piwik no script img

Ein Leben, zwei Mal Flucht

Als Kind floh die Jüdin Switlana Petrowskaja vor den Nazis aus dem sowjetischen Kiew ins sichere Russland. Im Alter von 86 Jahren flüchtete sie vor der russischen Armee aus dem ukrainischen Kyjiw – ausgerechnet nach Deutschland

Switlana Petrowskaja in ihrer Berliner Wohnung in einem jüdischen Seniorenzentrum. Der deutsche Verein „Kontakte-Kontakty“ unterstützt ukrainische Überlebende des Holocaust. Viele leben von dürftigen Renten und haben Schwierigkeiten, ihre medizinische Versorgung zu finanzieren

Von Klaus Hillenbrand (Text) und Jens Gyarmaty (Foto)

Da sind sie, diese Erinnerungsfetzen. Switlana ist knapp vier Jahre alt und lebt mit ihrer Mutter Rosa, dem Vater Wassilij und der Schwester Lida in einer Wohnung. Und da ist noch der Großvater Ozjel, der sich häufig um Switlana kümmert, das „kleine Hühnchen“, wie sie genannt wird. „Ich weiß noch, dass mein Großvater mich einmal ins Kinderkino mitnahm. Ich erinnere mich, dass er mich bei der Hand nahm. Ich fühlte seine warme Hand in meiner Hand“, sagt Switlana Petrowskaja mehr als 80 Jahre später.

„Eines Tages brach Großvater zusammen. Es war ein Sonntag. Mein Vater stand an der Tür. Ich war neugierig, was passiert war. Mir schien es, als sei er nur müde geworden.“ Der Großvater starb im Oktober 1939, zu Beginn des Zweiten Weltkriegs. „Ich brachte die Besatzung Warschaus und den Tod Großvaters zusammen“, sagt Switlana Petrowskaja. Die Familie lebt weit weg im sowjetischen Kiew, doch der Überfall Deutschlands auf Polen berührt sie mehr als andere. Mutter Rosa stammt aus Warschau, Verwandte leben noch dort. Nachrichten von ihnen bleiben bald aus.

Petrowskajas Familie ist jüdisch. Doch das weiß das Mädchen nicht. „Von uns ging niemand in die Synagoge. Vielleicht Großmutter und Großvater, das weiß ich nicht. Aber meine Mutter nicht. Und Vater war Ukrainer“, erzählt die Frau mit den schneeweißen Haaren über ihre Kindertage.

Switlana Petrowskaja, die 2025 90 Jahre alt wird, hat Borschtsch gekocht. Dazu gibt es eingelegten Fisch, Gurken, Tomaten, Fleisch und Gemüse, Teigtaschen und zum Nachtisch Eis. Dazu Wein und Wodka. Wer viel fragt, muss ordentlich essen, sagt sie. Es ist ein kleines Stück Kyjiw, das so in Berlin eingezogen ist. Petrowskaja will aus ihrem Leben erzählen, von ihrer zweifachen Flucht, zuerst vor den Deutschen nach Russland und dann vor den Russen nach Deutschland. Sie sagt: „Verrückte Welt! Ich hätte nie daran gedacht, in Deutschland zu leben.“ Aber es ging nicht anders. Mit ihren kaputten Hüften brauchte sie viel zu lange aus ihrer Wohnung in den Bunker, wenn wieder einmal russische Raketen oder Drohnen über der ukrainischen Hauptstadt auftauchten.

Switlana ist noch keine sechs Jahre alt, da kommt der Krieg zum ersten Mal in ihr Leben in der Ukraine. Den Truppen der Wehrmacht, die im Juni 1941 die Sowjetunion überfallen, folgen die Todesschwadronen der Einsatzgruppen von Polizei und SS. Menschen wie Switlana Petrowskajas Familie sollen nicht am Leben bleiben.

Petrowskaja spricht über das Jahr 1941 in Kiew: „Die meisten Juden wollten nicht weg“, sagt sie. Doch ihr Vater, der zur Roten Armee eingezogen war, habe einen Lastwagen organisiert, der einige Familien nach Osten transportierte. Mutter Rosa nimmt ihre beiden Töchter und steigt ein. Switlana Petrowskaja weiß noch, dass da die ersten Bomben auf Kiew niedergingen. Sie erinnert sich an die Panzersperren auf den Straßen.

