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Geschichtsklitterung nach russischer Art

Eine Gruppe ukrainischer Nationalisten kollaborierte zwischen 1939 und 1941 mit den Nazis. Das nutzt der Kreml bis heute für seine Propaganda

Switlana Petrowskajas Großmutter und ihre Tante wurden in Babi Yar umgebracht, wie mehr als 33.000 andere Jüdinnen und Juden. Dieses Foto, das bei einem in Russland getöteten deutschen Offizier gefunden wurde, zeigt deutsche Soldaten bei einer Erschießung in Babi Yar Foto: ap/picture alliance

Aus Luzk Juri Konkewitsch

Es war ein besonderer Moment für viele Ukrainer*innen, als am 9. Mai 2005 an der Weltkriegs-Gedenkstätte in Luzk zwei sehr alte Männer offiziell begrüßt wurden. Sie hielten Rosen in den Händen und auf ihren Gesichtern lag der Schatten einer schweren Jugend. Im Alter von 20 Jahren waren sie in den Krieg gezogen, allerdings in verschiedenen Armeen – der eine in der sowjetischen und der andere in der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA). Über den Mai 1945 hinaus kämpften diese Armeen bis Anfang der 1950er Jahre in der Westukraine gegeneinander.

Die beiden alten Männer waren die Einzigen, die bei der Gedenkfeier nicht lächelten. Sie kannten den Preis des Sieges über die Nazis nur allzu genau. Am Ende der Feierlichkeiten unterhielten sie sich, schüttelten sich die Hand und gingen ihrer Wege. Alle Zeitungen haben damals über das gemeinsame Gedenken der früheren Gegner geschrieben. Ein paar Jahre später waren sie nicht mehr da; insgesamt gibt es immer weniger Zeugen der Ereignisse des Zweiten Weltkriegs. Mythen dafür umso mehr.

Am 7. Mai 1945 kapitulierten die Deutschen, als Zeitpunkt für die Einstellung aller Kampfhandlungen vereinbarten sie im französischen Reims mit den Allierten den 8. Mai, 23.01 Uhr. Am späten Abend zeichneten Oberbefehlshaber von Teilen der Wehrmacht im sowjetischen Hauptquartier in Berlin-Karlshorst die Kapitulationserklärung gegen. Da in Moskau erst nach Mitternacht die Kapitulation bekannt gegeben wurde, wurde in der Sowjetunion der 9. Mai als „Tag des Sieges“ begangen. Doch die Sowjetunion gibt es nicht mehr.

Die meisten Ukrai­ne­r*in­nen schauen schon lange kein russisches Fernsehen mehr und lesen auch nicht mehr die Verlautbarungen des Kremls. Wer es aber tut, kann den Eindruck gewinnen, dass der Zweite Weltkrieg für die Russen noch nicht vorbei ist. In den russischen Nachrichten heißt es, die Bedrohung einer faschistischen Aggression schwebe weiterhin über der Welt, ihr Epizentrum befinde sich nun nicht mehr in Berlin, sondern in Kyjiw. Moskau sei noch immer die „Säule des globalen Antifaschismus“, der wichtigste Antifaschist sei heute Präsident Wladimir Putin. Als Faschisten werden die Ukrai­ne­r*in­nen dargestellt, trotz ihres jüdischen Präsidenten.

„Die russische Propaganda nutzt sowohl die Formen als auch die Versatzstücke der sowjetischen Militärpropaganda in vollem Umfang“, sagt Wolodymyr Wjatrowitsch, Historiker und früherer Direktor des ukrainischen Instituts für Nationales Gedenken. Die russische Regierung benutze Begriffe aus dem Wörterbuch des Zweiten Weltkriegs.

Der Kreml monopolisierte den Sieg der Roten Armee über den Nationalsozialismus, obwohl in deren Reihen Millionen Ukrainer und Angehörige anderer Nationalitäten kämpften. Das Putin-Regime reklamiert diesen Sieg für sich, die Botschaft an den Westen lautet: „Wir können keine Aggressoren sein, denn wir haben die Welt von Hitler befreit.“

Wjatrowitsch sagt: „Expert*in­nen und Journalist*innen, die mit der ukrainischen Geschichte nicht sehr vertraut sind, glauben an die Bedrohung durch den ukrainischen Faschismus, weil sie Stepan Banderas rot-schwarze Flaggen auf dem Maidan oder in der ukrainischen Armee gesehen haben“. Die Geschichte des Nationalisten Bandera sei so wenig bekannt wie die Geschichte der Bewegung, die er anführte. Es sei die Geschichte eines Häftlings in einem NS-Konzentrationslager und eines Opfers sowjetischer Propaganda. 1959 wurde Bandera von einem KGB-Attentäter getötet.

