Kein Krankenhaus in Hamburg-Wilhelmsburg: 60.000 Menschen ohne Notfall-Klinik
Am 15. Juli soll die Notaufnahme des Krankenhauses Groß-Sand schließen. Eine als Ersatz geplante Stadtteilklinik löst das Problem laut Ärzten nicht.

Doch schon in zwei Wochen, am 15. Juli, werden die Notaufnahme und die Chirurgie des Krankenhauses geschlossen. Wilhelmsburg liegt zwischen Norder- und Süderelbe auf einer Insel und hat rund 60.000 Einwohner. Diese Zahl wird in den kommenden Jahren wegen geplanter Neubauviertel deutlich steigen. Viele Industrie- und Hafenbetriebe mit entsprechenden Unfallrisiken sind auf Wilhelmsburg ansässig. Die nächste Notaufnahme liegt elf Kilometer weiter südlich in Harburg oder zehn Kilometer nördlich beim Katholischen Marienkrankenhaus in Hohenfelde.
Gleich nachdem Ende Mai die Pläne bekannt wurden, hat der in der Chirurgie von Groß-Sand arbeitende Mediziner Hans Martin Wismar eine Petition dagegen gestartet. „Fällt das Wilhelmsburger Krankenhaus, muss das Rettungswesen in Zukunft permanent Kranke und Verletzte von der Elbinsel in die nächstgelegenen Krankenhäuser der Stadt ‚exportieren‘“, heißt es darin.
Jeder, der die Verkehrssituation auf den Elbbrücken kenne, wisse, dass mit Sicherheit bei vielen zusätzlichen Rettungswagen der Verkehrskollaps drohe. „Es werden mit Sicherheit Menschen aufgrund deutlich verlängerter Transportzeiten versterben, die hätten gerettet werden können“, heißt es weiter in der Petition, die rund 9.700 Unterschriften erhielt. „Die Kollegen vom Rettungsdienst sehen es genauso.“
Nächste Notaufnahme 30 Minuten entfernt
„Ich halte nichts davon, den Menschen jetzt Angst zu machen“, sagt dagegen Michael Wünning, der Chefarzt der Notaufnahme in Groß-Sand. „Natürlich schließen wir die Abteilung schweren Herzens, das tut mir als Chefarzt auch weh“, sagt er. Er könne Wilhelmsburger verstehen, die sich nun verlassen fühlten. „Aber sie sind weiter versorgt“, sagt er mit Blick auf die Asklepios-Kliniken in Harburg und St. Georg sowie das Katholische Marienkrankenhaus. Die wären im Durchschnitt in 30 Minuten zu erreichen.
Fakt sei, dass von den gut 13.000 Menschen, die 2024 in die Notaufnahme kamen, nur etwa 3.000 im Krankenhaus geblieben waren. „Alle anderen konnten wieder nach Hause. In Groß-Sand werden somit deutlich weniger Patienten aufgenommen als in anderen Krankenhäusern“, sagt Wünning. Auf den Durchschnittstag umgerechnet bedeute das, dass nach der Schließung jedes umliegende Krankenhaus drei zusätzliche Patienten aufnehmen müsste. Das sei zu machen.
Wünning weist zudem darauf hin, dass sich seit Mai die gesetzlichen Anforderungen für Notaufnahmen verschärft hätten. „Laut neuer Gesetzeslage muss an jeder Notaufnahme ein ‚zusatz-weitergebildeter Akut- und Notfallmediziner‘ rund um die Uhr verfügbar sein. Doch das nötige Personal ist auf dem Markt kaum zu finden und geht bevorzugt an größere Krankenhäuser“, sagt der Arzt. Hierdurch ließe sich die Notaufnahme in der jetzigen Form auch strukturell auf lange Sicht nicht aufrechterhalten.
Das Erzbistum spricht in seiner Pressemitteilung von einer „Weiterentwicklung“ des Krankenhausstandorts Groß-Sand. Er sei dankbar, dass man zusammen mit der Gesundheits- und Finanzbehörde eine „tragfähige Lösung gefunden“ habe, sagte Verwaltungsdirektor Alexander Becker. Groß-Sand biete künftig spezialisierte Leistungen statt Vollversorgung. Allerdings sollen die zunächst dort verbleibenden Abteilungen Geriatrie und die neurologische Frühversorgung perspektivisch ans Marienkrankenhaus verlagert werden, wo derzeit „moderne Räume“ geschaffen würden.
