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Engerwohnen

Viele Wohnungen in den Großstädten sind überbelegt. Selbst Familien mit durchschnittlichem Einkommen müssen mit sehr wenig Raum auskommen. Auch Jenny und Dustin Wrembel betrifft das Problem.Und nun?

Ein gemeinsames Essen mit der Familie? Bei Jenny (l.) und Dustin Wrembel (r.) ist zu wenig Platz in der Küche

Aus Berlin Anna Fastabend (Text) und Sophie Kirchner (Fotos)

Dustin Wrembel öffnet die Wohnungstür. „Hi“, sagt er und schüttelt Alex Pavicic die Hand. Er bittet den Tischler hinein. Von links ragt ein bunter Wust aus Jacken in den kleinen Flur, an der gegenüberliegenden Wand steht ein Schuhschrank im Skandi-Design, an dem Einkaufsbeutel und ein winziger Fuchs-Rucksack hängen. Dustin und seine Partnerin Jenny Wrembel rücken noch mal dichter zusammen, damit auch Alex Pavicic in den Flur passt. Sie sind mit ihm verabredet, weil er Maß nehmen will für zwei Hochbetten, die in ihre Mietwohnung eingebaut werden sollen. Denn spätestens seit der Geburt ihres zweiten Kindes haben die Wrembels ein Problem: Sie leiden unter Platzmangel.

In den vergangenen Jahren hat sich die Wohnsituation für viele Familien in den deutschen Großstädten dramatisch verschlechtert. Laut dem Statistischen Bundesamt lebten 2023 rund 17 Prozent der Stadt­be­woh­ne­r*in­nen in einer zu kleinen Wohnung, das entspricht in etwa je­de*m sechsten. Besonders unter Wohnraummangel leiden der Erhebung zufolge armutsgefährdete Personen, Alleinerziehende und Menschen mit ausländischem Pass – zunehmend aber auch Familien aus der Mittelschicht, wie der Deutsche Mieterbund, das Verbändebündnis Wohnungsbau und die Diakonie Deutschland sagen.

Dass auch sie einmal davon betroffen sein würden, hätten die Wrembels nie gedacht. Immerhin arbeitet Jenny Wrembel, 34, als Gesundheits- und Krankenpflegerin in einem großen Krankenhaus und Dustin Wrembel, 37, als Erzieher in einer Kita. Beides relativ krisensichere Jobs, die ihnen ein regelmäßiges Einkommen sichern. Doch selbst das ist in einer Stadt wie Berlin schon lange keine Garantie mehr, eine angemessene Wohnung zu finden – oder gar noch mal umzuziehen.

In ihrem Wohnzimmer erzählen die Wrembels ihre Wohnbiografie, die den Erfahrungen vieler Millennials ähneln dürfte. Jenny Wrembel, eine Frau mit jugendlichem Gesicht und braunem Pferdeschwanz, kommt ursprünglich aus der Kleinstadt Erkner in Brandenburg; Dustin Wrembel, ein Mann mit abrasierten Schläfen und einem kleinen blonden Zopf am Hinterkopf, ist in den Achtzigern im selben Stadtteil aufgewachsen, in dem sie heute wieder wohnen – im ehemaligen Arbeiterbezirk Berlin-Wedding. „Ich bin so ein richtiges Ghettokind“, sagt er. Die Kindheit verbrachte er in einer geräumigen Altbauwohnung, an die er wehmütig zurückdenkt. „Ich hatte ein Kinderzimmer, das war größer als unser jetziges Wohnzimmer, bei einer Miete, die nur etwa halb so hoch war wie unsere Miete heute.“ Dieser Teil des Wedding sei jedoch unbezahlbar für Leute wie sie geworden. „Wir werden zunehmend an den Rand gedrängt.“