Nach einer Phase der Kollaboration mit dem Dritten Reich in den Jahren 1939 bis 1941 begann der nationalistische ukrainische Untergrund ab Ende 1942 einen groß angelegten antideutschen Kampf. Doch gerade die Kollaboration mit den Deutschen wurde einst von der UdSSR und heute von den Propagandisten in Russland vehement betont.

Der Historiker Witaliy Skalsky, der derzeit in der ukrainischen Armee dient, erinnert daran, dass die Ukraine während des Weltkriegs kein unabhängiger Staat und daher keine Konfliktpartei gewesen sei, wie die russische Propaganda behauptet. „Die Ukraine stand weder auf der Seite der Nazis noch auf der Seite der Alliierten, sie war auch nicht neutral. Denn die Ukraine war kein Kriegssubjekt“, schreibt Skalsky. „Die Ukrainer saßen jedoch nicht zu Hause und sahen dem Weltkrieg zu. Sie wurden mobilisiert oder meldeten sich freiwillig zum Dienst in den Armeen Polens, der UdSSR, Großbritanniens, Kanadas, der USA und Frankreichs.“ Und eine Minderheit auch in der Nazi-Armee. „7,5 Millionen standen auf der Seite des Guten und 200.000 auf der Seite des Nationalsozialismus“, so Skalsky.

Der Mythos vom „Großen Sieg“ lebte auch noch lange nach dem Fall der UdSSR weiter. 2010 verkündete Putin, Russland tue alles, um die „heilige Erinnerung an den Sieg“ zu schützen. Sieger ist in dieser Version der Geschichte aber ausschließlich das russische Volk.

Doch auch in der Ukraine lebten Mythen fort. An der Gedenkstätte in Luzk, wo sich die beiden alten Veteranen versöhnten, kam es etwa erst im Frühjahr 2022 zu Veränderungen. Nach dem Großangriff Russlands wurde das fiktive Datum des Beginns des Zweiten Weltkriegs „1941“ dort durch das historisch korrekte „1939“ ersetzt. Seit 2024 feiert die Ukraine nicht mehr am 9. Mai den Sieg über die Nazis, sondern, wie die westlichen Länder, am 8. Mai.

Dieser Sieg wäre ohne die Ukrai­ne­r*in­nen unmöglich gewesen, sagt die Historikerin Lesya Bondaruk aus Luzk. Das zeige sich an ihren enormen Verlusten, der Beteiligung von Ukrainern an der Roten Armee und den Armeen der Anti-Hitler-Koalition sowie in der UPA.

„Alleine wäre die UdSSR mit dem Faschismus niemals fertig geworden“

Lesya Bondaruk, Historikerin

„Wenn ich diejenigen überzeugen müsste, die an der Rolle der Ukraine zweifeln, würde ich sie daran erinnern, dass dieser Krieg fast drei Jahre lang auf ukrainischem Territorium stattfand und Hitler sogar sein Hauptquartier in Winnyzja errichtete“, sagt Bondaruk. „Der Beitrag der Ukrainer, die damals keinen eigenen Staat hatten und deshalb in verschiedenen Anti-Nazi-Armeen, vor allem aber in der sowjetischen, kämpften, war erheblich. Und ich möchte auch daran erinnern, dass man nicht weiß, ob Moskau ohne die Hilfe der USA überlebt hätte. Alleine wäre die UdSSR mit dem Faschismus niemals fertig geworden.“

Nach Angaben des Ukrainischen Instituts für Nationales Gedenken belaufen sich die Toten der Ukraine im Zweiten Weltkrieg auf 8 bis 9 Millionen Menschen. Bei Recherchen für das Projekt „Buch der Erinnerung der Ukraine“ wurde festgestellt, dass in der ersten Kriegsperiode, vor der vollständigen Besetzung durch die Deutschen, 3,6 Millionen Bür­ge­r*in­nen aus dem Gebiet der Ukrai­nischen SSR zur Roten Armee eingezogen wurden. Bis zum Kriegsende weitere 3,5 Millionen. Das war etwa ein Fünftel der derjenigen, die in der Roten Armee gekämpft haben. Jeder zweite von ihnen starb und jeder zweite Überlebende kehrte als Invalide zurück.

Außer in der Roten Armee kämpften Ukrainer in den Armeen Polens (120.000), der USA (80.000), Kanadas (45.000) und Frankreichs (5.000). Sieben Ukrainer waren Kommandeure an verschiedenen Fronten, 200 waren Generäle. Auch der Akt der Kapitulation Japans wurde am 2. September 1945 von dem ukrainischen General Kuzma Derevyanko unterzeichnet.

Aus dem Russischen: Barbara Oertel

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