leben eines Junkies“ geführt, so Schwake.
Spätestens im Lauf der Nacht habe S. den Vorsatz gefasst, sexuelle Handlungen an R. vorzunehmen, „ob mit oder gegen ihren Willen“. Er legte ihr ein Würgehalsband an, tröpfelte heißes Wachs auf ihren Intimbereich und schrieb mit rotem Edding die Wörter „Slut“ und „Whore“ auf ihren Unterleib. Teils dokumentierte er die Taten per Handy. Dass Tabea R. mit Forschreiten der Nacht „wehrlos und zur Einwiligung unfähig“ war, habe S. erkannt und ausgenutzt – ebenso, dass der Mischkonsum bei R. „erhebliche Risiken“ berge.
Gegen 13 Uhr, so rekonstruiert es das Gericht, ist R.s Köper kalt, sie atmet nicht mehr. S. alarmiert die Notärztin, die wenig später einen Herzkreislaufstillstand bei Tabea R. feststellt. Zwölf Minuten wird sie reaninmiert, nach multiplem Organversagen liegt sie fünf Tage im künstlichen Koma in der Charité. Die von der Notärztin herbeigerufene Polizei sieht trotz der misogynen Schmiereien auf R.s Körper, trotz der Würgemale und der durch die Charité festgestellten „schweren Intoxikationserscheinungen“ keinen Grund, zu ermitteln. Erst, als die Familie Strafanzeige stellt, nimmt das Landeskriminalamt Ermittlungen auf.
Während Marvin S. bei der Urteilsbegründung am Freitag ins Leere sieht, verfolgt Tabea R., eine schmale, schwarz gekleidete Person, die Ausführungen des Richters aufmerksam – wie schon an den vorherigen Prozesstagen. An die Tatnacht selbst hat sie keine Erinnerungen. Bis heute jedoch schränken die Folgen sie ein: Zunächst war sie auf einen Rollstuhl, später auf Rollator und Gehstock angewiesen. Teils kann sie noch heute ihre Beine nicht spüren.
Zunächst keine Ermittlungen
Tabea R. leidet an einer chronischen posttraumatischen Belastungsstörung, an Schlafstörungen, anhaltenden Ängsten und depressiven Episoden. Aus dem sozialen Leben hat sie sich zurückgezogen, aufgrund von Konzentrationsproblemen war es ihr lange nicht möglich, weiter die Schule zu besuchen. Nun will sie zumindest ihr Fachabitur nachholen.
Tabea R.s Anwältin Christina Clemm sagte der taz, sie sei zutiefst beeindruckt von ihrer Mandantin. Die habe sich den gesamten Prozess „angetan“, um zu erfahren, was mit ihr passiert sei. Gleichzeitig bezeichnete Clemm es als „bodenlos“, dass die Polizei zunächst keinen Anfangsverdacht für Ermittlungen gesehen habe. Es gebe noch immer ein völlig unzureichendes Bewusstsein dafür, was Frauen mit welchen Mitteln angetan werde: „Was für eine Katastrophe“.
Eine queerfeministische Initiative namens „Nur Ja heißt Ja“ hielt am Freitag eine Mahnwache vor dem Gericht ab. Dass dieser Fall als „Drogenunfall“ eingestuft wurde, sagte einer der Initiatorinnen, zeige, wie Gesellschaft und Justizt sexualisierte Gewalt bagatellisierten und Betroffene im Stich ließen: „Ein Staat, der nicht schützt, macht sich mitschuldig“.
Tabea R.s Mutter sagte der taz, sie sei „froh und erleichtert“, dass das Gericht schließlich keinen Zweifel am Tathergang hatte. Das liegt, so viel ist klar, vor allem an dem vorhandenen Bildmaterial – einem seltenen Umstand in Vergewaltigungsprozessen. Für ihre Tochter sei es „ein sehr schwerer Prozess, das alles zu verarbeiten“. Als Familie wolle man nun versuchen, „loszulassen“.
Derweil wird der Fall möglicherweise nicht der letzte sein, wegen dem Marvin S. vor Gericht steht: Wie der Spiegel schreibt, zeigen einige Videos, die in S.s Wohnung gefunden wurden, wie sich S. an weiteren betäubten Frauen vergeht. Zwei neuerliche Anklagen gegen S. gibt es bereits, bestätigte die Pressestelle des Landgerichts. Sie sind noch nicht zur Hauptverhandlung zugelassen.
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