Berliner Eckkneipen: Auf ein Bier
Hier kann man rund um die Uhr trinken, es ist ein Treffpunkt im Kiez – und ein von Gentrifizierung bedrohter Ort: Besuch in einer Berliner Eckkneipe.
Fortschreitende Gentrifizierungsprozesse und Lärmbeschwerden machen es der Eckkneipe aber nicht einfach. Stichwort Kneipensterben. Gleichzeitig sorgen soziale Medien dafür, dass wir für leichte, unverbindliche Unterhaltung und sozialen Kontakt nicht mal mehr das Haus verlassen müssen.
Was also ist noch übrig vom Mythos der Alt-Berliner Eckkneipe? Auf „Zur Quelle“ in Moabit, gibt es doch kaum einen besseren Ort, um diese Fragen zu beantworten. Wo Stromstraße und Alt-Moabit aufeinandertreffen, nicht weit vom U-Bahnhof Turmstraße, findet sich die Eckkneipe, die 24 Stunden und sieben Tage die Woche geöffnet hat.
Beim Reinkommen begrüßen mich die Wirtin und die dunkle Holzvertäfelung. Die Theke zieht sich einmal quer durch den Schankraum. Über ein paar Stufen gelangt man rechts an der Theke vorbei in den Raucherraum. Ich setze mich an die Theke und bestelle eine Cola. Es ist kurz nach 15 Uhr, außer mir und der Wirtin sind nur vier weitere Gäste da.
Gerade läuft in der digitalen Jukebox „Born in the USA“ von Bruce Springsteen. Der Mann neben mir, der sich als Stammgast vorstellt, grölt alternativtextsicher mit: „Bohr’n in der Naaaseee!“ Für 20 Cent pro Song darf hier jede*r mal DJ sein.
Orte der Gemeinschaft
Ein Berliner Kneipenspruch aus der Zeit um 1905 lautet: „Tu den Mund nicht unnütz auf, red vernünftig oder sauf.“ So richtig treffend ist er aber nicht, geht es in der Kneipe doch nicht nur um das kollektive Besäufnis. Kneipen waren und sind schon immer Orte der Gemeinschaft.
Die Eckkneipenkultur ist seit ihrer Entstehung Mitte des 19. Jahrhunderts untrennbar mit der Entstehung einer städtischen Arbeiter*innenschaft verbunden. Wohnraum und Schlafplätze fehlten, sodass die Kneipe ums Eck für viele zum Ersatzwohnzimmer wurde. Dass die Quelle in Moabit rund um die Uhr geöffnet hat, ist eben noch ein Überbleibsel aus dieser Zeit. So konnten die Arbeiter*innen nach ihrem Schichtdienst zu jeder Uhrzeit in die Kneipe auf ein Feierabendbier gehen. Aber auch heute stellt die Eckkneipe so eine immer präsente Konstante im Kiez dar.
Das Gemeinschaftsgefühl in Eckkneipen zeigt sich in kleinen Momenten: Stammgäste übernehmen Freundschaftsdienste füreinander und es fällt auf, wenn jemand mal eine Woche nicht auftaucht. Die Quelle hat sich mittlerweile gefüllt. Einer der Stammgäste wohnt direkt über der Kneipe, eine Handvoll zeigt die Straße runter, als sie nach ihrem Wohnort gefragt wird, der Rest wohnt im Kiez verteilt. Über die Jahre sind es weniger geworden, und es sind vor allem ältere, weiße Männer. Dieses homogene Stammpublikum stellt eine ganz eigene demografische Gruppe dar.
Mittlerweile läuft der Partyschlager „Das rote Pferd“. Musiktechnisch ist das Ganze so gemischt, wie das Publikum an einem durchschnittlichen Abend: Studierende treffen auf ein paar Urgesteine, daneben amüsieren sich Tourist*innen an der Dartscheibe. Eine Kollegin der Wirtin spricht von einer „Wundertüte“. Erst vor Kurzem habe es oben im Raucherraum einen Heiratsantrag gegeben. Die beiden haben sich hier kennengelernt und die Kumpel haben den Raucherraum mit Herzluftballons dekoriert, erzählt sie.
