Kindgerechte Ästhetik bei Waldorf?: Waldorf schafft Wohlfühlräume, allerdings für Erwachsene
Schön ist es und es riecht auch gut: Wer in Waldorfeinrichtungen kommt, hat meist einen positiven Ersteindruck. Aber wer sorgt eigentlich dafür?

W er Waldorfeinrichtungen betritt, ist meist angetan. Es ist ordentlich geputzt und jahreszeitlich mit Liebe zum Detail dekoriert. Die Abwesenheit von Digitalem und die hochwertigen Naturmaterialien suggerieren eine heimelige Parallelwelt zu maroden öffentlichen Einrichtungen mit vernachlässigten Außenbereichen, stinkenden Klos und kaputter Technik. Der Waldorfstandard ist zeitaufwendig, teuer und lässt glauben: Die Kinder, sind uns nicht egal.
Das fühlt sich beruhigend an. Wenn man allerdings der Frage nachgeht, wie Waldorfeinrichtungen das schaffen, wird es interessant. Denn wo kommen die benötigten Ressourcen her? Es ist die Pflicht zu unbezahlter Arbeit der ganzen Gemeinschaft.
Zum einen sind es schlicht viele Stunden Elternarbeit: putzen, Wände streichen, Holz- und Näharbeiten, aber auch Kuchen backen und Feste organisieren, um zusätzliches Geld einzunehmen. Gleiches gilt für die Schüler*innen: Ich habe geputzt, geschliffen, Büsche geschnitten, einen Teich angelegt, Lampen zum Verkauf gebastelt, nach jedem Auftritt Spenden eingesammelt …Wie viel Familienarbeit in die Gebäude und das Gelände fließt – damit wäre jede andere Schule auch schön. Aber welche Eltern können und wollen das in dem Umfang leisten? Und wofür bleibt diesen Familien dann keine Zeit? Wir waren an Wochenenden oft in der Schule, statt vielleicht ins Schwimmbad zu gehen, und wir haben deutlich mehr für die Schule gebacken als für uns selbst.
Aber auch Waldorfklassenlehrkräfte investieren bei oft deutlich geringerem Gehalt viel Zeit in die Selbstverwaltung der Schule, Unterricht ohne Schulbücher und ästhetische Gestaltung: mehr Konferenzen und Elternabende, Tafelbilder, Jahreszeitentische, einstudieren von Aufführungen (mit Bitte um Spenden im Anschluss), lange Textzeugnisse, jede Epoche inhaltlich vorbereiten, weil man sie nur alle acht Jahre unterrichtet …
Primat des Ästhetischen
Und wofür bleibt dann keine Zeit? Unterrichtsqualität? Die eigene Familie? Erholung? Individuelle Förderung von Kindern? Aber solange die Ästhetik stimmt, vermittelt sie Geborgenheit statt Ressourcenknappheit.
Das Primat des Ästhetischen galt auch für meine Epochenhefte. Wie viel Zeit ich damit verbracht habe, die Seiten zu gestalten: Rähmchen, Überschrift farbig, Text von der Tafel abschreiben, das Blatt einfärben (entweder mit dem Wachsblöckchen oder später mit dem „Spitzerdreck“ der Buntstifte). Über Jahre täglich. Und wofür blieb bei so viel Aufwand in der Gestaltung keine Zeit? Üben und lernen zum Beispiel.
Abgesehen davon ging es nie darum, was mir gefiel. Mich umgab eine Einheitsästhetik, die eigentlich durchgängig vorgegeben war. Und sind die Materialien, Formen und Farben überhaupt kindgerecht? Wo kommen Kinder und Jugendliche mit ihren ästhetischen Vorstellungen darin vor? Sowohl als Kohorte als auch als Individuen? Ich glaube, Waldorfeinrichtungen sind vor allem Räume, in denen sich Erwachsene wohlfühlen.
Ich würde mir wünschen, dass wir als Gesellschaft den Räumen, in denen Kinder einen Großteil ihres Lebens verbringen, mehr Gestaltungsfreiheit und Ressourcen zur Verfügung stellen – egal ob Kita, Schule, Sportverein, Musikschule, Jugendclub, Spielplatz oder Park. Alle Kinder und Jugendlichen sollten in Räumen aufwachsen, die ihnen sagen: Ihr seid uns wichtig.
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