
FC St. Pauli: Angriff über den linken Flügel
Nachhaltigkeit, Antisexismus, nun auch noch eine Genossenschaft: Der FC St. Pauli ist anders als andere Klubs. Kann der Verein damit Vorbild sein?
E s ist Samstagmorgen, die ersten Sonnenstrahlen dringen in den Hamburger Hauptbahnhof. Der Metronom nach Uelzen ist schon ziemlich voll, der Bahnsteig immer noch. Bierdunst liegt in der Luft. Pünktlich um 7.57 Uhr rollt der Regionalzug los. Julian hat eine Vierer-Sitzgruppe im Obergeschoss des Doppeldeckers gefunden, mit zwei Freunden und seiner Tochter. Sie fahren zum Auswärtsspiel des FC St. Pauli nach Wolfsburg.
Julian, ein drahtiger Typ, dem die blonden Haare über die muskulösen Oberarme fallen, trägt trotz der Morgenfrische ein T-Shirt. Schwarz mit einem Kreis in allen Farben des Regenbogens – und noch einigen mehr. Es ist die Progressive-Pride-Flagge, die auch trans Personen, Agender oder Intersexuelle einbeziehen soll. In der Mitte das Vereinslogo des des FC St. Pauli mit dem Schriftzug „Radsport“.
In der Radsportabteilung ist Julian erst ein paar Jahre aktiv. Aber Vereinsmitglied ist der 34-Jährige schon seit 2011. Im Stadion war er schon als kleiner Junge gelegentlich.
„Auch ein paar Mal auf der falschen Seite, im Volksparkstadion“, sagt er, „wo ich mich dann sehr schnell nicht mehr wohl gefühlt habe, schon als Kind tatsächlich.“ Wegen der insgesamt aggressiven Haltung beim Lokalrivalen HSV damals, um die Jahrtausendwende, wegen frauenfeindlicher und rassistischer Gesänge. „Die waren auch ohne besonderes politisches Verständnis merklich.“
Beim FC St. Pauli war es ganz anders. Als Teenager habe er den Club als „den richtigen Ort mit den richtigen Werten“ wahrgenommen. „Das war Musik, Metal und Punk“, sagt Julian, „das hat sich sozial passender angefühlt. Eine klassische Symbiose von Subkultur, Politik – und dann eben Fußballinteresse.“ Man traf sich im selbstorganisierten Fanladen, nicht weit vom alten Millerntor-Stadion. Als er älter wurde, hat er dort nach Heimspielen für alle gekocht. „Weil ich was zurückgeben wollte.“
Und jetzt ist er auch noch Genosse. 2024 hat der Verein eine Genossenschaft gegründet, die erste im Profifußball überhaupt. Sie soll die Mehrheit am Millerntor-Stadion übernehmen und den Verein damit von den Banken unabhängiger machen. 850 Euro hat Julian für seinen Anteil gezahlt. „Viel Geld“, findet er, er hätte es niedrigschwelliger besser gefunden. Aber jetzt gehört ihm ein Stück Stadion.
Der Slogan der Genossenschaft ist „Ein anderer Fußball ist möglich“. Er ist angelehnt an das Motto der globalen emanzipatorischen Bewegungen: „Eine andere Welt ist möglich“. Denn während andere Fußballklubs Politik nach Kräften meiden, gehören bei St. Pauli Politik und Sport zusammen.
Esin Rager,Vizepräsidentin des FC St. Pauli
Der Kampf gegen Faschismus, Rassismus und Sexismus, das Ringen um Nachhaltigkeit oder einen bewussteren Umgang mit der Geschichte spielen eine so große Rolle, dass man denken könnte, das alles wäre wichtiger als der Fußball. Der Verein will nicht nur den Profifußball selbst verändern, sondern in die Gesellschaft wirken, erst recht nach dem Wiederaufstieg in die erste Bundesliga 2024. Aber wie klappt das? Und gibt es ihn überhaupt, den richtigen Fußball im falschen?

