: „Freiheit istein kollektiver Begriff“
1525 revoltierten die Bauern in Deutschland. Ihre Träume von einer Gesellschaft ohne Privateigentum könnten, so Lyndal Roper, heute unser Denken erweitern

Interview Stefan Reinecke
taz: Frau Roper, Sie sind für Ihr Buch über den Bauernkrieg „Für die Freiheit“ mit dem Fahrrad durch die Gegenden gefahren, in denen vor 500 Jahren der Aufstand tobte. Warum?
Lyndal Roper: Um die Landschaften zu verstehen, für die die Bauern damals gekämpft haben. Sie sind tage- und wochenlang durch diese Gegenden marschiert. Was diese Bewegung war, das wurde sie in diesen langen Märschen. Das versteht man viel besser, wenn man dort ist.
taz: War der Aufstand im Frühjahr 1525 geplant oder spontan?
Roper: Spontan. Er breitete sich aus wie ein Feuer, von einer Gegend in die nächste. Der Grad der Organisation war beeindruckend, innerhalb kurzer Zeit entwickelten die Bauern eine militärische Struktur. Sie schufen eine Infrastruktur für Nachrichten und wussten, was woanders geschah. Das ist erstaunlich, weil sie all das neu erfanden.
taz: Heiner Müller hat gesagt: Natürlich sind zehn Deutsche dümmer als fünf Deutsche. Das stimmte 1525 nicht.
Roper: Nein, hier flossen Erfahrungen und Fertigkeiten zusammen. Es ist erstaunlich, wie kraftvoll diese Gruppen zusammenarbeiteten. Das ging nur, weil sie sich gegenseitig respektierten. Sie hatten verschiedene Prioritäten, Führungsgruppen, Ideale, Vorstellungen, mussten aber miteinander auskommen. Sie waren sehr höflich zueinander.
taz: Die Bauern waren Analphabeten. Es gibt wenig Zeugnisse ihrer Erlebnisse.
Roper: Da muss ich widersprechen. Wir haben sogar erstaunlich viele Quellen. Die Protagonisten konnten zwar zum großen Teil nicht lesen und schreiben. Aber es waren viele Priester und ehemalige Mönche bei den Bauern. Und es gab Schreiber, die Beschwerden verfassten. Der Aufstand der Bauern ist durch Briefe dokumentiert. Gemeinden, die Bruderschaft geschworen hatten, schickten Briefe an andere Gemeinden, die sich an dem Krieg beteiligen sollten – nicht nur werbend, auch drohend. Wir verdanken Lorenz Fries eine zeitgenössische Chronik des Krieges. Hinzu kommen die Verhörprotokolle nach der Niederlage. Wir sind gut informiert.
taz: Sie nutzen in Ihrer Studie auch Gemälde als Quellen. In Bildern von Albrecht Dürer kommt die Verachtung der Städter für die Bauern zum Ausdruck, die oft als dumm, lächerlich und triebgesteuert dargestellt werden …
Roper: Ja, bei Dürer gibt es herabwürdigende Darstellungen von Bauern. Aber nicht nur. Das Bild „Drei Bauern im Gespräch“ zeigt sie nicht als Stereotyp, sondern mit Attributen anderer Klassen. Das Bild der Bauern veränderte sich um 1520. Es wurde plötzlich positiv. Die Bauern kamen in Mode. Karlstadt, Theologe und anfangs Mitstreiter von Luther, spielte mit dem Gedanken, Bauer zu werden. Thomas Müntzer auch. Zurück aufs Land! Der evangelische Bauer tauchte als der wahre Christ auf.
taz: Ein gängiges Urteil lautet: Die Bauernrevolte hatte kein Programm und keine neue Ordnungsidee. Stimmt das?
Roper: Überhaupt nicht. Das Programm für das Wichtigste zu halten, ist der falsche Ansatz. Dann sucht man nach Schriften, Anführern, Ideen. Wenn man so vorgeht, versteht man nichts. Diese Revolution war ein komplexer, schneller Lernprozess, in dem übrigens auch schlicht die Zeit fehlte, Ideen zu fixieren. In dieser Revolution kann man Ideologie und Handlung nicht trennen. Wir reden aber besser von Träumen als von Ideologie. Für diese Träume waren plötzlich Hunderttausende bereit ihr Leben zu riskieren. Warum taten sie das? Das ist zentral.
taz: Revolution ist ein moderner Begriff, den wir seit 1789 kennen und der einen Zukunftsentwurf einschließt. Wollten die Bauern aber nicht eher zurück zu einem Zustand ohne Leibeigenschaft und hohe Steuern? Ist Revolution dafür ein brauchbarer Begriff?
