
Frauenrechte in Syrien: Freiheitskampf der Frauen
Seit dem Machtwechsel in Syrien sorgen sich viele um die Frauenrechte unter der islamistischen HTS-Regierung. Drei Beispiele feministischer Wehrhaftigkeit.
W enn es in den letzten 15 Jahren um Syrer*innen ging, drehte sich in westlichen Medien nahezu alles um Männer. Um Terroristen, Kämpfer, politische Anführer, um Geflüchtete und ihre gelungene oder nicht gelungene Integration. Doch plötzlich hat sich das Blatt gewendet.
Seit die Islamisten von Hayat Tahrir asch-Scham (HTS) am 8. Dezember 2025 die Macht in Syrien übernahmen, stehen Frauen auf einmal im Fokus des Weltinteresses. Werden sie jetzt unterdrückt? Verlieren sie all ihre Freiheiten, wie es Frauen in Afghanistan geschehen ist? Und wie frei waren sie überhaupt in der totalitären Diktatur von Bashar al-Assad? Mehrere Frauen haben mit der taz über ihre Sorgen, Hoffnungen und Hindernisse gesprochen.
Die Kämpferin
Nesrin Abdullah ist von kleiner Statur, ihre schwarzrötlichen, mit einer rosaroten Spange gebundenen langen Haare fallen auf ihr Tarnfleck. An den Füßen trägt sie schwarze Sportschuhe, so wie viele kurdische YPG- und YPJ-Soldat*innen. Waffen hat sie keine dabei, die schweigen eh seit Wochen in Nordostsyrien. Eine fragile, inoffizielle Waffenruhe zwischen der Türkei und den kurdischen Streitkräften schwebt über der gesamten Region, erlaubt ein vorsichtiges Aufatmen in der angespannten Atmosphäre.
Abdullah sitzt heute also in einem Büro der Zentrale der kurdischen Frauenschutzeinheiten, der YPJ, und nicht auf irgendeinem Schlachtfeld. Neben ihrem Sofa thront eine überdimensionale grüne Flagge mit rotem Stern. Abdullah ist eine Rarität im heutigen Syrien, eine Soldatin, Kommandantin noch dazu, Sprecherin der YPJ und eine, die eine gesamte Militäreinheit gegen alle Widrigkeiten einer frauenfeindlichen Gesellschaft mitgegründet hat. Aber wenn es nach ihr ginge, wären im heutigen Syrien weibliche Soldaten Normalität. Doch nur so lange, wie es nötig ist. „Die Uniform, die ich gerade trage – ich trage sie nicht, weil ich sie liebe, sondern weil es notwendig ist.“
Es ist kein rein militärischer Kampf, den Abdullah gerade austrägt, sondern ein ideologischer. Ein Kampf gegen das Patriarchat, gegen religiösen Absolutismus, gegen rechte Ideologien, gegen altmodische, ungeschriebene Gesetze und gegen alle, die sie als Bedrohung für die Freiheit kurdischer Frauen erkennt. Es ist eine enorm kräftezehrende Schlacht und eine, die sich mit militärischen Mitteln nicht so leicht gewinnen lässt.
Hätte es den Krieg in Syrien nicht gegeben, hätte es die Revolution 2011 nicht gegeben, dann wäre Abdullah Journalistin geworden. Sie war bereits an der Uni eingeschrieben, als der Arabische Frühling durch ihr Land fegte und der Bürgerkrieg begann. Abdullah kommt aus einer politisch engagierten Familie, einer liberalen Familie, die zweitälteste Tochter von zehn Kindern. Aufgewachsen in einem Dorf in der Nähe der Kleinstadt Derek an der kurdischen Grenze, mit einer gebildeten Mutter, der älteste Bruder im Syrischen Bürgerkrieg gestorben. Sich dem bewaffneten Kampf anzuschließen war eine Selbstverständlichkeit, sagt sie resolut.