Kennengelernt haben sie sich im Fitnessstudio. Er ging dort fünf Mal die Woche trainieren, sie ab und zu. Die beiden verliebten sich, er zog bei ihr ein: in ihr kleines Einzimmerapartment nahe S-Bahnhof Wedding. Eine schöne, aber anstrengende Zeit folgte: Denn nun musste Jenny Wrembel, die damals schon im Schichtdienst arbeitete, nicht nur mit dem Gepiepe ihrer Wellensittiche klarkommen, sondern auch mit seinem Gedaddel, weshalb sie ihn zum Computerspielen in die Küche komplimentierte. Sie hätten schnell realisiert, dass das auf Dauer nicht die Lösung sein konnte, zu zweit auf engstem Raum. Aber Umziehen war auch 2017 schon schwierig. Für ihre jetzige Wohnung habe es etliche Mit­be­wer­be­r*in­nen gegeben, sagen die Wrembels. Unverhofft bekamen dann aber ausgerechnet sie die Zusage für die 65-Quadratmeter-Wohnung mit zweieinhalb Zimmern, Küche, Bad und einer kleinen Loggia, in der seither ihre mittlerweile zehn Jahre alten Wellensittiche, „die Rentner“, leben.

Wenn die Wrembels aus dem Küchenfenster blicken, sehen sie auf dürre Birken und parkende Kleinwagen, wenn sie hintenraus blicken, auf einen Innenhof mit dem Charme eines Nullachtfuffzehn-Bolzplatzes. Trotzdem freuten sie sich, als sie vor rund sieben Jahren in den ersten Stock der 1930er-Jahre-Mietskaserne im Afrikanischen Viertel ziehen konnten. Okay, die herumlungernden Menschen vor dem nächstgelegenen Späti bereiteten ihnen etwas Unbehagen, dafür lag das neue Zuhause genau zwischen ihren beiden Arbeitsstätten und bot ihnen genügend Raum für ihre Vorstellung von einem guten Leben. Ein Zimmer bauten sie zum Fitnessraum aus, das andere nutzten sie zum Fernsehen, Zocken und Freun­d*in­nen-Empfangen, das Schlafzimmer legten sie in die 10 Quadratmeter kleine Kammer.

Doch dann kam das erste Kind, und sie mussten näher zusammenrücken, drei Jahre später kam das zweite – und es wurde eng. Zuerst flog das Sport­equipment raus, dann wanderten seine Lego- und ihre Britney-Spears-Sammlung in den Keller. Die beiden zogen aus der kleinen Kammer, die sie zum Wickel- und Spieleraum umfunktionierten, in eines der beiden größeren Zimmer – und wieder zurück, wo sie momentan auf einer Matratze am Boden schlafen. Den großen Raum gleich gegenüber haben sie ihrer vierjährigen Tochter und dem einjährigen Sohn überlassen – unverkennbar das Kinderzimmer mit jeder Menge Spielzeug und einem Wandtattoo in verschnörkelter Schrift. „Aber jetzt ist der Kleine in so einem Alter, wo er der Großen immer alles kaputt macht“, sagt Jenny Wrembel. Ihre Tochter bastele etwas, und der kleine Bruder schneide rein, sie male ein Bild und er male drüber.

Der Tischler Alex Pavicic steht nun mit einem Lasermessgerät in der kleinen Kammer und misst sie aus. Er ist Mitgeschäftsführer von „Hardys Hochbetten“. Die kleine Tischlerei gibt es seit etwa 50 Jahren in Berlin, und sie hat fast schon Kultstatus. Kaum eine Kreuzberger WG kam im damals noch geteilten Berlin ohne eines von Hardys Hochbetten aus. Heute reicht das Angebot von einfachen Holzkonstruktionen bis hin zu aufwendigen Spezialbauten, die so wirken, als würden sie schweben. Bei rund 2.500 Euro pro Hochbett fange es an, nach oben hin sei die Grenze offen. „Deshalb werden wir auch meistens von Familien beauftragt, die mit ihrem Budget zwar keine neue Wohnung finden, die aber zumindest ein wenig finanziellen Spielraum haben“, sagt der Tischler, der als Praktikant im Betrieb anfing, Gefallen an der Arbeit fand und blieb. Und die Geschäfte liefen gut, erzählt er. Aufträge würden sie aus fast allen Stadtteilen Berlins erreichen. Für ein Hochbett nähmen die Familien oft mehrere Monate Wartezeit in Kauf.