Laut einer Sprecherin der Klinik wird auch die Innere Medizin und ein vom Innovationsfonds gefördertes Projekt namens „Statamed“, bei dem Menschen nur kurz im Krankenhaus bleiben und dann von dort aus weiter zu Hause versorgt werden, in Groß-Sand bleiben.
Geplant ist ferner, dass die Stadt Hamburg das Gelände kauft und dort eine moderne Stadtteilklinik errichtet, die ambulante Versorgung mit stationären Angeboten insbesondere im Bereich Innere Medizin und Geriatrie verbindet. Doch das kann dauern. Denn die Sozialbehörde will die Sache ausschreiben lassen. Gefragt, wann die Klinik eröffnet, sagt Sprecher Wolfgang Arnhold, der Zeitpunkt für die Ausschreibung hänge von der Umsetzung der Krankenhausreform im Bund ab und davon, „wann Einigkeit mit dem Bistum über den Verkauf der Immobilie besteht“. Er sagt ganz offen: „Wir stehen also aktuell am Anfang des Prozesses“.
Gesundheitssenatorin Schlotzhauer sagt, sie habe lange Zeit dafür geworben, dass Groß-Sand „in neue Hände verkauft und dort weiterentwickelt wird. Dazu ist es leider nicht gekommen“.
Für den Gesundheitspolitiker Deniz Celik (Die Linke) dauert das alles schon viel zu lange. „Die Stadt hat seit fünf Jahren eine Lenkungsgruppe zu Groß-Sand. Man fragt sich, was haben die eigentlich getan?“ Statt die Stadtteilklinik öffentlich auszuschreiben, sollte die Stadt lieber selber als Träger einspringen, so wie jüngst beim Pflegebetrieb „Pflegen & Wohnen“. Dass dies möglich ist, zeige das Beispiel des städtischen Uniklinikums Eppendorf, das schon seit 2005 auch recht erfolgreich Träger des Altonaer Kinderkrankenhauses ist.
Auf die Frage, warum die Stadt nicht selber eine Klinik eröffnet, erklärt Behördensprecher Arnhold, es wäre für einen freien Träger wesentlich einfacher, an Fördermittel aus dem Transformationsfonds der Krankenhausreform zu kommen. Auch könnten solche Träger effizienter sein als kleine kommunale Eigenbetriebe, was wiederum langfristig Kosten senken könne.
Insellage als Problem
Für den Chirurgen Hans Martin Wismar geht das alles in die ganz falsche Richtung. „Ich will niemandem Angst machen“, sagt der Mediziner, der seit zwölf Jahren in der Notaufnahme arbeitet. „Aber Fakt ist, dass Wilhelmsburg durch seine Insellage bei Hochwasser, Schnee und Stau schnell abgeschnitten ist“. Erst über Pfingsten habe es starken Stau auf der A1, der A7 und der Wilhelmsburger Reichsstraße gegeben. „Wenn die Menschen mit Blinddarm oder Darmverschluss kommen, muss schnell operiert werden.“ Die drei Rettungswagen wären künftig bei jedem Einsatz über eine Stunde unterwegs und könnten nicht mehr alles abdecken.
Hinzu komme, dass die Notaufnahmen in Harburg und St. Georg schon heute häufig wegen Überlastung keine Patienten aufnähmen. Dass Groß-Sand weniger stark ausgelastet ist, sei doch eher gut: „Wir brauchen eine Reserve“. Und besagte Zusatzweiterbildung sei für die allermeisten Fälle nicht erforderlich. Wenn man gleichzeitig in Kauf nehme, dass Kranke quer durch Deutschlands Stauhauptstadt gefahren werden, sei das nicht redlich. „Kranke und Verletzte bekommen in Wilhelmsburg ihre schnelle Hilfe vor Ort, man sollte alles so lassen, wie es ist.“
Das sieht auch der Verein der Wilhelmsburger Ärzteschaft so. Man sei zutiefst enttäuscht über die geplante Schließung, heißt es in einer Erklärung, die 18 Mediziner unterzeichnet haben. Die versprochene neue Stadtteilklinik könne das Krankenhaus nicht ersetzen. Denn dort sollten zwar Patienten bei Verschlechterung einer Grunderkrankung aufgenommen werden. „Die Akutversorgung, Anästhesie, Intensivmedizin und Chirurgie hingegen, die integraler Bestandteil einer umfassenden stationären Versorgung sind, sollen entfallen.“ Die Ärzte fordern ebenfalls, dass Hamburg das Krankenhaus übernimmt. Eine Stadt, die Millionen für eine Olympiabewerbung ausgibt, müsse auch Geld für die Versorgung eines benachteiligten Stadtteils aufbringen können.
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