Angst des IS vor den Frauen
Als Kurdin sei man das Kämpfen gewohnt gewesen. Nicht nur gegen die Regeln einer maskulin geprägten Kultur, in der Frauen traditionell nur als Hausfrauen und Mütter dienten und weniger Rechte bei Erbe und Ehe bekamen, wo „Ehrenmorde“ zum tribalen Ehrenkodex gehören und teils heute noch Kinder verheiratet werden. Der Kult kurdischer Kämpferinnen, die sich an Guerrilla-Aktionen beteiligten, war schon da, bevor der echte Kampf begann.
Die Lehre von PKK-Anführer Abdullah Öcalan war in Nordostsyrien, heute allgemein bekannt als Rojava, bereits verbreitet. Sie kombinierte eine linke Ideologie mit Gleichberechtigung, Umweltschutz und Pluralismus. Öcalan selbst hat 20 Jahre hier gelebt.
„Die Kurden waren unterdrückt und die Kriegsgeschichten nie weit weg. Und unter dem Baath-Regime zur Schule gegangen zu sein, das war schon wie beim Militär. Wir hatten ab der sechsten Klasse Training“, erzählt die 46-Jährige mit festem Blick. „Als die Revolution begann, kamen viele weibliche Guerrilla-Kämpfer, die ursprünglich aus Rojava stammten, hierher und schlossen sich der Revolution an.“
Dieser Artikel wurde möglich durch die finanzielle Unterstützung des Recherchefonds Ausland e.V. Sie können den Recherchefonds durch eine Spende oder Mitgliedschaft fördern.
Die kurdisch-syrische Miliz YPG, anfangs YXG genannt, die sich im Kampf gegen den „Islamischen Staat“ (IS) während des Bürgerkriegs einen internationalen Ruf erworben hat, ist 2011 entstanden. Doch als vorwiegend männliche Einheit. Frauen wie Abdullah, die gab es. Aber sie waren eher die Ausnahme. Weibliche Soldaten, von denen viele männliche Kameraden dachten, sie seien ihnen körperlich und kämpferisch unterlegen. Manche weigerten sich, zusammen mit Frauen in den Kampf zu ziehen. „Frauen können nicht schnell rennen“, sagte einer. „Frauen können nicht kämpfen“, ein anderer.
Doch vor allem im Kampf gegen den IS konnten sich die Kämpferinnen beweisen. In Schlachten wie in Sinjar 2014, aber auch in Kobane und Afrin. IS-Anhänger fürchteten sie, weil in ihrem strengen Islam die Tötung durch eine Frau den Zutritt ins Paradies verhindert. Die Gründungskonferenz der YPJ am 4. April 2013 ist eine von Abdullahs wichtigsten Erinnerungen. 300 Frauen, vier Kommandeurinnen, von denen inzwischen „nur eine noch lebt“. Die anderen sind alle im Kampf gefallen. Eine Revolution. „Es war schön, etwas, worauf man stolz sein kann“, sagt sie mit ruhiger Stimme.
Sanft, aber entschlossen
Bei Abdullah hat man manchmal den Eindruck, dass sie viel mehr sagen könnte, als sie tatsächlich tut. Gleichzeitig ist ihre Stimme fest, aber sanft. Macht, doch auch eine gewisse Fürsorge strahlt sie aus. Während ein Tablett mit süßem Schwarztee und arabischem Kaffee seinen Duft im Büro entfaltet, fragt Abdullah, ob die Klimaanlage in der Ecke zu stark sei, ob es uns kalt sei.
Das Büro liegt nahe der Kleinstadt Hasakah, in einer staubigen Gegend, drum herum nur einige Restaurants und Geschäfte mit verrosteten Rollläden. Davor befindet sich eine kleine Oase, mit Sitzbänken unter den Bäumen und Blumenbeeten im Hof. Dieses Jahr hat die Verwaltung den neuen Hauptsitz der Einheit aufgebaut, sagt Abdullah stolz. Nur für die Frauen. Draußen graben noch Bagger Steine und Erde aus.