„Für mich ist Berlin die Stadt der Hochbetten“, sagt Pavicic – und man will es ihm gerne glauben. Es strömen ja pausenlos neue Menschen hierher, die der geistigen Enge ihrer Heimat entfliehen, sich nun aber mit den begrenzten Platzverhältnissen einer Metropole herumschlagen müssen. Da ist es natürlich von Vorteil, dass die Deckenhöhe vieler Berliner Altbauten oft zwischen drei und vier Metern beträgt und man so ohne viele Abstriche ein Hochbett einbauen kann – oder gleich eine zweite Ebene. Doch daneben gibt es hier auch viele Gebäude, bei denen das schon etwas kniffliger ist. „Unsere Gegner sind meistens nicht die Wände, sondern die niedrigen Decken“, sagt Pavicic. Es gebe Neubauten, bei denen man höchstens ein Stockbett für Kinder einbauen könne oder ein Podestbett, was den Vorteil habe, dass es unter der Liegefläche Stauraum gibt.

Die Wrembels haben sich für zwei Hochbetten aus Kiefernholz entschieden. Eines der beiden Betten soll in die Kammer gebaut werden, die künftig das Zimmer der Tochter sein wird, und eines ins Wohnzimmer, wo dann über Sofa, Couchtisch und PC-Arbeitsplätzen Jenny und Dustin Wrembel schlafen werden. Die Deckenhöhe in ihrer Wohnung ist mit 2,80 Metern für den Einbau allerdings ein Grenzfall. Wenn man das Kinderhochbett über die Kammertür bauen wollte, müsste man den Eingang baulich verändern, sagt Pavicic, aber ein solcher Eingriff fällt in einer Mietwohnung eher flach. Der Einbau eines Hochbettes ist laut Rechtsprechung nur so lange genehmigungsfrei, wie man dabei keine Eingriffe in die Bausubstanz vornimmt.

Es wird also ein Hochbett seitlich an der Wand. Nun macht sich der Vater aber Sorgen, ob die Leiter zu nah am Fenster stehen und die Tochter von dort aus aufs Fensterbrett klettern und hinausfallen könnte, aber Alex Pavicic beruhigt ihn. „Die Leiter geht nur bis hierher“, sagt er und zeigt auf ein Stückchen Wand. „Und wie hoch soll das Geländer werden?“, fragt er. Jenny und Dustin Wrembel überlegen. „Ich sag immer: Alles über 80 Zentimeter sind Helikoptereltern“, sagt Pavicic, und die Wrembels lachen. Ob sich in ihr Lachen wohl auch etwas Galgenhumor gemischt hat? Verstehen würde man es. Denn der Einbau geschieht ja nicht, weil die Wrembels so gerne in luftiger Höhe schlafen, sondern weil auf dem Boden so wenig Platz ist.

Die aktuelle Wohnungsnot in den Großstädten sei kein gänzlich neues Phänomen, sagt Saskia Gränitz. Gränitz ist Soziologin und hat sich auf das Thema Wohnungskrise spezialisiert. „Heute sind wir wieder mit ganz ähnlichen Problemen konfrontiert wie zu Zeiten der Industrialisierung“, sagt sie. Nach einer Hochphase des Wohnens, die eng mit dem Ausbau des Sozialstaats in der Nachkriegszeit zusammenhing, sei es im Prinzip ab der Ölkrise in den 1970er Jahren bergab gegangen. „Natürlich sind die Zustände heute nicht so desolat wie in einer Mietskaserne um die Jahrhundertwende“, sagt sie. „Aber auch heute leben die Menschen wieder in überbelegten Wohnungen, ungesicherten Mietverhältnissen und gesundheitsgefährdenden Umgebungen mit undichten Fenstern und Schimmel an der Wand.“

Saskia Gränitz sprach für ihre empirische Studie nicht etwa mit armen oder mittellosen Menschen, ihre Begründung ist alarmierend: „Für diese Gruppe gibt es faktisch sowieso keine Angebote mehr auf dem freien Mietmarkt.“ Gränitz schaute sich die Lage von Durchschnittsverdienenden an, für die die Erfahrung der Wohnungsnot biografisch neu und damit oft gar nicht so leicht als solche zu beschreiben war. „Da gab es beispielsweise einen jungen Mann, der kam übergangsweise immer wieder im Büroraum eines Freundes unter, wenn seine Zwischenmiete mal wieder auslief“, berichtet sie. Der sei, erzählte er 2017, fünf Jahre auf „Zwischenmietehopping“ gewesen, dabei habe er damals 1.400 Euro netto verdient. „Allerdings in einem Start-up ohne festen Arbeitsvertrag, und das hat dann dazu geführt, dass er einfach keinen Fuß in den Münchner Wohnungsmarkt bekommen hat.“ Als jemand, der in prekären Zuständen lebt, habe er sich aber trotzdem nicht wahrgenommen.

