Wie Russland auf Osteuropa blickt: Erst die Ukraine, dann das Baltikum
In Moskau will die Russische Militärhistorische Gesellschaft über die „baltischen Schmarotzer“ informieren. Eine primitive Erzählung – und eine verkappte Drohung.

Ohnehin habe das Baltikum stets an vorderster Stelle in der Sowjetunion gestanden. Ein idealer Ort. Und jetzt: stagnierende Wirtschaft, schrumpfende Bevölkerung, die Behörden glichen der Gestapo. „Bald ist das Baltikum eine menschenleere, von Unkraut überwuchernde Trümmerlandschaft“, steht auf einer der Tafeln, die sich entlang des Gogol-Boulevards im Moskauer Zentrum aneinanderreihen.
Hier will die Russische Militärhistorische Gesellschaft über „Quellen und Sinn des baltischen Neonazismus“ informieren. So hat die vor 13 Jahren per Erlass des russischen Präsidenten Wladimir Putin geschaffene Organisation, um Russ*innen Stolz auf die militärische Vergangenheit ihres Landes einzuflößen, die Ausstellung genannt, die nichts anderes tut, als das bekannte russische Narrativ zu verbreiten: Russland sei von Feinden umgeben, die schlimmsten dabei seien die, denen die Sowjetunion überhaupt erst zum Leben verholfen habe.
Nun aber müssten sich diese an die Nato und die EU heranpirschen, denn ohne die Unterstützung Russlands als rechtmäßiger Nachfolger der untergegangenen Sowjetunion seien diese Länder lediglich „armselige Schmarotzer“, die vom Geld und den Befehlen aus Brüssel abhingen. Lettlands Visitenkarte sei Russophobie, Litauen sei eine Marionette Europas, Estland pflege gar eine manische Russophobie. „Das Hobby des Baltikums ist die Vernichtung alles Russischen“, lässt die Militärhistorische Gesellschaft die Vorbeieilenden wissen.
Eine verdrehte Darstellung der Geschichte
Nur selten bleibt an diesem trüben Juli-Vormittag jemand an den Tafeln stehen. Ein älterer Herr empört sich über die heruntergefallene Beleuchtung einer Tafel, ein Mann mit Rucksack bleibt länger vor der Passage über Kaja Kallas stehen, im wirklichen Leben frühere estnische Premierministerin und heute außenpolitische Beauftragte der EU-Kommission, am Gogol-Boulevard eine „an vielfältigen psychischen Erkrankungen leidende baltische Promenadenmischung der europäischen Russophobie“. Reden will hier niemand.
Auf jeder der 16 Tafeln der Prachtstraße, die sich von der Touristen-Meile Arbat bis hin zur Christi-Erlöserkathedrale zieht und den sechs Tafeln vor der lettischen Botschaft einige Straßen weiter weg geht es um Diffamierung der Staaten des Baltikums – mittels verzerrter und verdrehter Darstellung der Geschichte. Seit Jahren treibt die russische Regierung eine Geschichtspolitik voran, die ein selektives Narrativ der russischen Geschichte vermittelt und auch vor historischen Lügen nicht zurückschreckt. Die Wohltaten der Sowjetunion werden glorifiziert und die sowjetische Gewaltherrschaft sowie die Folgen dieser schlicht beiseite gelassen.
Die Ausstellung am Gogol-Boulevard ist ein in Russland gängiger Ausdruck einer großen Enttäuschung, in primitiver Form und einer Sprache voller Hass. Jede Tafel ist eine Art lautstarkes Verlangen nach Dankbarkeit. Aber diese Dankbarkeit kommt nicht: von den Balten nicht, aber auch nicht von Schweden,Finnen, Deutschen.
„Russophobie“ als Propaganda-Figur
In regelmäßigen Abständen tauchen solche Tafeln vor den Botschaften der EU- und Nato-Staaten in Moskau auf. Im März 2023 platzierte das russische Verteidigungsministerium etliche Stände „zur Erinnerung“ an die Nazizeit vor der Deutschen Botschaft. Im November 2023 hatte die Militärhistorische Gesellschaft die schwedische Botschaft mit einer „kurzen Geschichte der schwedischen Russophobie“ im Blick. Im Mai 2024 hat sie die finnische Botschaft über „Episoden finnischer Russophobie“ informiert.
Stets ist der Ton ähnlich: Ohne die Sowjetunion wären all diese Länder nichts. Und nun, so heißt es, wollten sie „alles Russische vernichten“. Das mache man nun doch wirklich nicht, wenn einem so vieles gegeben worden sei.
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