Roper: Ich zweifele, ob es viel bringt, zu entscheiden, ob der Bauernkrieg die Medaille Revolution verdient oder nicht. Ich benutze den Begriff im Sinne eines großen, bedeutenden Ereignisses. Und ich denke an die Titelseite der Flugschrift „Pamphlet an die gemeine Bauernschaft“, die Fortuna zeigt, die ein Rad dreht. Darauf wandern Päpste, Kardinäle nach unten und die Bauern nach oben. In diesem Sinn ist Revolution ein zutreffender Begriff.
taz: Aber der Zeitbegriff war 1525 anders. Es gab die sichere Erwartung, dass die Apokalypse bevorstehe – morgen, in einem Jahr, in 50 Jahren. Wie wichtig war dieses Zeitbewusstsein?
Roper: Das ist eine schöne, aber komplizierte Frage. Es gibt wunderbare Bücher über die Bedeutung des apokalyptischen Bewusstseins im 16. Jahrhundert. Wir finden bei Müntzer und auch bei Luther diese apokalyptische Rhetorik. Aber wir kennen auch Fälle, die ein anderes Bild ergeben. Michael Stifel war Pastor, ein Bekannter von Luther. Er glaubte, dass die Apokalypse vor der Tür stehe, verschenkte seine Bücher und wartete auf das Ende. Er wurde festgenommen und für verrückt erklärt. Es gab also etwas Doppeltes: Man glaubte an die Apokalypse, aber wer sein Tun danach ausrichtete, wurde nicht ernst genommen.
taz: Das Zeitbewusstsein war auch anders. Im 16. Jahrhundert herrschte ein zyklisches Zeitverständnis, das die Wiederkehr der Jahreszeiten spiegelte. Es gab keine Idee von linearem Fortschritt.
Roper: Die Bauern waren vom Zyklus der Jahreszeiten geprägt. Aber sie dachten nicht ahistorisch. Das bäuerliche Handeln änderte ja sich ständig. Sie planten, was sie pflanzen wollten. Sie produzierten für den Markt und kalkulierten, was sich lohnte. Karl Marx hat die Bauern mit einem Sack Kartoffeln verglichen. Das ist ein schiefer Vergleich. Die Bauern planten, handelten, dachten. Nur deshalb konnten sie diesen Aufstand organisieren.
taz: Die zwölf Artikel der Bauernbewegung gelten als das erste menschenrechtliche Dokument in Deutschland. Führt eine gerade Linie von 1525 zu Aufklärung und individuellen Rechten?
Roper: Nein, das ist keine gerade Linie. Wenn man individuelle Rechte und Aufklärung zur Messlatte macht und 1525 als einen unfertigen Vorläufer betrachtet, übersieht man das Wesentliche.
taz: Was?
Roper: Es ging 1525 nicht in erster Linie um ein politisches Programm, das zufällig in religiöser Sprache verfasst wurde. Es ging um die religiöse Überzeugung selbst, eine bäuerliche Theologie. Im dritten der zwölf Artikel fordern die Bauern die Abschaffung der Leibeigenschaft und damit ihre Freiheit. Die Begründung lautet: Christus hat alle mit seinem „kostbarlichen Blutvergießen erlöst“, Arme wie Reiche. Deshalb „ist mit der Schrift bewiesen, dass wir frei sind und sein wollen“. Das ist fantastisch formuliert. Die Abschaffung der Leibeigenschaft wird religiös begründet. Weil nur Gott der Herr ist, darf kein Mensch Herr eines anderen sein. Diese religiös begründete Ablehnung der Leibeigenschaft ist übrigens prinzipiell, während sich die aufklärerische Vorstellung von Freiheit bekanntlich zumindest anfänglich mit der Praxis der Sklaverei vereinbaren ließ.
taz: Diese religiöse Freiheitsidee ist der Schlüsselbegriff der Revolte?
Roper: Ja, Christus hat für uns gelitten und unsere Freiheit mit seinem Blut erkauft. Die bäuerliche Vorstellung von Freiheit ist auch nicht individuell, sondern bezogen auf die Rechte und Pflichten der Gruppe im Wechselspiel mit der Natur, mit der Schöpfung als Ganzes. Sie ist nicht mit Privateigentum verbunden. Auch das unterscheidet die bäuerliche Revolte von bürgerlichen Revolutionen. Freiheit meinte 1525 weniger individuelle Rechte als eine Struktur sozialer, ökologischer Beziehungen. Dieser kollektive Begriff von Freiheit scheint mir breiter und anders zu sein als das, was wir mit der Aufklärung verbinden.
taz: Sagt uns das heute noch etwas? Vielleicht können mit diesem gemeinschaftlichen, ökologischen Freiheitsbegriff indigene Gruppen in Lateinamerika, die Aufklärung als kolonialen Import kennengelernt haben, mehr anfangen als Metropolenbewohner?