Anders Familie Wrembel. „Mittelstand sind wir schon lange nicht mehr“, sagt Dustin Wrembel. „Bloß systemrelevant“, ergänzt seine Partnerin Jenny. Während der Coronapandemie habe man ihren Berufsgruppen noch applaudiert, doch davon könne man sich leider nichts kaufen. Dustin Wrembel zählt auf: Die Mieten steigen, die Preise für die Lebensmittel auch. „Da müssen wir uns jetzt schon um einiges stärker einschränken als früher.“ Und damit wird ein Umzug natürlich noch mal unwahrscheinlicher.

„Ich habe meinen Wunsch vom eigenen Haus abgehakt. Das war wichtig für mein Seelenheil – so wie die Umgestaltung unserer Wohnung auch“

Jenny Wrembel, Mieterin

Er habe gehört, sagt der Erzieher Dustin Wrembel, dass sich Kitas in manchen Gegenden Berlins vor Anfragen kaum retten könnten, während Kitas in anderen Kiezen die Schließung drohe. Und so hat das, was anderswo längst Normalität ist, auch die Hauptstadt erreicht: hier ein Stadtteil mit jungen Reichen, dort einer mit vermögenden Greisen – und in den engen Zwischenräumen stapeln sich die Familien bis zur Decke. 2023 etwa galt jede sechste Stadtwohnung als überbelegt, 2012 war es hingegen nicht mal jede zehnte, wie das Portal Immoscout 24 vermeldete. Für seine Berechnung berief es sich auf eine Definition der EU-Silc-Erhebung zu den Lebensbedingungen in der Europäischen Union. Demnach liegt eine Überbelegung unter anderem dann vor, wenn es in einer Wohnung keinen separaten Gemeinschaftsraum gibt, kein eigenes Schlafzimmer pro Paar oder bei Teenagern unterschiedlichen Geschlechts.

Doch warum ist die aktuelle Lage auf dem Mietmarkt derart desolat?

Ein Anruf bei Theresa Keilhacker. Als Präsidentin der Berliner Architektenkammer verfügt sie über einen guten Überblick. Keilhacker nennt eine weitere Krise als Katalysator für das Problem: „Spätestens seit der Finanzkrise 2008 erhöhte sich sukzessive der Druck auf den Wohnungsmarkt.“ Berlin habe landeseigene Bestände an große Investoren verkauft, die oft wenig in die Gebäude investierten. Manche Immobilien würden leer gezogen, um sie luxuriös zu sanieren und gewinnbringend weiterzuverkaufen. Gleichzeitig seien viele soziale Bindungen ausgelaufen. Sprich: Ehemalige Sozialwohnungen wurden Teil des freien Marktes. Zur Kompensation sollten die Berliner Wohnungsbaugesellschaften in den vergangenen Jahren wieder vermehrt neu bauen: „Um auf die politisch festgelegten Stückzahlen zu kommen, bauten sie viele Mikroapartments“, sagt Theresa Keilhacker – also Single-Wohnungen. Oder aber nicht bezahlbare Familienwohnungen. Hinzu komme der Trend privater Immobilienbesitzer*innen, Wohnungen möbliert anzubieten, um die Mietpreisbremse zu umgehen. Und der Personalmangel bei den Bezirken erschwere, effektiv gegen illegale Ferienwohnungen und Leerstand vorzugehen.

