Biografie des Schriftstellers Balzac: Ruin oder Hauptgewinn
Titiou Lecoq räumt in ihrer Biografie mit Legenden über Honoré de Balzac auf. Die Geschichte seines Lebens ist auch die Geschichte seiner Schulden.

„Und da man für achthundertneunzigtausend Francs fünfzigtausend Francs Rente hat, so müsste man ihn dazu bringen, dass er auf zwei Jahre hundertvierzigtausend Francs leiht, rückzahlbar in zwei Raten. In zwei Jahren haben wir aus Paris hunderttausend Francs Zinsen, und hier neunzigtausend; wir setzen also nichts auf Spiel.“
Wo immer man einen Roman von Honoré de Balzac aufschlägt (hier in „Ein Junggesellenheim“), wird man sehr schnell auf Stellen wie diese stoßen. Denn es geht immer um Geld, Erbschaften, Geschäfte, Spekulationen, den sozialen Aufstieg oder Absturz, den Hauptgewinn oder den Ruin. Und um die Liebe, die jedoch unausweichlich an die Sphäre des Geldes gekoppelt ist, des Geldes in seiner modernen und abstrakten Form als allgemeines Äquivalent.
Dass sich Balzac in dieser Sphäre bestens auskannte, was ihm Marx und Engels attestiert haben, nimmt nicht Wunder. Nach Titiou Lecoq, deren Biografie Balzacs mehr oder weniger deckungsgleich mit der Geschichte seiner Schulden ist, strebte er drei Ziele in seinem Leben an: „Er wollte bekannt, geliebt und reich werden.“
Die ersten beiden Ziele hat er zweifellos erreicht. Als er dem dritten durch die Hochzeit mit Ewelina Hańska endlich nahe gekommen war, erkrankte er, konnte nicht mehr laufen, nicht mehr sehen und starb fünf Monate später.
Titiou Lecoq: „Balzac und ich. Wie man sein Leben meistert, indem man grandios scheitert“. Aus dem Französischen von Nicola Denis. Friedenauer Presse, Berlin 2024, 215 Seiten, 24 Euro
Balzacs Mutter, eine „hysterische Megäre“?
Die Autorin, über die uns der deutsche Verlag mitteilt, sie habe, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte, „als Nachtwächterin, Empfangsdame, Sekretärin, Erzieherin, bei einer Bank und beim Arbeitsamt“ gearbeitet und Semiotik studiert, weist anfangs auf zwei Klischees über Balzac hin, nämlich, dass er zu viel Kaffee getrunken habe und seine Mutter eine „hysterische Megäre“ gewesen sei.
„Letzteres“, fährt sie fort, „folgt einer mehr oder weniger impliziten Regel der Literaturgeschichte, der zufolge Schriftsteller entweder eine glückliche Kindheit oder eine böse Mutter hatten.“ In Balzacs Fall war nach eigener Aussage angeblich das zweite der Fall. In Wahrheit verhält es sich so, dass Honorés Mutter auf alles Mögliche verzichtete, um ihrem Sohn zu helfen und zu retten, was schon längst nicht mehr zu retten war.
Zu retten war spätestens nichts mehr, nachdem Balzac in den Jahren 1830 und 1831 mit drei Büchern nicht nur berühmt geworden war, sondern diese sich auch bestens verkauften, vor allem der Roman „Das Chagrinleder“, der ein Riesenerfolg wurde.
Die Geschichte ist bekannt: Mit jedem Wunsch, den der geheimnisvolle Talisman aus Chagrinleder dem Protagonisten erfüllt, schrumpft das Leder um ein kleines Stück. Bei Balzac verhielt es sich gewissermaßen spiegelbildlich. Mit jedem Erfolg wuchsen seine „Verbindlichkeiten“, wie man es heute ausdrücken würde. Ende 1832 hatten sich seine Schulden gegenüber dem Jahr 1830 verdreifacht, weil auch seine Ausgaben exponentiell gestiegen waren.
Leidenschaftlicher Inneneinrichter
Lecoq beschreibt sehr schön, wie das begonnen hat. In der Zeit, in der Balzac in einer Mansarde in der Nähe der Bastille hauste und an seinem künftigen Ruhm arbeitete, begann er, sich für etwas zu interessieren, das ihn sein Leben lang beschäftigen und gigantische Ausmaße annehmen sollte: die Inneneinrichtung. Er strich sein Zimmer neu und verschönerte es, und als er in einem Laden einen „entzückenden Spiegel für 20 Francs entdeckte“, nahm er einen kleinen Kredit auf und kaufte ihn.
