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Krieg in der UkraineOstern ohne Auferstehung

Switlana vermisst ihren Mann. Der Pfarrer zelebriert am laufenden Band Trauerfeiern. Das Osterfest in Krywyj Rih ist dieses Jahr bedrückter als sonst.

Die Trauer ist allgegenwärtig in der Ukraine. auch zum Auferstehungsfest Foto: Grygorij Palij

Krywyj Rih taz | Ostern ist in der ukrainischen Tradition der wichtigste Feiertag, sogar wichtiger als Weihnachten. Man sagt, dass Ostereier stärker sind als kommunistische Propaganda. Eier wurden auch in der Sowjetzeit bemalt und Osterkuchen gebacken. Die Ostertraditionen werden auch im Krieg in Krywyj Rih weiter gepflegt.

Die bescheidene Sankt-Pantelejmon-Kirche befindet sich neben dem alten Friedhof der Geburtsstadt von Präsident Wolodymyr Selenskyj, nicht weit von den Plattenbauten des Stadtteils Zaritschnyi. Im Kirchhof bemerken die Leute häufig nicht, welche Sprache jemand benutzt. Krywyj Rih Stadt entwickelte sich aus mehreren kleinen Siedlungen entlang der Eisenerzvorkommen zum wichtigsten Metallurgiezentrum des Zarenreichs, dann der Sowjetunion und jetzt der Ukraine. Menschen aus vielen Ländern wanderten zu. In sämtlichen Familien gehört Zweisprachigkeit zum Alltag. Manche Leute sprechen Russisch, immer mehr ukrainisch, aus dem Gemisch der slawischen Sprachen entsteht Ssurzhyk.

Rund 300 Gemeindemitglieder bilden an diesem Ostersonntag eine lange Reihe. Alle tragen Osterkörbe. Der mittlere Preis des Korbes für eine 3-köpfige Familie liegt in diesem Jahr bei ca. 1300 Hryvna (32 Euro). Darin sind bunte Pysanky und Kraschanky (hartgekochte und traditionell bemalte Eier), Pasky (Osternkuchen aus süßem Hefeteig), Kagor (roter Süßwein); viele Leute bringen auch hausgemachte Wurst, Räucherspeck, Kuchen mit Fleisch, jungen Knoblauch und besonders leckere Quarkpasky mit.

Der Gottesdienst beginnt mit einer von Gott gesegneten Mahlzeit. Viele Leute treffen am Kirchhof Verwandte und Bekannte und machen gemeinsame Fotos. Die Frauen zeigen einander ihren Korbinhalt, wichtig ist auch der Austausch von Pysanky.

Krieg in der Ukraine

Mit dem Einmarsch im 24. Februar 2022 begann der groß angelegte russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Bereits im März 2014 erfolgte die Annexion der Krim, kurz darauf entbrannte der Konflikt in den ostukrainischen Gebieten.

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Viele Frauen sind festlich gekleidet, manche ältere Männer tragen Sportanzüge; das war die lokale Mode aus den 90ern. Die Jugendlichen tragen häufig Wyschywankas (traditionelle Hemden mit buntem handgesticktem Ornament). „Deine Wyschywanka ist mega!“ – während des Segnens sagt der Panotets (Pfarrer) Swjatoslaw nicht nur die traditionelle Osterbegrüßung „Christus ist auferstanden!“, sondern kümmert sich auch um die Stimmung; er ist witzig und spritzig. Als er seine Runde vollendet hat, sind 250 Personen dazugekommen; er beginnt eine neue Runde.

Feierlichkeiten trotz Krieg

Der Pfarrer begrüßt eine Frau mit einem Schulkind und fügt hinzu: „Viel Kraft für Sie und für Ihren Mann.“ Ihr Ehemann ist Soldat und befindet sich nach einer Verwundung in der Reha. „Sehr viele unserer Gemeindemitglieder sind jetzt in den Streitkräften, mein älterer Sohn auch. Zwei Priester unserer Kirche sind Kapläne. Der eine wurde wegen einer schweren Verwundung demobilisiert“, erzählt Panotets Swjatoslaw nach seinem sechsstündigen Marathon aus Gottesdienst und Segnen.

Obwohl viele Menschen die Stadt verlassen haben, ist die Zahl der Menschen, die zu den großen Feiertagen in die Kirche kommen, nicht gesunken. Die Gläubigen identifizieren sich immer häufiger mit der ukrainischen Orthodoxen Kirche. Natürlich stellt sich auch die Frage nach einem potenziellen Waffenstillstand zu Ostern.

„Alles, was Frieden bringt, ist gut, und wir hoffen darauf“, sagt Panotets Swjatoslaw. „Aber wir müssen auch auf das Schlimme vorbereitet sein. Wie können wir dem glauben, der uns hinterhältig in der Nacht angegriffen hat und so viel Leid gebracht hat? Manche Wochen habe ich zwei- bis dreimal die Woche die Trauerfeier gehalten. Das waren unsere Verteidiger. Emotional war das sehr erschöpfend. Die Ukrainer gelten als unbeugsam, doch Verhältnis der Kräfte ist nicht gleich. Deshalb brauchen wir einen Waffenstillstand; wie wir den nutzen werden, ist eine andere Frage. Ich kommuniziere viel mit den Soldaten, und sie sagen, dass uns langsam die Luft ausgeht, der Aggressor lässt sich nicht beruhigen. Er braucht die Ukraine als Sprungbrett für den weiteren Sprung nach Europa. Die Russen wiederholen den Gang der Nazis, die waren auch mit der Tschechoslowakei und Polen nicht zufrieden. Wir stehen fest und geben den Europäern die Möglichkeit, sich vorzubereiten, doch unsere Kräfte sind nicht unendlich.“

Schwache Hoffnung auf Waffenstillstand

Switlana Kozina erinnert sich gut daran, wie im März ein Hotel in der Nähe ihres Hauses zerstört wurde – und an die schrecklichen Ereignisse auf dem Spielplatz, wo eine russische Iskander-M-Rakete mit Streubombensprengkopf vor einigen Wochen 20 Menschen tötete, darunter viele Kinder. Die 34jährige ist selbst Mutter von zwei Kindern. Sie arbeitet als Krankenpflegerin im Rettungsdienst. Sie ist Alleinverdienerin, etwa 4000 Hrywna (knapp 100 Euro) Gehalt im Monat.

„Ein Waffenstillstand zu Ostern für einen Monat – das kann ich nicht glauben. So viele wurden schon verkündet, und dennoch wiederholen sich die Bombenanschläge ständig“, sagt sie. Seit Anfang Februar gilt ihr Mann als vermisst. Er war Bergarbeiter und war zunächst vom Kriegsdienst freigestellt. Doch im Jahr 2024 wurde die Zahl der gesetzlich geschützten Arbeitskräfte stark reduziert. Mitte Juni 2024 wurde er eingezogen, kurz nach dem 12. Geburtstag ihrer älteren Tochter, und nach der Ausbildung der 36. Marinebrigade zugeteilt.

Sein letzter bekannter Einsatz war im russischen Dorf Swerdlikowo im Gebiet Kursk. Das letzte Gespräch mit ihm führte Switlana am 29. Januar. Sie hofft immer noch, dass es nicht das letzte war. Sie hat seinen Namen auf einer Liste von Kriegsgefangenen in einem russischen Telegram-Kanal gefunden. Eine offizielle Bestätigung gab es bisher nicht. Auch eine Anfrage beim Internationalen Roten Kreuz brachte keine Klarheit. Das Ergebnis der amtlichen Untersuchung lautet: „Ihr Mann ist vermutlich im Einsatz gefallen.“

„Ich will Gewissheit – die Ungewissheit ist sehr schwer zu ertragen. Ich habe nicht das Gefühl, dass wir ihn verloren haben. Ein Waffenstillstand und ein Gefangenenaustausch könnten uns Trost bringen. Doch die letzten Raketenangriffe zeigen, dass das wohl unmöglich ist.“

In ständiger Sorge

Krywyj Rih wird sehr häufig angegriffen. In den letzten acht Monaten wurde die Stadt viel stärker bombardiert als zuvor, die Zahl der zivilen Opfer ist erheblich gestiegen. Manche vermuten, dass der Hass und die Wut Russlands daher rühren, dass Präsident Selenskyj hier geboren wurde.

Der Krieg hat die Stadt verändert. Die Allee der gefallenen Helden zählt bereits Tausende Verteidiger, die Zahl der zivilen Opfer steigt jeden Monat, viele Menschen sind ausgewandert. Wieviele der einst 650.000 Einwohner noch in Krywyj Rih leben, ist schwer zu sagen. Man sieht viele Autos mit Kennzeichen aus den Gebieten Cherson, Saporischschja, Donezk und Mykolajiw – Frontgebiete. Nach Beginn des Krieges wurden zahlreiche metallurgische Fachkräfte aus Mariupol und Saporischschja hierher evakuiert. Doch Stromausfälle, Raketen- und Drohnenangriffe verursachen ständig neue Sorgen.

„Das Schlimmste für mich ist, dass wir – und besonders die Kinder – diese Kriegsrealität bereits als normal betrachten. Unsere jüngste Tochter ist elf Jahre alt, und ein Großteil ihres Lebens ist geprägt von Flucht, Luftalarm, ständig unterbrochenem Schulunterricht und natürlich der Trennung vom Vater“, erzählt Inna. Die 43jährige gehört zur Mittelschicht. Seit 20 Jahren beschäftigt sich ihr Familienunternehmen „Akzent“ mit Außengestaltung, Werbung und Design und ist weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt.

Eine Kundin betreibt ein Café nahe dem Stadtzentrum. Im Sommer 2024 explodierte eine russische Rakete direkt vor dem Gebäude. Alle Fenster wurden herausgerissen, die Fassade stark beschädigt. Sie sanierte alles und bestellte neue Außengestaltung. Das Café konnte ein halbes Jahr weiterarbeiten – bis ein weiterer Raketenangriff erneut alles zerstörte.

Keine Hilfe

„Sie kam wieder zu uns und wollte alles von vorne beginnen. Auf meine Frage, was sie antreibt, obwohl sie ständig neue Ausgaben hat, antwortete sie: ‚Ich kann mein Personal nicht verlieren. Man darf nicht stehen bleiben.‘ Sie arbeitet nun mit Verlust. Das ist kein normales Business mehr – das erschöpft“, erzählt Inna. Sogar große Unternehmen verzögern ihre Zahlungen auf unbestimmte Zeit.

Auch das Büro von „Akzent“ wurde an einem Herbstabend durch eine russische Rakete beschädigt. Der Zaun, das Dach, sämtliche Fensterscheiben sowie einige Autos wurden durch Splitter und die Druckwelle zerstört. Die Rakete selbst schlug nur 30 Meter vom Gebäude entfernt ein. Es gab keinerlei Unterstützung durch die Stadt. Die öffentlichen Versorgungsdienste lehnten den kostenlosen Abtransport der Zaunreste ab. Das Unternehmen musste die gesamte Last allein tragen. So funktioniert Business in einem Land, in dem es keine Versicherungen gibt.

Und das, obwohl beide Männer der Mitgründerin sich vor drei Jahren freiwillig zu den Streitkräften gemeldet haben. Zwei Frauen, die allein ihre Kinder erziehen und ein Geschäft führen, wurden im Stich gelassen. Es kam zum inneren Zusammenbruch. Die Herausforderungen sind enorm.

Der Krieg zerstört nicht nur Gebäude

„Wir arbeiten nur weiter, weil es extrem schwer ist, den Mitarbeitern zu erklären, warum wir aufhören sollten. Es geht um 30 Menschen mit ihren Familien, die von uns abhängig sind.“

Seit über drei Jahren ist die Familie nur gelegentlich zusammen. Wenn Innas Ehemann kurzfristigen Fronturlaub bekommt, sieht er seine Kinder, die keine normale Kindheit erleben, und seine Frau, deren Kräfte fast erschöpft sind.

„Wir als Gesellschaft brauchen Erholung, denn diese Realität ist belastend. Ich verstehe vollkommen, dass die aktuelle Lage in der Ukraine sehr schwierig ist. Unsere Verhandlungsposition ist heute deutlich schwächer als noch vor zwei Jahren. Vielen Menschen gehen die Kräfte aus. Ich lese keine Bücher mehr, habe alle Hobbys vergessen – nur Sport hilft mir ein wenig, den Kopf freizubekommen. Unsere ältere Tochter macht bald ihr Abitur – ihre Zukunft bereitet mir Sorgen.“ Der Krieg zerstört nicht nur Gebäude. Er zerstört auch Familien und Menschen.

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