Wenn man es so nimmt, ist auch Familie Wrembel Teil der Gentrifizierungswelle, die rollt und rollt. Das Mehrfamilienhaus, in dem sie heute leben, gehöre einer Schweizer Immobilienfirma, erzählen sie. Bei der Besichtigung habe man ihnen damals mitgeteilt, dass die alten, einkommensschwachen Mie­te­r*in­nen peu à peu gegen neue Besserverdienende ausgetauscht werden sollen. Mit anderen Worten: gegen Leute wie sie. Mit der Begründung, dass ihre Wohnung hochwertig renoviert worden sei, sei die Miete beim Einzug von 720 Euro auf 890 Euro erhöht worden. „Dabei gehört das, was die hier gemacht haben, zum absoluten Standard“, sagen sie. Also ließen sie sich vom Berliner Mieterverein beraten und wehrten sich erfolgreich vor Gericht. Mit Berufung auf die Mietpreisbremse konnten sie die überteuerte Miete herunterklagen und bekamen das zu viel bezahlte Geld zurück.

Ein kleiner Erfolg, der sie aber nur spärlich darüber hinwegtröstet, dass sie immer noch hier in dieser viel zu eng gewordenen Wohnung leben. Denn wenn es nach Jenny und Dustin Wrembel ginge, wären sie schon längst umgezogen, in ein geräumigeres Zuhause, das in einer besseren Gegend liegt. „Doch heute werden bezahlbare Wohnungen nur noch mit WBS vermietet“, sagt Dustin Wrembel und meint damit den Wohnungsberechtigungsschein, mit dem Geringverdienende in eine staatlich geförderte Sozialwohnung ziehen können.

Nach der kleinen Kammer misst Tischler Alex Pavicic nun das Wohnzimmer aus, das künftig auch das Schlafzimmer von Jenny und Dustin Wrembel sein wird. Das Hochbett, das hier hineingebaut werden soll, ist schon etwas komplizierter. Denn zum normalen Schlafbereich soll es eine Ablagefläche über der Tür geben und eine Kindersicherung für die Leiter. „Wie groß bist du?“, fragt Alex Pavicic seinen Auftraggeber. „Ein Meter zweiundachtzig“, antwortet Dustin Wrembel. „Dann wirst du gerade so drunter stehen können“, sagt der Tischler, „aber aufrecht oben sitzen können wirst du nicht.“

Bevor sie auf die Idee mit den Hochbetten kamen, hätten sie vieles ausprobiert, erzählen die Wrembels – etwa die Suche nach einer größeren, bezahlbaren Wohnung in Berlin oder in Jenny Wrembels ehemaliger Heimat Erkner. Aber dort seien mit dem Bau von Tesla – Elon Musks Unternehmen ist gleich nebenan angesiedelt – die Preise in die Höhe geschossen. Während der Pandemie wuchs dann der Wunsch nach etwas Eigenem. „Ich hatte immer diesen Traum von einem Häuschen im Grünen, wo ein kleines Stück Garten dabei ist“, sagt Jenny Wrembel, die in ihrer Kindheit oft bei den Großeltern war, die Tiere hatten und viel Platz. So ein Leben hätte sie gerne auch ihrer Familie ermöglicht. „Denn man bekommt ja schon manchmal ein schlechtes Gewissen mit zwei Kindern in der Großstadt.“

Weil Berlin und Brandenburg zu teuer waren, suchten die Wrembels in Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen. Sie standen mit der Stadt Cuxhaven in Kontakt und mit der Sparkasse, sie bekamen Angebote und Infos zu Bauprojekten, die jedoch immer wieder scheiterten. Dann stiegen während der Pandemie plötzlich die Preise: Grundstücke, die zuvor noch erschwinglich waren, lagen plötzlich bei einer halben Million aufwärts, erzählen sie. Auch die Baupreise explodierten – also wurde aus dem Eigenheim nichts.

„Kommt doch nach Sachsen-Anhalt“, hätte eine Bekannte vorgeschlagen, erzählen sie. Dort seien die Häuser ja bis heute oft relativ günstig, aber dann eben meistens auch sanierungsbedürftig und so weit abgelegen, dass man einen Führerschein bräuchte, den Jenny Wrembel nicht hat. Aber selbst mit Auto wolle man ja nicht ständig unterwegs sein, sagen die Wrembels: „Das geht ja alles von deiner Freizeit ab.“ Jetzt brauche er zwei Minuten mit dem Auto zur Arbeit und sie fünf Minuten mit dem Bus. Ihnen sei eine gute Work-Life-Balance wichtiger als ein Haus um jeden Preis.