Nesrin Abdullah, YPG-Kommandantin
Genau in diesem Jahr, dem Jahr, in dem die Existenz der YPJ so bedroht ist wie noch nie zuvor. Denn der Sprecher der ersten syrischen Übergangsregierung, Obeida Arnaout, hatte bereits früh klargemacht, dass es nicht in der „biologischen Natur“ der Frau sei, Waffen zu tragen. Nach dem Abkommen, das der Chef der kurdischen Streitkräfte SDF Mazloum Abdi und Syriens Präsident Ahmed al-Scharaa im März unterschrieben haben, sollen die SDF in die staatliche Armee integriert werden. Was mit der Fraueneinheit passiert, die sich inzwischen einen internationalen Ruf erarbeitet hat, wenn auch nicht ohne Kontroversen, ist noch unklar.
Abdullah, dunkle Augen unter markanten Augenbrauen, redet nicht um den heißen Brei herum: „Wenn al-Scharaa uns nicht akzeptiert, dann werden wir ihn nicht akzeptieren.“ Sie lächelt. Die Revolution ist noch nicht zu Ende.
Die Aussteigerinnen
In einer gottvergessenen Gegend, zwischen Bohnenfeldern, Staub und roten Lehmhäusern, knapp vier Kilometer von der türkischen Grenze entfernt, erscheinen plötzlich die Tore eines weißen Metallzauns. In bunten Buchstaben steht darauf: Jinwar. Auf Kurdisch: Der Ort der Frauen.
Hier befindet sich eines der sonderlichsten Frauenprojekte in Nahost. Umgeben von Feldern, auf denen Frauen den Boden unter der Sonne hacken, stehen um die 30 kleine weiße Häuser mit blauen Einfassungen. Sie bilden einen Halbkreis, in der Mitte sind Pavillons, Schaukeln und Beete. Drei Jungs spielen hier im Schatten.
Eigentlich gibt es hier in Jinwar alles und noch mehr: Strom aus Solarpanels, Wasser, Gas – Dinge, die im restlichen Syrien Mangelware sind. Und eine Kita, eine Schule, sogar eine „Schutzeinheit“. Nur eines fehlt: Männer. Und das nicht ohne Grund.
In Jinwar leben Frauen unterschiedlichen Alters und aus unterschiedlichen Lebenslagen. Unter sich. Einige wollen heilen, andere zu sich selbst finden, andere noch mehr über den linken Feminismus à la Öcalan lernen. Weit weg von allem. Manche wollen ein Frauenbewusstsein entwickeln, wieder andere fliehen vor einem gewalttätigen Leben. Manche sind traumatisiert, ächzen noch unter der Last ihrer Vergangenheit, andere haben gerade angefangen, frei zu atmen.
Ein Leben ohne Männer?
In einer traditionell patriarchalisch geprägten Gesellschaft wie der kurdischen ist ein solches Projekt nahezu revolutionär. Zwar hat die Verwaltung in Rojava seit Jahren Gesetze eingeführt, die Kinderehen und Polygamie verbieten, gleiche Rechte bei Erben und eine von einem Mann und einer Frau geteilte Rolle bei Spitzenämtern in der Verwaltung vorsehen.
Doch der gesellschaftliche Wandel schreitet langsamer voran als das Gesetz. Laut Daten der NGO „Syrians for Truth and Justice“ sind zwischen 2019 und 2022 in Nordostsyrien mindestens 129 Frauen bei Ehrenmorden getötet worden, 557 waren Opfer von häuslicher Gewalt. Unter der Verwaltung der kurdischen Streitkräfte SDF waren die Frauen hier, im Dorf der Frauen, willkommen. Doch jetzt? Unter der neuen syrischen Regierung, mit einem Ex-Islamisten als Anführer?