Oke Göttlich will es versuchen. „Wenn du mit einer nachhaltigen Strategie in den Sport investierst“, sagt der Präsident des FC St. Pauli, „kannst du ein nächstes Level erreichen, dort kannst du die Wirkung für gesellschaftliche Themen auch breiter an den Start bringen.“ Früher war er Sportredakteur bei der taz in Hamburg. Beim Besuch in seiner alten Redaktion sieht er eine Unterschriftenliste für mehr Klimaschutz in der Küche liegen. „Ah, muss ich ja noch unterschreiben“, sagt er und zückt einen Kugelschreiber.
Aber gekommen ist er wegen des eigenen Projekts: „Unsere Genossenschaft“, schwärmt er, „ist die am meisten demokratische und partizipative, die gemeinwohlähnlichste Organisationsform, die man sich vorstellen kann“. Jahre haben sie darüber im Verein gebrütet. Dass St. Pauli erstmals seit 14 Jahren wieder in der ersten Fußball-Bundesliga spielt, hilft, Aufmerksamkeit für das Genossenschaftsmodell zu generieren. Und es macht dessen Notwendigkeit umso deutlicher.
Denn die Unterschiede in der Bundesliga sind riesig: Für das aktuelle Erstligajahr peilen sie am Millerntor erstmals einen Jahresumsatz von etwa 100 Millionen Euro an – während der FC Bayern gerade die Milliarde geknackt hat. Es seien in jüngerer Zeit „grotesk hohe Steigerungen aus den internationalen Wettbewerben dazugekommen“, sagt Göttlich. Davon profitiere nur das obere Drittel der Tabelle.
Der Anwalt der Kleinen
Göttlich ist so etwas wie der Anwalt der Kleinen im großen Fußballgeschäft. Er ist seit 2019 im Präsidium der Deutschen Fußball Liga (DFL), dem neben den beiden Geschäftsführern sieben gewählte Vertreter der 36 Erst- und Zweitligisten angehören und das die Geschicke des Profifußballs bestimmt. Kürzlich wollte Göttlich mal wieder eine Umverteilung organisieren – von oben nach unten. Er sprach sich dafür aus, wenigstens das Geld, das die Fernsehsender für die Bundesliga-Rechte zahlen, etwas gleichmäßiger an die 36 Profiklubs zu verteilen. Und blitzte damit ab.
Doch er hat sich auch schon durchgesetzt. Im vergangenen Jahr wollte die DFL-Geschäftsführung im Schnelldurchlauf den Einstieg von Investoren durchpeitschen, um mit deren Milliarden die verschlafene Digitalisierung nachzuholen und neue, internationale Märkte zu erschließen. Im Gegenzug hätte die Liga Teile ihrer Medienrechte abgetreten.
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In den Stadien gab es Fan-Proteste. Göttlich wollte wenigstens in Ruhe über das Wie diskutieren – und stimmte am Ende dagegen, auch weil er ein klares Mandat von seinem Klub hatte. Der Investoren-Deal wurde schließlich abgeblasen. Was dagegen sprach? „Bei jedem Deal, den die Fußballliga bisher gemacht hat, hat sie mehrheitlich nicht an die kleinen und mittleren Vereine gedacht, sondern immer eher an die größeren“, sagt Göttlich. „Das schafft ein Ungleichgewicht, das dazu führt, dass immer die Gleichen oben stehen.“
Natürlich will auch der FC St. Pauli sportlichen Erfolg, aber nicht um jeden Preis. Der Verein nimmt sogar weniger Geld ein, als er könnte. Er verkauft weder den Stadionnamen noch die Präsentation der Eckstöße oder der Zwischenstände, wie in anderen Stadien üblich. Und er wählt Sponsoren sehr genau aus. „Wir lehnen auch immer wieder Partner ab, die sehr gerne mit uns zusammenarbeiten würden“, sagt Göttlich.