Laut der Hamburger Wohnpsychologin Antje Flade sind das genau die Abwägungsprozesse, die sie immer wieder beobachtet hat. Dabei wenig überraschend: Auch aus psychologischer Sicht ist die eigene Wohnung einer der wichtigsten Faktoren in puncto Lebensqualität. Oder, wie Antje Flade es ausdrückt: „Sich wohl fühlen ist ein Grundverlangen des Menschen, und das hängt ganz entscheidend von der eigenen Wohnumwelt ab.“

Aber wie muss die aussehen, damit man zufrieden ist?

Für ihre Antwort holt Antje Flade ein wenig aus. In den 1920er Jahren hätte das Bauhaus ein interessantes Modell namens „Wohnung für das Existenzminimum“ entwickelt, erzählt sie. Demnach sei eine Möglichkeit zum Kochen, Waschen und Schlafen unerlässlich. Für das Schlafzimmer setzten die Architekten eine Größe von sechs Quadratmetern an, Klaustrophobie inklusive. Zu einem ähnlichen niedrigen Ergebnis kommt das Berliner Wohnungsaufsichtsgesetz, das eine Mindestwohnfläche von 9 Quadratmetern pro erwachsener Person und eine Mindestwohnfläche von 6 Quadratmetern für Kinder bis sechs Jahre vorsieht.

„Wir sind wieder mit ganz ähnlichen Problemen konfrontiert wie zu Zeiten der Industrialisierung“

Saskia Gränitz, Soziologin

Wohnen sei jedoch mehr als bloße Existenzerhaltung, sagt die Psychologin. Wer auf lange Sicht gesund und glücklich bleiben wolle, brauche ein Zuhause, das nach den eigenen Vorstellungen gestaltet werden kann. Im Falle der Wrembels hebt sie positiv hervor, dass diese Entscheidungsmöglichkeiten haben: „Ich denke, solange die Leute noch Ideen haben und diese auch umsetzen können, ist es ungeheuer gut.“ Laut Antje Flade gibt es aber auch Grenzen, die bei Familie Wrembel zwar noch nicht erreicht, aber zumindest angekratzt sind. Denn kritisch werde es immer dann, wenn es zu wenige Räume gibt, um sich auch mal zurückzuziehen, und diese Räume darüber hinaus auch noch zu klein sind, um gemeinsam Zeit zu verbringen.

„Wenn ich meine Ruhe haben möchte, gehe ich in die Küche“, sagt Jenny Wrembel halb im Scherz. Auch heute, beim zweiten Termin, wo endlich das Hochbett für sie und Dustin Wrembel gebaut wird, hat sich das Paar wieder Urlaub genommen. Aus dem Wohnzimmer gleich nebenan sind Sägearbeiten zu hören, im Topf auf dem Herd köcheln die Kartoffeln. Die Kinder sind bei den Großeltern, Jenny Wrembel paniert Schnitzel, Dustin Wrembel bereitet Gurkensalat zu.

Die Küche, in der sie stehen, ist bloß ein schmaler Schlauch. Jeder Zentimeter ist vollgestellt mit Kochutensilien, Flaschen und Erinnerungen, freien Platz gibt es kaum. Jenny Wrembel erzählt, dass sie sich ihre „Ruheinseln“ beim Playstationspielen oder mit dem Lesen von Produkttests verschaffe, während Dustin Wrembel in das Computerspiel „God of War“ abtauche, wo er als mythologischer Krieger allerhand Abenteuer bestehen muss. „Und der kann sich gut absenken“, sagt Jenny Wrembel. „Das würde ich auch gerne können.“

Und wie sieht es mit Besuchen aus?

Seine Eltern hätten damals noch riesige Partys veranstaltet und da hätten alle einen Sitzplatz gehabt, erzählt Dustin Wrembel. Wenn sie Leute zu sich einladen, müssten die sich auf verschiedene Zimmer aufteilen. „Bei den Babypartys war es richtig katastrophal, da haben wir manche Leute sogar erst zwei Stunden später eingeladen, damit es einen fliegenden Wechsel gab.“ Doch was sie am meisten störe, sei die Sache mit dem gemeinsamen Abendbrot. „Das geht momentan leider nicht wirklich“, sagt Jenny Wrembel. In der Küche ist nämlich nur Platz für drei Stühle, also esse sie meistens mit den beiden Kindern am Tisch und Dustin Wrembel im Wohnzimmer – außer er geselle sich halb stehend auf einem Hocker dazu.