Servicekraft und Streetworker
Die Wirtin arbeitet schon seit über 40 Jahren in der Quelle. Sie und ein Teil der Stammgäste kennen sich bereits seitdem. Wen Wirt*innen mit Vornamen kennen und bei wem sie wissen, was er*sie trinken möchte, gilt als Stammgast. Die Wirt*innen sind für die Funktion der Kneipe als Kieztreffpunkt essenziell. Sie sind nicht nur Servicekräfte, sondern auch eine Art Streetworker.
Laut dem Soziologen Ray Oldenburg gibt es neben Wohnung und Arbeitsplatz noch einen weiteren elementaren sozialen Raum, der identitätsstiftend ist. Der „Dritte Ort“ steht grundsätzlich allen Menschen einer Gesellschaft offen. Es ist nicht zwangsläufig ein Ort, wo man Freund*innenschaften schließt, aber eben eher als in der S-Bahn, in der man mit Kopfhörern nebeneinander sitzt. Die Berliner Eckkneipe kann man als so einen „Dritten Ort“ verstehen. Lange Zeit galt sie als Ort ohne soziale Beschränkung. Zwar gibt es soziale Rituale und Regeln, jedoch zeichnet sich der Besuch vor allem durch Zwanglosigkeit aus.
Das grüne Jever-Schild über der Theke der Quelle flackert leicht. Manchmal herrscht kurz Ruhe, wenn die Jukebox auf neue Musikwünsche wartet und nur ein Grundrauschen von der Straße zu hören ist. Ich bemerke, wie die Stammgäste am anderen Ende des Schankraums mich mustern. Ein gewisser Argwohn liegt in der Luft. Wie bei zwei Hunden, die sich erst noch beschnuppern müssen. Vielleicht ein Zeichen des sozialen Wandels?
Die Entwicklung der vergangenen 30 Jahre ist von einer Ausdifferenzierung sowohl von Kneipengänger*innen in unterschiedliche Zielgruppen als auch des Schank- und Gastronomieangebots gekennzeichnet. Die Trennung von Eck- und Szenekneipe ist längst nicht mehr so deutlich. „Kneipenbesucher von heute sind eher Szenelokalbesucher. Anders als früher gehen sie nicht in jeder Stimmung in ihre Kneipe im Wohnviertel, sondern suchen sich die Lokalität aus, die zu ihrem Gefühl passt“, sagt Trendforscher Peter Wippermann. Wenn man unter Kneipe auch Orte wie Shishacafés, Schwulenbars oder türkische Teestuben fasse, werde deutlich, „wie sehr das Prinzip dieses Subgruppenorts Berlin inzwischen prägt“.
Die Codes der Eckkneipe
Die Berliner Eckkneipe hat gewisse Codes, die sich im Stammpublikum widerspiegeln: weiß, männlich, älter als 50, deutsch. Ich falle mit Anfang 20 offensichtlich zumindest teilweise aus diesem Code heraus. Kann ich als junger Mensch überhaupt Teil dieses Mikrokosmos werden oder bleibe ich Fremdkörper? Schafft die Eckkneipe diesen Schichtwechsel?
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Hinter mir füllt sich ein neuer Tisch. Drei Männer stoßen an: „Auf die Wirklichkeit des Lebens!“ Eines scheint sich über Generationen hinweg nicht geändert zu haben: Zu 90 Prozent werde Bier getrunken und zu 10 Prozent andere Getränke, schätzt die Wirtin. Ein Großteil davon, na klar, Schultheiss Pils. Lag doch noch bis 1980 gegenüber der Quelle ein großes Auslieferungslager der Schultheiss-Brauerei. Aber auch sonst gehört das Schultheiss für viele genauso zur Berliner Eckkneipe wie die urige Einrichtung. Für die, die sich mit Bier nicht anfreunden können, empfiehlt mir die Wirtin den Nimm2-Shot: Eine hausgemachte Spezialität aus Korn, Multivitaminsaft und Nimm2-Bonbons.
Auf dem Weg zur Toilette, die mit ihren silbernen Trennwänden, dem metallenen Papierspender und einer Vielzahl an Graffitis an ein ausrangiertes Raumschiff erinnert, nicke ich dem Mann an der Jukebox zu. Mittlerweile läuft „Danza Kuduro“ und ich bin mir nicht mehr sicher, ob wir uns im Jahr 2015 oder 2025 befinden. Ebenso wenig neu wie der sommerlich tanzwütige Song ist auch das Kneipensterben. Kam im Jahr 1900 auf 153 Berliner*innen noch eine Kneipe, sind es 2022 – neuere Zahlen gibt es nicht – ganze 3.380 Berliner*innen pro Schankwirtschaft. Insgesamt gab es 2022 nur noch 1.111 Schankwirtschaften in Berlin. 1994 waren es noch mehr als 4.000.
Zwischen den verschiedenen Arten von Schankwirtschaften wird nicht unterschieden. Ein Trend wird aber dennoch deutlich: Laut dem Deutschen Hotel- und Gaststättenverband sind die Hauptgründe für Kneipensterben Gentrifizierung, Lärmbeschwerden und gestiegene Kosten. Vor allem die finanziellen Herausforderungen, die durch steigende Preise und höhere Lebenshaltungskosten entstehen, haben Einfluss auf das Besuchsverhalten. Manche Gäste würden nicht mehr so häufig kommen wie früher, weil sie es sich nicht leisten können, erklärt mir die Wirtin.
Mythos der Eckkneipe am Leben halten
Am Tresen merke ich davon recht wenig. Neben mir bestellt ein Gast gerade zum zweiten Mal Kurze für sich und seine zwei Tischnachbarn. „Kneipenzeit ist vorbei“, kommentiert ein Gast, als er hört, dass ich mich mit Eckkneipen beschäftige. Der Argwohn scheint verflogen, das Interesse überwiegt. Ich und zwei der Stammgäste an der Theke kommen ins Gespräch. Wir sprechen über slowenisches Gemüse, Journalismus und Erich Kästner. Ein Stammgast überschüttet mich mit Erzählungen aus seiner Kindheit in Neustrelitz in Brandenburg. Heute sei vieles nicht mehr so gut wie damals, auch die Flüchtlinge machen es nicht besser, möchte er mir energisch erklären. Auch das ist eben Eckkneipe.
Der gesellschaftliche Wandel scheint auch hier nicht unbeschadet vorbeizuziehen. Ganz so, als sei die Eckkneipe plötzlich selbst eine Szenekneipe – die es aber nicht wahrhaben möchte. Wie wohl ihre Zukunft aussieht? Entscheidend dürfte sein, ob der Nachwuchs sich in seinen Kiezkneipen einnistet und den Mythos der Eckkneipe am Leben halten kann: bezahlbarer, gemeinsamer Treffpunkt im Kiez zu sein.
Mittlerweile ist es kurz vor acht Uhr abends. Die Quelle beginnt sich zu füllen. Einer der Stammgäste neben mir klopft auf die Theke mit den Worten „Ich geh jetzt in die Koje!“ und geht. Aus der Jukebox dröhnt ein Aretha-Franklin-Cover von Adeles „Rolling in the deep“. Auch ich verlasse die Quelle mit einem Wink Richtung Theke und meinem neu gewonnenen Platz im Kiez. Mit der Quelle habe ich, dem Mythos getreu, zumindest meine Stammkneipe im Kiez gefunden. Einen Monat später weiß die Wirtin dann auch, wie ich heiße und was ich trinke.
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