Vereinswerte gehen über monetäre Werte, so soll es bei St. Pauli sein. „Der FC St. Pauli hat Fesseln, die wir uns ganz bewusst selbst anlegen, die aber auch zur Stärkung der Marke beitragen“, sagt Göttlich. Es gibt nämlich Unternehmen, die gerade wegen dieses Images als der andere, der bessere Club gern mit St. Pauli ins Geschäft kommen wollen.
„Wettbewerber und Neider werfen uns das als Doppelmoral und Scheinheiligkeit vor,“ sagt Göttlich. „Diese vermeintliche Scheinheiligkeit kostet uns auf der anderen Seite aber auch fünf Millionen Euro im Jahr. Ich würde gern mal sehen, wie die Kritiker:innen es da mit Werten halten.“
Was geht und was nicht geht, das wird im Verein unter den Mitgliedern ständig neu verhandelt. Fan Julian fallen sofort Vorkommnisse ein, die „Kritik und Gegensteuerung“ benötigt hätten.
Etwa der Ausrüstervertrag mit dem Trump-nahen US-Label Under Armour: Jahrelang gab es Kritik an dem 2016 abgeschlossenen Deal – 2021 schließlich wurde er beendet. Das unterscheidet St. Pauli für Julian von anderen Clubs: Es würden auch Konsequenzen gezogen. „Das finde ich einen sehr guten Ausdruck von einer gelebten demokratischen Haltung.“
Basisdemokratie ist für Göttlich das Prinzip des Klubs. „Wir sind und bleiben ein mitgliedergeführter Verein“, sagt er, „weil die Fans den Verein in dieser Form begründet haben.“ Damit ist St. Pauli Teil einer aussterbenden Art im Profigeschäft. Nur noch sechs Bundesligisten sind eingetragene Vereine. Alle anderen haben ihre Profiabteilung in Kapitalgesellschaften ausgegliedert, die Hälfte hat bereits Investoren ins Boot geholt.
Die 50+1-Regel
St. Pauli will, dass wenigstens die Grundstruktur erhalten bleibt, nach der die Vereine an ihren Profiabteilungen die Mehrheit halten müssen, mindestens 50 Prozent plus einen Anteil. „Dafür kämpfen wir auf allen Ebenen“, sagt Göttlich. Auch wenn es von dieser „50+1-Regel“ längst Ausnahmen gibt, wie den „Werksklub“ Bayer Leverkusen, oder trickreiche Modelle, die die Regel umgehen, wie RB Leipzig.
Da hat der Verein genau 23 stimmberechtigte Mitglieder. Die haben formal die Stimmenmehrheit, auch wenn 99 Prozent der Profiabteilung dem Red-Bull-Konzern gehören. Der ist auch bei einem anderen Anliegen von Göttlich der Hauptgegner: Er möchte Multi-Club-Ownerships beschränken.
Multi-Club-Ownership, das ist das Prinzip Red Bull: Zum RB-Imperium gehören neben Leipzig bereits Clubs in Österreich, Brasilien, den USA und Japan, zwischen denen der Konzern Spieler verschieben kann. Es sind solche Auswüchse, die Oke Göttlich meint, wenn er von „entgrenztem Profifußball für die privilegierte Minderheit der europäisch spielenden Klubs“ spricht.
Dagegen geht es in Wolfsburg, wo Julian inzwischen angekommen ist, fast beschaulich zu. Obwohl die Profiabteilung eine hundertprozentige Tochter des VW-Konzerns ist – und nur dank dessen Unterstützung in der Bundesliga bestehen kann. Das Stadion ist nur selten ausverkauft, weshalb man leicht an Karten kommt – für Julian ist das auch schon das Beste an Wolfsburg. Tausende St.-Pauli-Fans haben sich deswegen nach Ostniedersachsen aufgemacht.
Julian bedeutet es viel, den Fußball mit seiner Tochter zu teilen. Obwohl sie erst 14 ist, hat sie schon manche Auswärtsfahrt mitgemacht. Sie selbst spielt Handball beim FC St. Pauli. Auch sonst sei sie „zum Glück sozial supergut involviert“, sagt der Vater – „und ich bin froh, wenn ich mal die Gelegenheit kriege, Zeit gemeinsam zu verbringen“.