Es geht mit dem Lastwagen nach Osten. „Später, ich weiß nicht wo, fuhren wir mit einem Güterzug. Es gab keine Toilette im Waggon, nur ein Loch für 30 oder mehr Familien. Ich weiß nicht, wie lange wir unterwegs waren, vielleicht ein oder zwei Wochen. Einmal verließ meine Mutter den Waggon, um Wasser zu holen. Da fuhr der Zug wieder an. Ich weinte. Meine Mutter rannte hinter dem Zug her. Andere Passagiere versuchten ihr zu helfen. Der Zug fuhr noch ziemlich langsam. Es gelang, die Mutter wieder an Bord zu holen.“

Switlana Petrowskaja erkrankt während der Flucht an einer Lungenentzündung. Eine russische Ärztin rettet sie. Die Familie hat die Wolga erreicht und bleibt in dem kleinen Dorf Kinel-Tscherkassy hängen. Dort übernimmt die Mutter, die als Lehrerin gearbeitet hat, ein Haus voller Kinder, die aus dem von der Wehrmacht belagerten Leningrad evakuiert worden sind.

Sie haben nur wenige Informationen über das, was inzwischen in ihrer Heimat geschieht. Kiew wird am 19. September 1941 von deutschen Truppen erobert. Gut eine Woche später hängen Aufrufe in den Straßen. Darin heißt es: „Sämtliche Juden haben sich am Montag, dem 29. September bis 8 Uhr, Ecke der Melnik- und Dokteriwski-Strasse einzufinden. Mitzunehmen sind Dokumente, Geld und Wertsachen, sowie warme Bekleidung, Wäsche, usw. Wer dieser Aufforderung nicht nachkommt und anderweitig angetroffen wird, wird erschossen.“

Vor ihrer Flucht hat die Mutter ihre Verwandten angefleht, mit ihnen Kiew zu verlassen. Doch Switlanas Großmutter Anna und Tante Ljolja wollen nicht evakuiert werden. Sie werden in Babi Yar umgebracht, einer Schlucht am Rande von Kiew, so wie mehr als 33.000 weitere Jüdinnen und Juden. Erschossen von SS-Sonderkommandos. Viel später hat die Familie davon erfahren. Petrowskaja erzählt: „Natasha, genannt Nastja, die Schwester meines Vaters, ging damals mit ihnen und half, das Gepäck zu tragen. Es gab drei Absperrlinien, zwei von Ukrainern und die letzte von Deutschen besetzt. An der zweiten Linie hörten die Polizisten, dass Nastja Ukrainisch sprach und erklärten, sie dürfe nicht länger mitgehen.“ Switlana Petrowskaja holt ein Stück Pappe von ihrem Schreibtisch, darauf aufgeklebt das Schwarz-Weiß-Foto einer Frau. „Das war meine Großmutter Anna“, sagt sie.

1944 kehrt Switlana Petrowskaja mit Mutter und Schwester nach Kiew zurück. Die Stadt ist wieder in der Hand der Sowjets, aber zerstört. Die Menschen hungern. Sie berichtet: „Ich war gerade zehn Jahre alt geworden. Eines Tages 1945 klopfte es an der Tür. Ich öffnete. Ein Mann stand da. Er war sehr schmal. Ich fragte den Mann, was er wolle. Er sagte: ‚Mein kleines Hühnchen‘. Ich habe meinen Vater nicht wiedererkannt. Er war nur ein paar Minuten bei mir, dann musste er zurück zum Zug.“

Der Vater ist als Soldat in deutsche Gefangenschaft geraten. Zuletzt wird er ins KZ Mauthausen gebracht. Die Amerikaner befreien ihn am 5. Mai 1945. Doch frei ist er danach nicht. Sow­jetbürger, die der Feind festgenommen hat, gelten Stalin als unsichere Kantonisten. Sie kommen zur Überprüfung in Filtrationslager.