Platzmangel? Alex Pavicic von Hardys Hochbetten hätte da eine Lösung

Während „familiengerechtes Wohnen“ bis in die 1990er Jahre hinein gesellschaftlich und politisch noch eine wichtige Rolle gespielt habe, werde man den Bedürfnissen der Familien heute nicht mehr gerecht – und das könne auf lange Sicht psychisch und körperlich krank machen, sagt Psychologin Antje Flade. Überstimulation und Bewegungsmangel würden Stress verursachen, der bei Kindern zu Verhaltens­auffälligkeiten und einem Leistungsabfall in der Schule führen kann.

Das weiß auch der Erzieher Dustin Wrembel, weshalb er vermutlich auch schon früher als andere Eltern dafür gesorgt hat, dass seine beiden Kinder trotz beengter Wohnverhältnisse einen Raum für sich alleine bekommen. Während am Elternhochbett noch gewerkelt wird, kann das neue Kinderzimmer schon besichtigt werden. Es ist ein schönes, liebevoll eingerichtetes Zimmer geworden. Rechts das Hochbett in hellem, freundlichem Kiefernholz, darunter eine Spielecke. In den Regal­fächern Bilderbücher und durchsichtige Boxen für Kleinkram, die die Idee des Vaters gewesen sind, damit die Tochter beim Aufräumen auch weiß, wo was hingehört. Erst gestern habe sie wieder die Tür hinter sich zugemacht, erzählt Dustin Wrembel. „Und dann kam sie bunt wie ein Vogel wieder raus und hat Papagei gespielt.“

Seit ihrem Einzug hätten sie die Wände bereits vier Mal umgestrichen, erzählen die Wrembels: „Man verändert sich im Kopf, und dann braucht es eben auch ein neues Farbkonzept.“ Auch die Möbel tauschten sie mehrfach aus: erst Holz, dann Weiß, jetzt eine Mischung aus beide. Beim Einrichten griffen sie auch gerne auf Ebay-Kleinanzeigen zurück, zudem rüstet Dustin Wrembel die Wohnung derzeit in ein sogenanntes Smart Home um. Mit Sprachassistenten und LED-Fliesen, die per App angesteuert werden können. Und im Wohnzimmer, das ja nun bald auch das Elternschlafzimmer sein wird, gibt es wieder ein Fitnessgerät, eine All-in-one-Lösung aus der Schweiz, die so flach und schmal ist, dass sie fast nicht auffällt.

Man merkt, die Wrembels wollen es in ihrem kleinen Reich möglichst geordnet und komfortabel haben. Nichts soll herumstehen und schon gar nichts am falschen Platz. „Nur für unseren Kleiderschrank brauchen wir noch eine Lösung“, sagt Dustin Wrembel. Der steht aktuell im Zimmer des Sohnes. „Und da will ich in zehn Jahren ja nicht anklopfen müssen, um mir meine Sachen rauszuholen.“ Ach ja, und dann soll demnächst noch die Küche umgebaut werden. Einige der Unterschränke sollen durch Oberschränke ersetzt werden, damit Platz für einen richtigen Esstisch entsteht – aber immer mit der Ruhe, denn Umbauten seien teuer.

Erst flogen die Sportsachen raus, dann wanderte ihre Britney-Spears-Sammlung in den Keller

Sind politische Lösungen in Aussicht?

„Ich finde die Wohnungsnot in diesem Land verheerend“, sagt die Psychologin Antje Flade. Sie wolle da jetzt nicht politisieren, aber mit einer Finanzspritze hier und da könne man die Probleme der Familien nicht lösen, sondern nur mit vernünftigem Wohnungsbau. Wibke Werner vom Berliner Mieterverein sagt: „Wir benötigen Vermieter, die sich einer gemeinwohlorientierten Wohnraumversorgung verpflichtet sehen, und eine Sozialwohnungsquote, die auch für private Wohnungsunternehmen gilt.“ Und die Architektin Theresa Keilhacker fordert für Berlin eine stärkere Nachverdichtung im Inneren des S-Bahn-Rings mit dem Fokus auf bezahlbare Familien­wohnungen. Dafür könne man an geeigneten Kreuzungen durchaus mal höher bauen.