Auf dem Weg zum Stadion singen Julian und seine Tochter mit den anderen Fans. Der Tross zieht durch die Innenstadt, durch Beton-Unterführungen, wo es so schön laut hallt, bis zum Mittellandkanal, an dessen schnurgeradem Ufer die Volkswagen-Arena steht. „So ein Stadion vom Reißbrett“, sagt Julian spöttisch.
Ein Drittel des Stadions haben an die 10.000 Gästefans okkupiert. Sie haben ein großes lilafarbenes Transparent mitgebracht, auf dem ein Mädchen mit Zöpfen zu sehen ist, in der Hand ein brennendes Streichholz. Darunter steht „Burn the patriarchy“, fackelt das Patriarchat ab. Das Spiel findet am Frauentag statt.
Die St.-Pauli-Fans sind lauter, ihr Team tritt auf wie eine Heimmannschaft und geht in Führung. Gelingt der erste Sieg seit sechs Wochen? Ein diskutabler Elfmeter rettet den Wolfsburgern einen Punkt. Als der Heimverein kurz vor Schluss Kevin Behrens einwechselt, pfeifen die St.-Pauli-Fans ihn aus. Weil er sich geweigert hatte, Merchandising-Artikel in Regenbogenfarben zu signieren – mit den Worten „schwule Scheiße“.

Doch auch der FC St. Pauli ist nicht über fußballtypisches Machotum erhaben. Das erlebt Julian auf dem Rückweg im Zug, als im Gemenge ein sexistischer Spruch fällt: ‚Ihr seid doch keine Mädchen‘. Er hat widersprochen, da kam zur Antwort: „Ach stimmt, das darf man ja heute nicht mehr sagen.“
Dass so was immer noch passiert, unter St.-Pauli-Fans, macht ihn fassungslos. Es brauche wohl noch mehr aktive Aufklärungsarbeit, vielleicht „einen thematischen Club-Ride“, also eine Ausfahrt – „mit Vortrag über kritische Männlichkeit“. Oder einen Soli-Ride für ein Frauenhaus oder eine Präventionsstelle gegen sexuelle Gewalt im Stadtteil. Julian denkt von der Fahrradabteilung aus, wo er was bewirken kann.
Die Nachhaltigkeitsbeauftragte
Frauen im Stadion sind bei St. Pauli selbstverständlicher als anderswo, aber immer noch in der Minderheit. „Die Tendenz ist gut, gerade in der Südkurve sind viele auch junge Frauen und Mädchen am Start. Das fühlt sich zunehmend normal an“, sagt Julian. „Aber es gibt immer wieder Vorfälle, bei denen patriarchale Strukturen und Verhaltensweisen es ein Stück ungemütlicher machen.“ Sein Fazit: „Es ist nicht cool, bevor wir bei 50 Prozent sind.“
Auf der Führungsebene ist der FC St. Pauli längst weiter. Im Aufsichtsrat sitzen vier Frauen und drei Männer. Im Präsidium ist das Verhältnis drei zu zwei. Damit ist der Verein einsamer Tabellenführer. Laut einer Umfrage der Hamburger Initiative „Fußball kann mehr“, die sich für mehr Diversität starkmacht, gab es 2024 im Top-Management bei allen Profiklubs zusammen nur sechs Frauen. Die Hälfte von ihnen arbeitet beim FC St. Pauli.

Mit Profifußball hatte Esin Rager wenig am Hut, bis vor vier Jahren Oke Göttlich auf sie zukam. Sie hat die Tee-Firma Samova gegründet und beschäftigt sich seit Jahren mit ökologischer und fairer Produktion in aller Welt – und mit recycelbaren Verpackungen. Deshalb fragte Göttlich sie, ob sie sich beim FC St. Pauli um Nachhaltigkeit kümmern könnte. Sie dachte, es gehe um ein bisschen Beratung, aber er sagte: „Nee, als Vizepräsidentin.“
„Das war genau hier, auf diesem Sofa“, erinnert sich Rager. Eine enge Stiege führt in ihr Büro im Kulturpalast Billstedt, einem soziokulturellen Zentrum in einem alten Wasserwerk, wo die taz sie zum Interview trifft. Sie kocht einen Tee mit griechischem Bergkraut und macht es sich auf dem Sofa bequem.
Rager hat durchgesetzt, dass der Klub gemeinwohlbilanziert wird. Gerade ist der erste Nachhaltigkeitsbericht erschienen. Und sie hat die Gründung einer eigenen Abteilung „Strategie, Veränderung, Nachhaltigkeit“ angeschoben. „Wir haben bei allen wirtschaftlichen Entscheidungen ein Vetorecht – egal ob wir was bauen, T-Shirts bestellen oder den Rasen auswechseln.“ Sie haben erreicht, dass bei den Werbeverträgen Schnaps, Online-Sportwetten und fossile Brennstoffe inzwischen tabu sind.
Rager besteht darauf, dass ihr Engagement ein Ehrenamt bleibt, obwohl es dem Umfang einer halben Stelle entspricht. „Ich brauche die Unabhängigkeit“, sagt sie. So kann sie ihr Amt jederzeit in die Waagschale werfen, wenn Nachhaltigkeit nicht so groß geschrieben wird, wie sie sich das wünscht.
Wie bei der Currywurst. Rager will das Stadioncatering auf bio umstellen. 58 Prozent der Würste, die dort verkauft werden, sind mittlerweile aus Bio-Produktion, mehr als jede zehnte sogar vegan. Vorausgegangen waren viele Debatten über Tierhaltung und die Folgen.
Beim Merchandising hatte der FC St. Pauli ganz groß gedacht, gründete seine eigene Marke DIIY für „ultra-faire Sportswear“, die auch das Profi-Team ausstattete. Doch das Experiment ging schief. Als Niederlage will Esin Rager das aber nicht sehen: „Unser neuer Ausrüster Puma ist auf uns zugekommen, weil sie von uns in Sachen Nachhaltigkeit lernen wollten“, sagt sie. Im Fanshop kann man alte Trikots abgeben, aus denen Recycling-Garne für die Puma-Kollektion gewonnen werden. „Sogar das alte HSV-Trikot vom Nachbarn“, sagt Rager.
Das größte Ziel für die Zukunft ist, den Ausstoß von Treibhausgasen bis 2031 zu halbieren. Großes Einsparpotenzial bietet das Herzstück des Fußballs: der Rasen. In den heutigen, engen Fußballstadien wächst das Gras nämlich nicht von allein. Scheinwerfer an einem spielfeldbreiten Gestänge rollen wie in Zeitlupe von einem Tor zum anderen. Allein sie durch LEDs zu ersetzen, würde jährlich den Ausstoß von 240 Tonnen CO2-Äquivalenten vermeiden, so steht es im Nachhaltigkeitsbericht, fast ein Viertel des Einsparziels.
Der Profisport verlangt stets optimale Bedingungen. Dazu gehören manchmal sogar Flugreisen, auch wenn Teile der Anhängerschaft mit dem Kopf schütteln. Esin Rager sieht das pragmatisch. „Ohne Fliegen würden die das gar nicht schaffen“, sagt sie und nennt ein Beispiel, das sich auf das Pensum des aktuellen St.-Pauli-Kapitäns bezieht: „Wie soll das gehen, wenn Jackson Irvine am Donnerstag vom Länderspiel mit der australischen Nationalmannschaft zurückkommt und am Freitag oder Samstag wieder Bundesliga ist?“ Sogar Kurzstreckenflüge nach Leipzig oder Dortmund seien manchmal nötig. Aber: „Wir sagen: Ihr müsst nicht immer Charter fliegen, ihr könnt schön in ein Linienflugzeug steigen.“ Das verursache schon mal weniger Emissionen.
„Kein Fußball den Faschisten“
Die „Mannschaftsmobilität“ verursacht laut dem Nachhaltigkeitsbericht ohnehin nur 1,09 Prozent der klimaschädlichen Emissionen des Vereins. Sein bei Weitem größtes Problem sind in dieser Hinsicht die Fans: Ihre Anreise macht fast zwei Drittel aller Emissionen des Clubs aus, 57-mal so viel wie die Profis. Fast jeder vierte kommt mit dem Auto ans Millerntor, das im Umkreis von einem Kilometer zwei S- und drei U-Bahnhöfe hat. Dagegen kann der Verein wenig tun.
Esin Rager gibt sich nicht mit ihrem Wirken bei St. Pauli zufrieden. „Wir haben erstritten, dass die DFL Nachhaltigkeitskriterien eingeführt hat“, sagt sie. Künftig soll die Ausschüttung von Geld an die Clubs auch danach bemessen werden, ob sie sie erfüllen.
Auch in anderer Hinsicht dient St. Pauli als Vorbild. Schon 1991 nahm der Hamburger Verein ein Verbot rassistischer Äußerungen in die Stadionordnung auf. Drei Jahre später schrieb Schalke 04 es in seiner Satzung fest. Der hoch verschuldete Ruhrpottklub ist auch der erste, der nun die Genossenschafts-Idee aufgegriffen hat, um sein angegriffenes Eigenkapital aufzufüllen.
Und sogar beim Nachbarn HSV denken sie darüber nach, auch wenn noch zu klären wäre, wie sich eine Genossenschaft mit dem Investor Klaus-Michael Kühne verträgt.
Der Kern des St.-Pauli-Selbstverständnisses ist in mannshohen Lettern auf den Beton im Millerntor-Stadion gepinselt: „Kein Fußball den Faschisten.“ Zu lesen sind sie nur, wenn es leer ist. Wie 2014, als die Nationalelf dort trainierte. Der Deutsche Fußballbund (DFB), für den alles Politische im Stadion nichts zu suchen hat, ließ die zweite Hälfte verhängen.
Da stand dann nur noch „Kein Fußball“, was wiederum auch missverständlich war. Der DFB entschuldigte sich später schriftlich, beteuerte, er stehe „gegen jede Form von Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus oder Homophobie – wie in vorbildlicher Art und Weise immer wieder auch Ihr Verein und Ihre Fanszene“. Plötzlich war der Antifaschismus salonfähig geworden.
Das war vor dem gesellschaftlichen Rechtsruck. Zuletzt beobachtet Oke Göttlich einen anderen Trend: „Momentan ist das politische Klima und damit auch die Auswärtsfahrten für viele unserer Fans eher schwierig. Wir werden an den wenigsten Standorten mit offenen Armen empfangen.“
Miriam Wolframm ist schon lange dabei, 15 Jahre Stehplatz Gegengerade, und sie passt da immer noch gut hin: langer Pony, ausrasierte Schläfen, Nasenring, schwarzer Hoodie mit dem Totenkopf-Logo. Hauptberuflich ist sie Managerin der Grusel-Location Hamburg Dungeon in der historischen Speicherstadt am Hafen, Führungskraft. Auch deshalb hat Oke Göttlich sie für den Vorstand der Genossenschaft gewonnen.

Oder man muss wohl sagen: schanghait, so wie früher in den Hafenkneipen auf St. Pauli die Seeleute, die angeheuert wurden, ohne wirklich zu wissen, wie ihnen geschah. „Ich habe damals gesagt, die Vorstandsmitglieder müssten eine einstellige Stundenzahl pro Woche aufbringen“, sagt Göttlich auf einer Pressekonferenz Anfang Januar. Damit hatte er schamlos untertrieben. „Ich wurde auf jeden Fall der Lüge bezichtigt. So was tue ich ungern“, sagt er. Aber er grinst dabei.