„Ich wollte ausprobieren, ob es für eine Frau möglich ist, ihr gesamtes Leben ohne einen Mann zu managen“, sagt die 50-jährige Sama*, die in Wahrheit anders heißt. „Und mehr über Frauenrechte lernen.“ Sama sitzt im Gemeinschaftshaus, einem einstöckigen Bau mit weißem Putz und bunten Teppichen. Sie nippt an einem Glas süßen Schwarztees und erzählt, ihr Mann sei als Soldat mit den YPG-Einheiten beim Kampf um Aleppo ums Leben gekommen. Daher sei sie mit ihren drei jüngeren Kindern vor anderthalb Jahren aus der Stadt hierhergezogen.
Sama hat einen entschlossenen Blick hinter der Brille, sie lächelt viel und gestikuliert viel. Die schwarzen Haare trägt sie gebunden, ihre Brille hängt an einem Band um den Hals über der blauen Sportjacke. Um 6 Uhr steht sie auf, jeden Tag, und geht mit den anderen Frauen der Schutzgruppe die Außengrenze des Dorfes inspizieren. „Wir sind in einer Kriegssituation“, mahnt sie. Im vergangenen Jahr gab es türkische Drohnenangriffe in der Nähe, die Frauen mussten evakuiert werden, zwei Tage lang.
Ernten, putzen – Nietzsche lesen
Nach dem Schutzdienst kehrt Sama zurück in ihr weißes Haus, das zweite hinter dem Eingangstor, und macht die Kinder fertig für die Schule, die kaum 100 Meter entfernt liegt. Nur der Älteste fährt mit dem Bus ins nächste Dorf. Dann sind Treffen angesagt, um das Leben im Dorf zu organisieren, Aufgaben zu verteilen, aber auch um über Kunst und Wissenschaft zu diskutieren. Und Handarbeit: Taschen, Armbänder, Ketten liegen ausgestellt im nächsten Raum. Das Dorf finanziert sich eigenständig durch den Verkauf von überschüssigem Gemüse, Getreide, Schafsprodukten, Handwerklichem. Und teilweise durch Spenden.
Zum Mittagessen geht jede Frau zurück nach Hause. Nachmittags sind die Kinder im Kunst-, PC- und Jugendzentrum, die Frauen arbeiten, auf den Weizen- und Linsenfeldern, mit Schafen, im Reparatur-, Verwaltungs- oder Putzdienst, abends geht Sama mit ihren Kindern spazieren in die Natur. Sie liest, ihr Lieblingsautor ist Nietzsche. Und Öcalan, natürlich. Es ist ein einfaches Leben, aber eines, das sie erfüllt. Von dem sie früher nicht dachte, dass es überhaupt möglich sei.

In der Dorfschule, in der Kinder bis zur sechsten Klasse lernen, lehrt Shirin. Shirin kam vor acht Monaten aus der nordöstlichen Stadt Qamishli. Weil sie „die Idee des Projekts mochte“. Frauen, die Brot backen, Wasser verteilen, Stromaggregate betreiben. Die für sich selbst sorgen. Sie sitzt neben Sama, unter einem überdimensionalen Porträt von Abdullah Öcalan, daneben noch ein Bild der iranischen Freiheitsikone Mahsa Amini.
Die Schule sei ihr Lieblingsort im Dorf, sagt sie und lächelt sanft. Weil sie hier sowohl Erwachsene als auch Kinder unterrichtet. Ein gesamter Lebenszyklus. Zwölf Schüler*innen hat sie, von der Kita bis zum dritten Jahr. Sprachen, Mathematik, Kultur, Kunst. „Solange es Kinder gibt, die Bildung brauchen, werde ich hier bleiben“, sagt sie über die Zukunft. Kinder hat sie keine, ihre Familie befürwortet ihre Mission.