Leider wird nicht erzählt, wer ihm diese 20 Francs lieh, ob eine Privatperson oder eine Bank, aber so viel lässt sich sagen: Balzacs Schuldenkarriere begann mit einem Mikrokredit. Von dort beschritt er konsequent den Weg zur kostspieligen Repräsentation qua Luxusausstattung seiner Wohnungen, edler Kleidung, Dienstpersonal und großen Diners. Er finanzierte das unter anderem durch Vorschüsse auf Bücher, von denen nicht mehr als die Titel existierten, und auch sonst war seine geschäftliche Fantasie fast grenzenlos.
Allerdings auch erfolglos: Alle unternehmerischen Versuche, begonnen mit dem Versuch des Einstiegs in den Buchhandel und fortgesetzt mit dem – selbstverständlich kreditfinanzierten – Kauf einer Druckerei oder dem Kauf einer Zeitung, die kurz vor der Einstellung stand, zeugen von einer völligen Verkennung der jeweiligen Marktsituation und einem lebenslangen mangelnden Geschäftssinn.
Von der Schwierigkeit, vernünftig zu sein
Entsprechend konnte er auch seine eigene Lage nicht realistisch einschätzen (bei Lecoq trägt das diesbezügliche Kapitel die Überschrift „Von der Schwierigkeit, vernünftig zu sein, wenn man Balzac heißt“). Wolfgang Pohrt hat das 1984 so auf den Punkt gebracht: „Als Opfer seiner Verschwendungssucht wiederum erhörte und vollstreckte Balzac nur den Willen des Geldes, welches in der Form einer endlichen, bezifferbaren Summe nicht existieren kann, ohne diese Daseinsweise als eine willkürliche Einschränkung und als Beleidigung seines ehrgeizigen, kein Maß akzeptierenden Charakters zu erleben.“
Titiou Lecoq weist in ihrem klugen, elegant geschriebenen (und übersetzten) Buch darauf hin, dass Balzacs Karriere zeitlich mit der Julimonarchie des Bürgerkönigs Louis-Philippe zusammenfällt, wenn auch viele seiner Romane in früheren Jahrzehnten angesiedelt sind.
Das ist zum einen auf die wachsende Bedeutung der Presse ab 1830 zurückzuführen, die erst die Gattung des Feuilletonromans ermöglichte und damit einen neuen Absatzmarkt für Hunderte Romanschreiber, die miteinander konkurrierten. Bekannt ist, dass Alexandre Dumas eine ganze Truppe von Lohnschreibern beschäftigte (angeblich 73), die die Romane verfassten, die im Feuilleton unter seinem Namen veröffentlicht wurden. Im Gegensatz dazu hat Balzac übrigens nie seinen Namen für Bücher hergegeben, die er nicht selbst geschrieben hatte.
Zum anderen aber erlebte der Roman ganz allgemein einen ungeheuren Aufschwung, wurde zur vorherrschenden literarischen Form und löste die alten Hierarchien und strengeren Formen ab, weil sich nach 1789 eine neue gesellschaftliche Unübersichtlichkeit herausgebildet hatte.
„Allein der Roman schien das undurchsichtig erscheinende Gebäude der Gesellschaft erhellen zu können. […] Das Werk Balzacs diente einer verworrenen Epoche als Kompass und prägte sie mit seinem analytischen Blick auf die Gesellschaft: Insofern hat Balzac das 19. Jahrhundert durchaus (mit)erfunden.“ Und, könnte man hinzufügen, mit seiner thematischen Fokussierung auf das Geld die Moderne eingeleitet.
Unzählige Korrekturrunden
Lecoq räumt mit einigen Legenden auf, unter anderem mit der, Balzac habe seine Manuskripte abgeliefert und sich weiter nicht um sie gekümmert, was zu dem angeblichen Mangel an „Stil“ führte. Vielmehr verfuhr Balzac mit Fahnenabzügen ähnlich wie später Marcel Proust. Ohne wenigstens vier- bis siebenfache Korrekturgänge gingen seine Bücher nicht in den Druck, und sogar bei Neuauflagen änderte er unaufhörlich und trieb die Drucker ähnlich zur Verzweiflung wie 90 Jahre später Proust.
Im Vorwort bekennt die Autorin, Balzac sei die große Liebe ihrer Jugend gewesen: „Ich war mit seinen Figuren aufgewachsen und mit der Sehnsucht nach einer Zeit, in der Autoren noch Superstars waren.“ Auch wenn Lecoq das Gegenteil einer Hagiografie schreibt und ihren Helden als „größten Pechvogel der Literaturgeschichte“ bezeichnet, bleibt von der Jugendliebe zu Balzac noch genug zu spüren. Nicht obwohl, sondern weil das so ist, ist daraus eine sehr lesenswerte Biografie entstanden.
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