Roper: Auch Metropolenbewohner können sich fragen, ob uns unsere Ideen von Besitz und Individualismus angesichts von Ausbeutung und Klimawandel wirklich weiterhelfen. Es ist auch sinnvoll, sich den Anfang unserer Welt anzuschauen. Denn die Monopolisierung von Reichtum in wenigen Händen begann im 16. Jahrhundert mit den Fuggern. Reichtum und politischer Einfluss sind nicht erst seit Elon Musk verkoppelt. Mir scheint es anregend zu sein, dass die Bauernbewegung vor 500 Jahren die Welt nicht als Besitz, sondern als Gottes Schöpfung betrachtet hat. Das ist eine Bereicherung unserer Denkmöglichkeiten.
taz: Gab es nach der Niederlage eine systematische Rache an den Bauern, die das übliche Maß an Postkriegsgewalt überstieg?
Roper: Es gab eine Choreografie der Erniedrigung. Wir wissen von Lorenz Fries, dass es Hinrichtungstouren gab. Henker reisten von Stadt zu Stadt und köpften Dutzende, die die Aufständischen unterstützt hatten. Normalerweise wurde außerhalb der Stadtmauern hingerichtet. 1525 fanden die Exekutionen auf den Marktplätzen statt, also an dem Ort, an dem Bauern ihre Waren verkauften. Und die Stadtbewohner mussten zuschauen.
taz: Ein Schauspiel des Terrors mit der Botschaft „Nie wieder Aufstand“?
Roper: Das war das Ziel dieser Gewalt. Aber diese Gewaltaktionen waren nicht umfassend. Es war schlicht nicht im Interesse der Fürsten, ihre Leibeigenen abzuschlachten. Nach 1525 wurden Aufständische verfolgt, sie mussten hohe Strafen zahlen. Aber es gab auch einen gewissen Grad an Aushandlungsmöglichkeiten und Milde gegenüber Armen, die von Strafen überfordert waren. Diese Mischung von Gewalt und Milde war typisch für vormoderne Herrschaft.
taz: Hatte die Niederlage der Bauern Tiefenwirkungen?
Roper: Der Bauernkrieg hat das Verhältnis der Landbevölkerung zur Reformation verändert. Jahrzehnte nach 1525 wunderten sich evangelische Pfarrer, dass sie bei Bauern auf Widerstreben stießen. Diese bäuerliche Skepsis war eine Antwort auf Luthers radikale Wendung gegen die Bauern. Seitdem war für viele Bauern die Reformation nicht mehr ihre Sache, sondern die der Herren.
Lyndal Roper,71, wuchs in Australien auf, ist Historikerin und Expertin für die Frühe Neuzeit. Sie ist die erste Frau, die die Regius-Professur in Oxford innehat. Berühmt wurde sie 2016 mit ihrer Biografie über Luther, an der sie zehn Jahre lang gearbeitet hatte. „Für die Freiheit“ erschien 2024 im Fischer Verlag.
taz: Wir sind es gewohnt, den Bauernkrieg als Auseinandersetzung von Luther und Müntzer zu verstehen, mit Müntzer als Che Guevara des 16. Jahrhunderts. War dieses Feindespaar so zentral?
Roper: Müntzer war wichtig, aber man sollte seine Wirkung nicht überschätzen. Selbst in Mühlhausen war er nicht der einzige Prediger. Es hätte ohnehin niemand diese Bewegung, die von Thüringen bis in das Elsass reichte, dominieren können. Luther war die Schlüsselfigur der Reformation, die eine wesentliche Grundlage des Aufstands war. Pointiert gesagt hat Luther Müntzer bis zu einem gewissen Grad als sein nützliches Gegenteil kreiert.
taz: Inwiefern?
Roper: Luther wurde ständig von Anfechtungen geplagt, nicht auf Gottes Seite zu stehen. Der Beweis, dass er auf der rechten Seite stand, war, dass der Teufel, Müntzer, ihn angriff. Luther brauchte Müntzer als Vehikel, um die Angriffe der Kirche auf ihn, den Reformator, abzuleiten. Das ist die Falle, die Luther gebaut hat. Das war keine bewusste Inszenierung, aber der Zusammenhang.
taz: Kennen Sie die Serie „Beforeigners“?
Roper: Nein.
taz: Es geht um eine umgedrehte Zeitreise: Figuren aus der Steinzeit, Adelige aus dem 19. Jahrhundert, Wikinger steigen aus dem Meer vor Oslo. Die Norweger versuchen, diese seltsamen Fremden mit Diversity-Programmen zu integrieren. Übertragen auf 1525: Könnten wir heute mit Müntzer und Luther sprechen?
Roper: Ja, warum nicht? Historiker sprechen immer mit der Vergangenheit. Manche Historiker meinen zwar, die Geschichte des 16. Jahrhunderts sei so fern, dass wir von keinen Gemeinsamkeiten ausgehen dürfen und vieles missverstehen. Ich teile das nicht. In diesen 500 Jahren hat sich die Psychologie nicht so grundlegend verändert, dass wir nicht miteinander auskommen könnten. Die Sprache des 16. Jahrhunderts ist anders als das heutige Deutsch. Aber sie ist sehr schön.
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