Sorge um die Zukunft
Für Sama ist hingegen alles offen, noch weiß sie nicht, wie lange sie im Dorf der Frauen bleibt. Männliche Kinder der Bewohner*innen dürfen auch nach ihrem 18. Geburtstag bleiben, solange sie unverheiratet sind. Heimweh hat sie manchmal. Noch ist es aber nicht so stark, dass sie zurückmuss. Und für die Kinder sei das Leben in der Natur auch besser.
Shirin führt quer durch das Dorf zu ihrer Schule, einem runden Gebäude mit hölzernen Sitzbänken und einem Schwalbennest unter dem Dach. Weiße, getrocknete Farbe klebt an ihren Händen, gerade eben war sie am Streichen. Die Schule ist leer, wird gerade renoviert.
Noch geht das Leben im Dorf weiter, so wie vor der Machtübernahme der Ex-Islamisten in Syrien. Doch im Januar haben die Frauen auf ihrer Webseite einen besorgten Post veröffentlicht. Vor allem um die Angriffe durch Türkei-nahe Streitkräfte in der Region ging es, die mit der HTS verbunden sind. Jetzt herrscht eine inoffizielle Waffenruhe zwischen Rojava und der Türkei, und die Probleme, die die Existenz des Dorfes gefährden, sind eher finanzieller Natur. Jemand, der sich mit der Lage auskennt, doch kein Interview geben will, sagt, das Dorf brauche dringend Geld. Damit es weiter funktionieren kann.
Für viele ist dies eine existenzielle Frage. Hier, sagt Sama, hat sie Solidarität unter Frauen entdeckt. Kooperation statt Kämpfe. Eine gleichberechtigte Erziehung für ihre Kinder. Eine Identität. Stärke. Frieden, wenn auch ein fragiler.
Die Aktivistin
Es ist nachts, and Lujain Hamzah lenkt den Wagen auf einen dunklen Weg in der südlichen Kleinstadt Suweyda. Sie lässt das Lenkrad beim Abbiegen unter den Händen gleiten, tritt aufs Bremspedal und zieht die Handbremse. Sie steigt aus und geht mit festem Schritt auf die Mitte des Straßenkreisels zu, zeigt auf eine leere Stelle über dem dunklen Gebäude vor ihr. Etwas hing vor der runden Fassade – etwas, was es jetzt nicht mehr gibt.
„Genau da war das“, sagt sie. Hamzah, braune Haare, die Augen mit Kajal unterstrichen, 35 Jahre alt, ist Drusin. Als Assad noch an der Macht war, als die Bilder der Proteste in Suweyda noch nicht in den westlichen Medien gezeigt wurden, da stand Hamza bereits auf dem Platz und rief Parolen gegen das Regime.
An der leeren Stelle hing noch vor einem halben Jahr das Bild von Baschar al-Assad. Das Bild, das Hamzas Kommilitonen abzuhängen versuchten, als die Soldaten das Feuer eröffneten. Es war der 6. Dezember 2022, und die Demonstrierenden befanden sich vor dem Rathaus, als die ersten Schüsse fielen.
Wenn es um Proteste geht, ist Hamzah routiniert. Angst scheint die Aktivistin, sie arbeitet heute als Schauspielerin und früher als Ärztin, nicht zu kennen. Doch als sie am 4. Dezember 2022 auf dem Platz stand, überkam sie die Furcht. „Ich war so wütend, ich war so frustriert. Am Anfang drohten die Soldaten nur. Ich stand mitten auf dem Platz, allein, und rief den anderen zu: ‚Kommt zurück, kommt zurück!‘“ Ich sagte zu den Teenagern, die noch da waren, wir sollten das Bild abhängen. Es war das Letzte, was ich sagte.“
Assad ist weg, aber das reicht nicht
Als sie die Schüsse hörte, rannte Hamzah. Zu den Geschäften in den engen Gassen, hinten rechts, sie drehte sich nicht um, lief, so schnell sie konnte, zu einem Schuhladen, dessen Tür noch offen stand. Die Schüsse waren laut, erzählt Hamzah, so laut, dass man einander nicht hören konnte. Sie versteckte sich.
