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Tod eines Kindes in Gaza„Ich sah sie an, und sie war leblos“

Israel lässt zu wenig mobile Unterkünfte nach Gaza passieren. Für die kleine Shaam al-Shanbari endet die Winterkälte im Zelt tödlich.

Die Zeltkonstruktion der Familie al-Shanbari schützt nur wenig vor Kälte und Wind Foto: Sami Ziara

Chan Yunis/Berlin taz | Mitte Dezember, etwa einen Monat, bevor die Waffenruhe im Gazastreifen beginnt, wird Youssef al-Shanbari und seiner Frau Iman ein Kind geboren: ein kleines Mädchen, Shaam. Statt in ein warmes Zuhause im nördlichen Beit Hanun, wo die Familie einmal lebte, kehren Mutter und Säugling von der Entbindungsstation des Nasser-Spitals in Chan Yunis in einen Verschlag zurück.

Eine Holz­kons­truk­tion bildet eine Art Scheune, darüber hat die Familie Plastikplanen gespannt – ein selbst gebautes Zelt. Eine der Planen ist bedruckt mit dem Schriftzug des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen, Unicef. Auf dem Boden sind dünne Teppiche ausgelegt. Kleine Löcher in den Planen lassen das Licht durchblitzen. Die Behausung bietet kaum Schutz: nicht vor dem Wind, der vom Meer hereinbläst, und nicht vor den kalten Temperaturen, die in Gaza in den Wintermonaten vor allem nachts oft unter 10 Grad fallen.

Ende Februar, etwa anderthalb Monate, nachdem die ­Waffenruhe begonnen hat, sitzt al-Shanbari nachts in dem Zelt und friert. „Ich konnte die Kälte kaum ertragen“, sagt er. „Wie sollten meine Kinder sie ertragen?“ In Decken habe er sie gehüllt: die vierjährige Ghazal, den zweijährigen Mohammed und Töchterchen Shaam. „Ich sah sie an, und sie war leblos“, erzählt er. Er habe sofort einen Krankenwagen gerufen. Der bringt sie in das Europäische Spital in Chan Yunis.

„Das Kind der Familie al-Shan­bari kam in unser Krankenhaus ohne bekannte Vorerkrankungen. Sie starb an einem Herzinfarkt – wegen schwerer Unterkühlung“, sagt Ahmed al-Fara, Leiter der Chirurgieabteilung des Europäischen Spitals. Und erklärt: „Stellen Sie sich einmal vor – die Körpertemperatur eines Kindes fällt auf 30 Grad, wenn sie zwischen 36,5 und 37,5 Grad sein sollte. Hypothermie bei Kindern führt zu schwerem Organversagen, in extremen Fällen zum Herzinfarkt“.

Hypothermie bei Kindern führt zu schwerem Organversagen, in extremen Fällen zum Herzinfarkt

Ahmed al-Fara, Leiter der Chirurgie im Europäischen Spital Khan Younis

„Wo sich Kinder aufhalten, muss geheizt werden“

Shaam al-Shanbari sei nicht das erste Kleinkind gewesen, das jüngst an Unterkühlung gestorben sei, erzählt er. Er wisse von drei weiteren Fällen im Norden des Gazastreifens und von einem weiteren Fall im Nasser-Spital. Solche Todesfälle zu vermeiden, sei eigentlich einfach, sagt er: „Wo sich Kinder aufhalten, muss angemessen geheizt werden. In Zelten und beschädigten Gebäuden ist das nicht möglich.“

Sein Kollege Salem al-Arjani, Leiter der Pädiatrie, sagt, nicht einmal das Krankenhaus könne man richtig heizen, es fehle an Sprit für die Generatoren. Al-Fara betont: „Die wahre Lösung ist es, die Besatzung [Israel; Anm. d. Red.] zu zwingen, die Grenzübergänge zu öffnen – für Baumaterialien und für mobile Häuser.“

Ghazal und Mohammed al-Shanbari werden ohne ihre kleine Schwester Shaam aufwachsen. Die Eltern sorgen sich auch um sie Foto: Sami Ziara

In der ersten Phase des Waffenstillstandsabkommens, so ist es darin vereinbart, soll Israel 200.000 Zelte und 60.000 mobile Häuser in den Gaza­streifen hineinlassen – ebenso Equipment zum Räumen der Trümmer, also zum Beispiel Bulldozer.