Derweil ist im neuen Koalitionsvertrag von einer „Investions-, Steuerentlastungs- und Entbürokratisierungsoffensive“ die Rede, die dafür sorgen soll, dass sich wieder mehr Menschen Eigentum leisten können und wieder mehr gebaut wird – auch mehr Sozialwohnungen. Gleichzeitig will die neue Regierung gegen überteuerte Mieten, möblierte und befristete Mietangebote vorgehen. Die Mietpreisbremse soll um weitere vier Jahre verlängert werden. Grüne und Linke kritisieren: Im Abschnitt „Bauen und Wohnen“ sei vieles zu vage gehalten oder lasch angesichts der ernsten Lage. Ob die neue Regierung ihren Job in Sachen Wohnungsbau wirklich besser machen wird als die alte, wird sich zeigen. Klar ist hingegen, dass in Deutschland aktuell mehrere hunderttausend Wohnungen fehlen.

Zumindest etwas helfen könnte die Aktivierung von „unsichtbarem Wohnraum“, wie Theresa Keilhacker vorschlägt. „Wir sprechen seit Jahren über eine Agentur, die Menschen, denen ihre Wohnung zu groß geworden ist, mit Menschen zusammenbringt, die eine größere Wohnung suchen“, sagt sie. Private Tauschbörsen gibt es schon, aber bei denen kommt erfahrungsgemäß selten ein Match zustande.

Jeden Quadratzentimeter nutzen, darin sind die Wrembels gut

Eine kommunale Agentur, erklärt Keilhacker, könne bei der sicheren Vermietung von Privatwohnungen helfen, indem sie Mietgarantien vergibt, eine Mietbegleitung bereitstellt und Renovierungen bezuschusst. Nach diesem Modell habe die Stadt Karlsruhe 1.300 Sozialwohnungen geschaffen. „Skaliert auf Berlin wären das rund 15.000 Sozialwohnungen“, sagt Keilhacker. Aber das ist alles Zukunftsmusik und damit nichts, was Familie Wrembel in ihrer jetzigen Lage helfen würde, und deshalb helfen sie sich selbst.

„Ich habe meinen Wunsch vom eigenen Haus abgehakt“, sagt Jenny Wrembel. „Das war wichtig für mein Seelenheil – so wie die Umgestaltung unserer Wohnung auch.“ Ein günstiges Angebot würde sie natürlich trotzdem nicht ausschlagen, sieht dies angesichts der aktuellen Lage aber eher pessimistisch. Und überhaupt: „Uns geht es ja noch verhältnismäßig gut“, sagt Dustin Wrembel. „Ich kenne eine Familie, da leben die Eltern mit vier Kindern auf 45 Quadratmetern – und das ohne Hochbett.“

Im Wohnzimmer verblendet ein Mitarbeiter von Hardys Hochbetten nun noch alle sichtbaren Schrauben mit Abdeckkappen aus Echtholz, dann ist das Elternhochbett fertig. Sind sie eigentlich wehmütig, weil in ihrem ehemals so akkurat eingerichteten Wohnzimmer jetzt dieses riesige neue Bettgestell in den Raum ragt? „Wehmütig nicht“, sagt Dustin Wrembel, „aber massiv ist es schon.“

Ein letzter Anruf: Und wie ist es jetzt mit dem neuen Bett? Können sie gut darauf schlafen?

Jenny Wrembel erzählt: Sie habe schon ein, zwei Nächte gebraucht, um damit zurechtzukommen. „Ich hatte Probleme mit der Nähe zur Decke“, sagt sie, was bei ihr zu Beginn schon etwas Panik ausgelöst habe. Außerdem werde es da oben sehr schnell warm – aber man gewöhne sich ja an alles.

Anna Fastabend ist Redakteurin der wochentaz und froh darüber, dass sie ein Zimmer für sich alleine hat.

Quelle: Statistisches Bundesamt

Quelle: Statistisches Bundesamt

Quelle: Statistisches Bundesamt

Quelle: Statistisches Bundesamt

Quelle:­ Berliner Mieterverein

Quelle: Hans-Böckler-Stiftung

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