Genoss*innen-Kapital: 27 Millionen Euro
Nächte hindurch, sagt Wolframm im Gespräch mit der taz, hätten sie Mitgliedsanträge bearbeitet, mit vielen Ehrenamtlichen. „Die waren das Rückgrat, und genauso wollten wir das. Wir wollten ja den maximalen Gewinn für den Verein und keinen großen Verwaltungsapparat aufbauen“, erklärt sie.
Am Ende hat die Genossenschaft in knapp fünf Monaten über 27 Millionen Euro von mehr als 21.000 Menschen eingenommen. Das ist unter dem Maximalziel 30 Millionen. Aber dennoch die erfolgreichste Genossenschaftsgründung seit Jahrzehnten in Deutschland.
Für viele ist der Erwerb eines Stücks Millerntor ein feierlicher Akt. Deshalb strömen vor dem Heimspiel gegen Borussia Dortmund Anfang März Fans ins Vereinsmuseum unter der Gegengerade des Stadions. Der Weg zum Stadion-Anteil führt durch die Ausstellung „Kiezbeben“, die zeigt, wie der FC St. Pauli und der Stadtteil wurden, was sie heute sind.
Aus Bauschutt und Bierflaschen ist eine Barrikade nachgebaut, dahinter Fotos von den besetzten Häusern in der Hafenstraße. Von dort waren Anfang der achtziger Jahre die ersten linken Fans ins Stadion gekommen und haben peu à peu den Verein unterwandert, der bis dato ein stinknormaler Fußballclub war.
Sie haben die Fahne mit dem Totenkopf mitgebracht, damals Symbol der Hausbesetzer, die es den Hamburger Pfeffersäcken mal so richtig zeigen wollten. Heute ist er eine eingetragene Marke, unter der der Verein eine eigene Sportswear-Linie verkauft.
Unter massiven roten Stahlträgern, die einst die alte Gegentribüne trugen, hat St.-Pauli-Fan Paul gerade seinen Genossenschaftsanteil gezeichnet. Darauf geht er erst mal eine Runde Astra holen. Er ist mit zwei Freunden da, die beide Martin heißen. Sie sind längst Genossen. „Man muss in diesen Zeiten kleine soziale Burgen bauen, Inseln des Widerstands“, sagt der eine Martin.
„Es entspricht unserem Selbstverständnis, alles auf viele Schultern zu verteilen“, der andere. Deshalb haben sie zusammengelegt und Paul, der im Leben nicht so viel Glück gehabt hat wie sie, auch einen Anteil geschenkt. „Damit er Teil des Ganzen ist.“ Die Plastik-Bierbecher stoßen dumpf aneinander.
Das Vereinsmuseum hat in diesen Wochen auch ein kleines Vereinsbeben ausgelöst. Seit ein paar Wochen streitet die Fanszene über ihre Hymne „Das Herz von St. Pauli“, von der man lange dachte, der wegen seiner ambivalenten Haltung zum NS-Regime umstrittene Schauspieler Hans Albers habe sie nicht nur gesungen, sondern auch geschrieben.
Dass der Text in Wahrheit, viel schlimmer, von einem strammen NS-Propagandisten stammt, hat Celina Albertz herausgefunden und im Podcast des Museums publik gemacht. Die Politologin und Historikerin sitzt in Bomberjacke und Strickmütze an einem Biertisch im frostigen Foyer. „Ich dachte: interessante Hintergrundrecherche“, sagt sie. „Aber sie wird schon nicht den Verein anzünden.“ Welch ein Irrtum.
Denn unter den Fans entbrannte eine Debatte darüber, ob man das Lied weiterhin singen könnte. Vielen ist es derart ans Herz gewachsen, dass sie es um jeden Preis retten wollen. Kann man „Künstler“ und Werk trennen? Ist der Autor geläutert, der nach dem Krieg Ressortleiter bei der Welt und beim Hamburger Abendblatt wurde? Oder ist das Lied gar hinreichend „angeeignet“, weil am Millerntor eine Punk-Version gespielt wird?