„Ich habe meinen Vater nicht erkannt. Er war nur ein paar Minuten bei mir, dann musste er zurück“

Das Leben in Kiew ist schwer. Die von Stalin verteufelten USA schicken Spenden für die Bevölkerung. Switlana bekommt Zweifel: „Als ich zehn Jahre alt war, bekam ich einen Mantel aus Amerika. Darin fanden wir eingenäht einen Brief. ‚Lieber Freund, ich weiß, dass es bei euch sehr kalte Winter gibt. Ich bin eine Mutter von zwei Kindern. Vielleicht kann dieser Mantel ein wenig Wärme spenden und das Kind durch den Winter bringen‘, stand da. Diese Hilfe hat mich davor bewahrt, Hassgefühle zu entwickeln. Ich glaubte nicht, dass alle Amerikaner Teufel seien. Die Menschen, die solche Briefe schrieben, konnten keine schlechten Menschen sein.“

Was ist mit mir?

Später beginnt Petrowskaja ein Studium. Sie will Geschichtslehrerin werden. „Zum ersten Mal fühlte ich meine jüdische Identität in Stalins letzten Tagen. Damals liefen die Prozesse. Jüdische Ärzte wurden beschuldigt, Stalin vergiften zu wollen. Eines Tages, im Januar 1953, diskutierten Studenten darüber, was geschehen solle. Einige riefen, alle Juden sollten nach Sibirien deportiert werden. Ein anderer meinte, man müsste sie umbringen. Mein bester Freund war unter denen, die jetzt alle Juden umbringen wollten. Ich fragte: ‚Und was ist mit mir? Meiner Mutter? Meiner Familie?‘ ‚Deine Mutter ist eine sehr nette Frau, niemand wird sie angreifen‘, hieß es. Das waren Geschichtsstudenten!“, ruft Petrowskaja. Auch 72 Jahre später ist ihre Empörung spürbar.

Der Massenmord von Babi Yar soll vergessen werden, finden die sowjetischen Machthaber – auch die nach Stalin. Petrowskaja sagt: „Die Regierung erlaubte keine Erinnerung. Auf dem Platz entstand ein Sportzentrum. Über jüdische Opfer durfte nicht gesprochen werden. Später wurde ein Monument gebaut, aber wieder ohne Erwähnung von Juden. Ich war Lehrerin. Ich ging mit meinen Schulkindern dort hin.“

„Sie müssen die Geschichte verstehen. Aber sie glauben Putin oder sie haben Angst. Ich habe keine Angst. Es ist Wahnsinn“

1991 endet die Geschichte der Sowjetunion. „Am 29. September 1991, einen Monat nach der Unabhängigkeit der Ukraine, kamen Menschen aus der ganzen Ukraine nach Babi Yar. Es war eine Demonstration, etwa Großartiges.“ Petrowskaja holt ein Foto hervor. „Ich trug dieses Bild von Großmutter Anna damals mit mir nach Babi Yar. Zum ersten Mal in meinem Leben spürte ich, dass wir, die Ukrainer, ein Volk sind. Wir gehören zusammen.“

Geschichte wiederholt sich nicht. Doch 2022 fliegen wieder Bomben auf Kyjiw, es werden Panzersperren errichtet. Tage vor dem russischen Angriff hat Petrowskaja einen Appell an die russischen Mütter gerichtet, ihre Söhne nicht in den Krieg ziehen zu lassen. „Sie müssen die Geschichte verstehen. Aber sie glauben Putin oder sie haben Angst. Ich habe keine Angst. Es ist Wahnsinn. Es muss aufhören“, sagt sie heute.

Switlana Petrowskaja verlässt im März 2022 Kyjiw in einem Bus und findet Asyl in dem Land, vor dessen Soldaten sie 81 Jahre zuvor geflüchtet war: Deutschland. Sie fühle sich hier sehr gut aufgenommen, sagt sie. Aber ihre Heimat bleibe die Ukraine, sagt sie. Nur hassen, das kann sie bis heute nicht. „Ich lebe mit der russischen Kultur. Ich liebe die ukrainische Kultur, das Volk, die Freundschaft. Ich mag aber auch russische Musik und russische Schriftsteller, die Dissidenten. Ich kann nicht alle Russen hassen.“

2024 ist sie nach Kyjiw gereist. „Ich sah die Gräber junger Menschen, die im Krieg gefallen sind. Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht müssen die Mütter dieser Gefallenen Russland hassen.“ Petrowskaja holt ein Foto, das einen jungen Mann zeigt: Oleg Senigowsky. Sie sagt: „Das ist mein Lieblingsschüler. Er wurde im letzten Sommer an der Front getötet.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen