Balzac-Verfilmung „Verlorene Illusionen“: Als Fake News noch Enten waren

Regisseur Xavier Giannoli hat Balzacs Roman „Verlorene Illusionen“ verfilmt. Sein Porträt Pariser Journalisten vor 200 Jahren ist aktuell.

Louise de Bargeton (Cécile de France) und Lucien Chardon (Benjamin Voisin) stehen in einem Salon.

Louise de Bargeton (Cécile de France) und Lucien Chardon (Benjamin Voisin) in „Verlorene Illusionen“ Foto: Cinemien

Am Ende steht ein Satz über das Scheitern, mahnend und aufmunternd zugleich. „Ich denke an diejenigen, die nach der Enttäuschung etwas in sich selbst finden müssen.“ Er stammt von Honoré de Balzac, und zweieinhalb Stunden lang hat der französische Regisseur Xavier Gian­noli in der Adaption von Balzacs „Verlorenen Illusionen“ bis dahin einen jungen Mann begleitet, der mit großen Ambitionen aus der Enge der Provinz in die Großstadt geflohen ist und dort mit seinem Talent ein aufregendes neues Leben beginnen wollte.

Dass die Sache trotz seiner Höhenflüge nicht gut ausgeht, ist kein Spoiler, vor dem gewarnt werden müsste, das tragen der Film und der Roman, auf dem er basiert, bereits im Titel. Und von geplatzten Träumen lässt sich am besten aus der Rückblende und mit einer gewissen Distanz erzählen.

„Verlorene Illusionen“ stammt, wie das Zitat, aus der Feder Honoré de Balzacs, dem großen Romancier des 19. Jahrhunderts. Das zwischen 1836 und 1843 entstandene Werk gehört zu den berühmtesten des französischen Realisten, ist Teil seines Mammutprojekts der „Menschlichen Komödie“, und bemerkenswerterweise noch nie für die Leinwand adaptiert worden, bisher lediglich als Fernsehfilm und für die Bühne. Dabei erweist sich der Stoff als erstaunlich exemplarisch für unsere Gegenwart, auch wenn die Handlung vor 200 Jahren zur Zeit der Restauration um 1820 spielt.

Protagonist dieser Geschichte vom Aufstieg und Fall eines begabten, wenn auch naiven Ehrgeizlings ist der 20-jährige Lucien Chardon (Benjamin Voisin), der sich von seinem Heimatstädtchen Angoulême nach Paris aufmacht, um dort als Schriftsteller zu reüssieren. Die Abreise ist nicht ganz freiwillig, er hatte dort ein intensives Techtelmechtel mit einer schönen älteren Frau, Louise de Bargeton (Cécile de France), das für einen Skandal sorgte, weil sie aus besseren Kreisen stammt und zudem verheiratet war.

„Verlorene Illusionen“. Regie: Xavier Giannoli. Mit Benjamin Voisin, Cécile de France u. a. Frankreich 2021, 144 Min.

Er selbst verdient seinen kargen Unterhalt in der bescheidenen Druckereiwerkstatt seines Schwagers und schreibt nebenbei glühende Gedichte. Einen schmalen Band mit Poesie über Gänseblümchen bringt er im Selbstverlag heraus, was außer bei seiner Angebeteten auf wenig Gegenliebe stößt.

Erste Blüte der bürgerlichen Presse

Mit dieser Vorgeschichte, die in dem als Trilogie angelegten Roman den ersten Teil einnimmt, hält sich Giannoli allerdings nicht lange auf. Nach der Flucht in die Hauptstadt stürzt er seinen Emporkömmling schnell hinein in den Tumult der Restaurationsjahre, in der Goldgräberstimmung herrscht und die bürgerliche Presse ihre erste Blüte erlebt. Und mit ihr so manch anderes Blatt, das provokant gegen die Monarchie hetzt. Während seine Geliebte den Kontakt abbrechen muss, um den eigenen sozialen Stand nicht zu gefährden, denn die Klassengesellschaft ist noch klar aufgeteilt.

Dem Burschen fehlt nicht nur der richtige Name, auch wenn er sich als Künstlernamen einen Adelstitel andichtet, sondern vor allem fehlen ihm die richtigen Manieren. Der erste Opernbesuch wird zum Fiasko. Paris ist teuer und das Geld schnell knapp, Lucien heuert erst mal als Kellner in einer Spelunke an. Dort trifft er auf einen Berufsjournalisten, Etienne ­Lousteau (Vincent Lacoste), der ihn erst auslacht, aber dann doch für pfiffig genug hält, ihm eine Chance zu geben.