An dem Tag starb ein junger Demonstrant. Laut Medienberichten hätten Protestierende das Rathaus gestürmt, ein Polizist kam ebenfalls ums Leben. Schrecklich war das. Und doch machte die Aktivistin Hamzah weiter. Warum? Sie sagt: „Wir standen vor verschlossenen Türen.“ Es war die Korruption, die Diktatur, die Gewalt. Aber auch die Perspektivlosigkeit.
Als Künstlerin fühlte sich Hamzah unter Assad nicht frei, ohne Möglichkeiten, chancenlos. Heute noch ärgert sie sich darüber. Und nach ihrer Teilnahme an den Protesten, sagt sie, sei sie gefeuert worden. Sie organisierte dann selbst Demonstrationen, hauptsächlich für mehr Frauenrechte und gegen Ehrenmorde. Sechs Monate zuvor ging sie sogar vor den Gerichtshof. Um zu fordern, dass das Gesetz gegen Ehrenmorde eingehalten wird. Denn im Jahr 2020 wurde der entsprechende Paragraf 548 abgeschafft, sodass sogenannte Ehrenmörder mit Strafreiheit davonkommen konnten.
Auch nach dem Fall Assads ist Hamzah weiterhin kämpferisch. „Wir haben jetzt die erste Etappe geschafft“, sagte sie. Jetzt solle man nicht nur Assad wegfegen, sondern auch Assads Mentalität. Das Diktatur-Denken, das „Entweder ich oder das Land brennt“, meint sie. Sie wünsche sich ein säkulares, vielfältiges Syrien. Als Frau aus einer religiösen Minderheit habe sie Angst, sagt Hamzah. Die islamistische Vergangenheit der neuen Machthaber und ihrer Verbündeter schreckt sie.
Das Recht auf Gewaltlosigkeit
Die bisherigen Ereignisse stützen ihre Zweifel. Im März starben durch konfessionsgebundene Gewalt zwischen Assad-Loyalisten und sunnitischen Extremisten mehrere hundert alawitische Zivilist*innen. Seitdem mehren sich die Meldungen über alawitische Frauen, die an öffentlichen Orten angeblich entführt werden. Ende April begannen Konflikte zwischen Drusen und nicht genauer definierten, extremistischen Sunniten, die mehr als 100 Menschen das Leben kosteten. Die Regierung sprach bei den Angreifern von „Gesetzlosen“.
Im Mai stürmten Bewaffnete mehrere Nachtlokale und töteten dabei eine junge Frau. Im Juni nahmen Extremisten Christ*innen ins Visier, bei einem Selbstmordanschlag in einer Kirche in Damaskus kamen 25 Menschen ums Leben. Eine Organisation von ehemaligen IS- und HTS-Kämpfern bekannte sich zu dem Anschlag, doch die syrische Führung spricht von einer Zelle des IS.
Die Regierung hat zwar in allen Fällen Gerechtigkeit versprochen und die Vorfälle verurteilt, doch ob sie wirklich in der Lage ist, die Gewalt gegen Minderheiten und auch gegen Frauen zu verhindern, hat sich bislang nicht bestätigt.
*Name von der Redaktion geändert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Boykotte gegen Israel
Gut gemeint, aber falsch
Hungerstreik in Ungarn
Maja T. wird in Haftkrankenhaus verlegt
Humanitäre Katastrophe im Gazastreifen
„Es geht hier nicht um Konkurrenz“
Bundestagskontrollgremien ohne Linke
Linke wirft Union Demokratiegefährdung vor
Radikalisierung von Jungnazis
Stille in Altdöbern
Krieg in der Ukraine
Gegen Soldaten helfen nur Soldaten