Viele meinten, im Abstiegskampf sei die Debatte um die Fanhymne kontraproduktiv. „Ich musste mir anhören, wie wenig ich vom Fußball verstünde; davon, was ‚die Jungs‘ gerade brauchen“, sagt Albertz. „Von Leuten, die vielleicht die zweieinhalb Minuten mitsingen, aber danach 90 Minuten die Klappe halten.“ Jetzt klingt sie ein bisschen sauer. Sie geht ins Stadion seit sie 16 ist, versteht sich als Teil der aktiven Fanszene.
Der Debattier-Klub
Es war einer von „den Jungs“, der diese Anwürfe gekontert hat: Mittelstürmer Johannes Eggestein. „Das fand ich stark“, sagt Albertz, „der hat sich als Erster hingestellt und so was gesagt wie:,Leute, ich bin Profi, es wird meine sportliche Leistung nicht beeinträchtigen. Es zeichnet St. Pauli als politischen Verein aus, dass wir solche Diskussionen führen, macht euch mal keine Sorgen.'“
Das Vereinspräsidium setzte sich mit dem ständigen Fanausschuss zusammen, einer Art Korrektiv außerhalb der Vereinsstrukturen, das die Fanszene in ihrer Breite repräsentiert und ihre Stimmungen transportiert. Das Ergebnis: ein Moratorium. Albertz soll ihre Erkenntnisse schriftlich ausarbeiten, danach wird entschieden.
Oke Göttlich ist der Überbringer der schlechten Nachricht. Vor dem Heimspiel gegen den SC Freiburg Mitte Februar verkündet er im Stadion, man werde das Lied vorerst nicht mehr spielen. Pfiffe und Applaus von den Tribünen zeigen, wie gespalten die Anhängerschaft ist. Göttlich appelliert an die Grundtugenden auf St. Pauli: „Debatten sind das, was diesen Verein groß gemacht hat.“
Freitagabend am Millerntor. Julian freut sich, denn unter Flutlicht haben die Braun-Weißen schon viele große Spiele gemacht. Und es wäre mal wieder Zeit dafür. Es ist ein Duell um den Abstieg, gegen die TSG Hoffenheim, nur zwei Tabellenplätze vor St. Pauli. Wieder so ein Spiel: der eine Fußball gegen den anderen. Das Investorenprojekt des SAP-Milliardärs Dietmar Hopp gegen einen „normalen“ Verein.
Die Glockenschläge von AC/DCs „Hells Bells“ dröhnen durch das Millerntor. Im Gästeblock halten sie glitzernde Kissen aus Plastikfolie hoch, abwechselnd silber- und blaumetallicfarben. Gegenüber fliegt Konfetti aus biologisch abbaubarem Papier, Glitzerfolie hat der Verein längst verboten. Auf dem braun-weißen Banner hinter dem Tor steht „Klassenkampf“.
Julian und seine Tochter stehen hinter dem „K“, auf der Südtribüne, gleich neben den Ultras, wo es am lautesten ist. Ununterbrochen wird gesungen, werden Fahnen geschwenkt. Dazwischen sieht man nur Ausschnitte vom Spiel.
Da, eine Lücke im Fahnenmeer, Balleroberung vorm Hoffenheimer Tor, dann ein Stück braun-weißer Stoff – ausgerechnet jetzt! – der Torwart überlupft, Querpass, ein Aufschreien, das Tornetz zuckt, 1:0 für den FC St. Pauli! Julian schreit die Freude raus, wirft die Faust in die Luft, schwankt in der Masse, umarmt seine Tochter. Der trockene Beat von Blurs „Song 2“ kommt aus den Lautsprechern, die die ganze Südkurve beginnt im Takt zu hüpfen und singt mit: „Whoo-hoo!“ hallt es durch das Stadion, den Stadtteil und vielleicht auch ein bisschen in die weite Welt hinaus.
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