Luciens hehres Bild der Zunft, Journalisten erklärten die Welt und brächten den Lesern Kunst nahe, lässt der zynische Boulevardzampano platzen: „Meine Aufgabe ist es, die Aktionäre der Zeitung reich zu machen. Und dabei nebenbei so viel wie möglich einzustreichen.“

Das Prinzip ist so simpel wie perfide. Lousteau lässt sich von einem Theaterdirektor für eine gute Kritik bezahlen, von der Konkurrenz für einen Verriss, beides schreibt er unter verschiedenen Namen in mehreren Zeitungen. So entsteht eine Kontroverse, an der alle verdienen, weil sie verkauft: Zeitungen ebenso wie Theaterkarten und Bücher oder was sonst interessant gemacht wird. Wozu also vom Künstlerdasein träumen, wenn sich so leichtes Geld verdienen lässt? Zumal die Verlage nach Zeile zahlen, noch am selben Abend.

Verreißen lässt sich alles

Einer der mächtigsten Verleger, denen Lucien bald begegnet, ist Dauriat (Gérard Depardieu), ein imposant-lächerlicher Koloss, der weder lesen noch ­schreiben kann. Wie diese Figur, wie die Dialoge und auch der allwissende Offkommentar, ist vieles sarkastisch, bisweilen zynisch und überzogen, aber auch pointiert und immer wieder sehr komisch.

Verreißen lässt sich alles, erklärt ­Lousteau an einer Stelle, das sei nur eine Frage der Perspektive. „Berührt dich das Buch, nennst du es sentimental. Ein klassischer Stil: zu akademisch.“ Und reiht gleich noch ein halbes Dutzend vernichtende Floskeln aneinander. Was witzig ist, nennt man oberflächlich. Ist es intelligent: prätentiös.

Auch wenn die Lohnschreiberei eigentlich unter seiner Würde ist, versteht Lucien das Geschäft schnell, schreibt Pamphlete und agiert als Zeitungskritiker immer skrupelloser, bereichert sich noch etwas gewiefter als die anderen und steigt auf in einer Gesellschaft, in der alles käuflich scheint. Um die Medien- und Sozialkritik herum erzählen Balzac/Giannoli noch eine bisweilen etwas melodramatische Dreiecksromanze zwischen dem Aufsteiger, einer schwindsüchtigen Nachwuchsschauspielerin und Ex-Dirne, Coralie (Salomé Dewaels), und der nie erloschenen Liebe zur adligen Louise.

Auftritte durch bezahlte Buhrufer vernichten

Interessant wird es immer dann, wenn sich Privates und Berufliches vermischen, wenn etwa Lucien seine vermeintliche Machtposition nutzt, Coralie für eine Hauptrolle durchzusetzen. Sein Einfluss und Status erweisen sich dabei als fragiler, als er wahrhaben wollte, und die Marquise d’Espard (Jeanne Balibar) weiß ihre Privilegien zu nutzen, den Auftritt durch bezahlte Buhrufer zu vernichten. Und auch Luciens Fall ist besiegelt.

Giannoli hält sich recht getreu an die Vorlage, erlaubt sich aber kleinere Freiheiten. Der umtriebige Singali (Jean-François Stévenin) etwa, der je nach Bedarf Claqueure und Tomatenwerfer im Saal positioniert, ist eine Erfindung für den Film. Und die Figur von Luciens ambivalentem Rivalen Nathan (gespielt vom Frankokanadier Xavier Dolan, sonst eher selbst als Autorenfilmer hinter der Kamera), setzt er aus drei Charakteren zusammen und macht ihn zur trocken-ironischen Erzählstimme des Films.

Damit unterstreicht Giannoli den literarischen Ursprung des Stoffs, seine Adaption ist keineswegs bloße Illustration der Romanvorlage, so hintersinnig böse sind die Kommentare und Bonmots.

In Frankreich einen Nerv getroffen

Das Historiendrama inszeniert er geradezu klassisch, ohne zwanghafte Modernisierungen oder gar ahistorische Details. Das ist auch gar nicht notwendig, so deutlich spiegelt der Stoff in vielem die Mechanismen weiter Teile der medialen Welt von heute wider, in der sich seitdem erstaunlich wenig verändert hat. Fake News etwa, die hier noch klassisch „Enten“ heißen, auch dafür gibt es eine Erklärung.

In Frankreich traf der 50-jährige Regisseur („Chanson d’Amour“) mit seinem achten Spielfilm einen Nerv. Eine Million Zuschauer im Kino und im Februar wurde er mit sieben Césars ausgezeichnet, dem wichtigsten Filmpreis des Landes, darunter als bester Film.

„Für Lucien begann alles mit Tinte, Papier und der Liebe für das Schöne“, leitet der Erzähler süffisant den Reigen ein. Am Ende ist davon nicht mehr viel übrig. Und Balzacs Schlusswort lässt sich, nach allen verlorenen Illusionen, auch als Plädoyer lesen, sich nicht unterkriegen zu lassen. Denn ist die Hoffnung erst dahin, kann man an­fangen zu leben.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.