: Die bessere Zukunft bauen
Jay Graber will das Internet retten – mit einem dezentralen Netzwerk. Als Chefin von Bluesky verspricht sie ein Social Media ohne Milliardäre, rechte Trolle und Datenraub. Kann diese Utopie bestehen?

Von Katharina Stahlhofen
Jay Graber tritt mit der Souveränität einer Person auf, die jede Frage bereits zu kennen scheint, noch bevor sie gestellt wird. So wirkt beinahe alles, was einem zu sagen einfällt, wie eine Banalität, die man besser für sich behält. Selbst dann, wenn es um die großen, wichtigen Themen geht.
Die Zukunft von Social Media? Ist doch offensichtlich. Protokolle statt Plattformen. Dezentral, interoperabel, föderiert. Wer da noch nicht Bescheid weiß, lebt wohl wie Patrick der Seestern unterm Stein.
Mundus Sine Caesaribus – „Eine Welt ohne Herrscher“, steht in großen Buchstaben auf ihrem T-Shirt, das sie auf der diesjährigen SXSW Konferenz trägt. Ein unmissverständlicher Diss an Mark Zuckerberg, der zuvor ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Aut Zuck aut nihil“ trug – eine auf ihn gemünzte Abwandlung der lateinischen Redewendung „Entweder Herrscher oder nichts“. Noch leben wir in einer Welt, in der unsere Kommunikationsinfrastruktur in den Händen milliardenschwerer Silicon-Valley-Autokraten liegt.
Doch die CEO von Bluesky, dem aktuellen Main Character unter den aufkommenden Twitter/X-Alternativen, möchte das ändern. Die 33-Jährige absolvierte einen Bachelor in Wissenschaft, Technologie und Gesellschaft an der University of Pennsylvania und arbeitete danach als Softwareentwicklerin in der Blockchain-Industrie, bevor sie 2019 in Kontakt mit dem Twitter-Mitgründer Jack Dorsey kam.
Dorsey hatte Bluesky ursprünglich ins Leben gerufen, ist heute jedoch nicht mehr daran beteiligt.
Als Graber im August 2021 die Leitung von Bluesky übernahm, sorgte sie zuallererst für dessen vollständige Unabhängigkeit von Twitter – was sich als strategisch kluge Entscheidung erwies. Rund ein Jahr später folgte die Übernahme Twitters durch Elon Musk, der die Plattform auf rechts drehte und anschließend in die Bedeutungslosigkeit trieb.
Bluesky hingegen, so betont Graber, sei „billionaire-proof“. Dafür sorge dessen dezentrale Architektur, die auf dem AT-Protokoll aufbaut. Klingt erst mal sperrig und kompliziert. Dabei nutzen viele von uns bereits Protokolle, ohne es zu wissen. Zum Beispiel beim Verschicken einer E-Mail.
Das „Simple Mail Transfer Protocol“ ermöglicht es etwa, eine E-Mail von einer Gmail-Adresse an eine GMX-Adresse zu senden – statt nur an andere Gmail-Adressen.
Graber ist nicht die einzige, die dieses Prinzip auch für soziale Medien zum neuen Standard machen möchte. Neben Bluesky gibt es weitere Versuche, dezentrale Architekturen für soziale Netzwerke zu etablieren. Doch anders als etwa Mastodon, das ebenfalls auf einem Protokoll basiert, bietet Bluesky seinen Nutzer:innen einen so unkomplizierten Einstieg wie sonst nur Mainstreamplattformen.
Statt eines einzigen, von undurchsichtigen Algorithmen kuratierten Standardfeeds wie auf Instagram, X oder Titok, haben Nutzer:innen auf Bluesky die Möglichkeit, verschiedene Feeds zu kreieren und nach Themen zu sortieren – oder denen anderer zu folgen. Graber selbst scrollt gerne durch eine Timeline, die ihr ausschließlich Bilder von Moos zeigt, wie sie in Interviews erzählt.
Links zu externen Webseiten bleiben bei Bluesky unbestraft, während andere Plattformen ihre Tore zum offenen Web lieber geschlossen halten. Instagram oder Tiktok setzen alles daran, ihre Nutzer:innen möglichst lange in ihrem eigenen Ökosystem zu halten, indem sie Posts mit externen Links downranken. Graber hingegen möchte Bluesky als „Portal“ zu anderen Orten im Netz verstehen – nicht als Festung.
„Es geht darum, den Nutzer:innen die Entscheidungsmacht über ihre Daten und Interaktionen zu geben“, sagt sie.
Wenn ihnen Bluesky nicht mehr gefällt, können sie ihre Follower:innen und Beiträge einfach „mitnehmen“ und damit zu einer anderen Plattform wechseln, die auf demselben Protokoll läuft. Die Kontrolle über die Daten, die sonst bei den Konzernen liegt, wird so direkt in die Hände der Nutzer:innen gelegt.
Graber vertritt eine paradoxe Position: Sie will Strukturen schaffen, die ihre eigene Rolle überflüssig machen. Ein Netzwerk, dessen Funktionsweise keiner CEO mehr bedarf. Ihre Haltung entspringt einem tiefen Misstrauen gegenüber konzentrierter Macht – ganz gleich, ob sie in Form von Regierungen, Milliardären oder, wie im Fall der USA, aktuell von beiden gleichzeitig ausgeübt wird.
Statt mit den Schriften der neoliberalen Ikone Ayn Rand, die dem Silicon Valley als ideologisches Leitbild dient, wuchs Graber mit der feministischen Science-Fiction von Ursula Le Guin und Margaret Atwood auf. Diese Autorinnen lehrten sie, wie sie sagt, sich die Welt radikal anders vorzustellen, als sie ist.
Unter den Tech-Bros mit Gottkomplex ist Graber eine Ausnahmefigur, auf die man gerne Hoffnungen projiziert. So neu und anders Bluesky sich anfühlt, erinnert es auch ein bisschen an die frühen Tage des Internets, als es noch Spaß gemacht hat. Das Internet war mal ein Versprechen, ein Sehnsuchtsort, eine Utopie. Bevor Marktlogiken es ruiniert haben. Es hätte auch anders kommen können – und kann es noch.
Doch auch Bluesky, warnen kritische Stimmen, sei keineswegs „billionaire-proof“. Aktuell mag Bluesky noch eine harmonische Bubble für Linke sein, ohne Werbung, ohne rechte Trolls, fast so gut wie, nein, besser noch als Twitter damals! Aber in ein paar Jahren, spätestens, wird sich zeigen, dass auch Bluesky von Investoren mit monetären Interessen getragen wird.
So berechtigt diese Warnungen sind – so zynisch ist es, schon jetzt den Ruin von etwas heraufzubeschwören, das zumindest für ein paar Jahre etwas wirklich Gutes sein könnte. Eine technische Lösung für ein politisches Problem mag auf Dauer vielleicht keinen Erfolg haben. Aber alles, das Musk und Zuckerberg auch nur ein kleines bisschen Macht entzieht, ist zumindest begrüßenswert.
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