Doch bisher haben nur ein paar Zehntausend Zelte die Grenzübergänge passiert – und 15 mobile Häuser, berichtet die spanische Nachrichtenagentur EFE. Nach Angaben des Independent habe Israel die Mobilheime sowie große Zelte auf die Liste der Güter setzen lassen, die eine zusätzliche Inspek­tion durch Israel benötigten. Am Samstag ging die erste Phase der Waffenruhe zu Ende. Über die zweite Phase – oder eine Fortführung der ersten – wird derzeit verhandelt. Wohl um Druck auf die Hamas im Gazastreifen aufzubauen, hat Israel am Sonntag angekündigt, keine humanitäre Hilfe mehr in den Gaza­streifen zu lassen.

Vor dem Krieg war das Leben gut, sagt der Vater

Auch ein Rückzug der israe­lischen Armee aus dicht besiedelten Gebieten und dem Netza­rim-Korridor, der während des Kriegs Nord- von Süd-Gaza trennte, ist im Abkommen vereinbart. Viele Bewohner von Nord-Gaza konnten ab Ende Januar so in ihre Heimat zurückkehren – wenn auch oft nicht in ihre Häuser. Die Familie al-Shanbari bleibt vertrieben: Denn laut dem Abkommen darf die israelische Armee nahe dem Grenzzaun stationiert bleiben. Und die Wohnung der Familie befindet sich nahe dem Grenzübergang Erez zu Israel.

Also bleibt die Familie in ihrem Zelt, in der Hamad-Wohnsiedlung in Chan Yunis. Die Familie ist in den Kriegsmonaten seit dem 7. Oktober 2023 von einem Unterschlupf zum nächsten geflohen: „Von Beit Hanun nach Dschabaliya“, erzählt al-Shanbari, „dann nach Maghazi“, das von der israelischen Armee lange als humanitäre Zone definiert wurde. „Dann nach Rafah“, sagt er – bis dort das israelische Militär einrückte. „Dann nach Chan Yunis, dann ins Viertel Hamad“ – vor dem Krieg ein gediegenes Retortenviertel mit sandfarbenen Wohnblöcken, heute teils zerstört. Einmal seien sie nach dem Beginn der Waffenruhe gen Norden gezogen: „Dort gab es nichts, keine Unterkünfte, kein Trinkwasser, kein Leben.“ Sein früheres Zuhause dort, sagt er, existiere sowieso nicht mehr.

Israel müsste die Grenzübergänge öffnen, sagt Arzt al-Fara, hier in seinem Behandlungszimmer im Europäischen Spital in Chan Yunis Foto: Sami Ziara

Vor dem Krieg, sagt al-Shanbari, sei das Leben gut gewesen. Er habe als Bauarbeiter genug verdient, um die Familie zu ernähren. Doch seit Beginn des Kriegs fehlt der Familie das Einkommen. Sie hätten kaum die 20 Schekel für die Bestattung der kleinen Shaam zusammengebracht – umgerechnet 5 Euro. Sie liege nun in einem Grab auf dem Friedhof von Chan Yunis, weit weg von daheim. Der Krieg müsse endlich enden.

Der Arzt al-Arjani hofft auf die zweite Phase des Waffenstillstandsabkommens – so sie denn kommt: „Dann könnten wir hoffentlich besser medizinische Hilfe leisten.“ Zu spät für Shaam, nicht aber für andere Kinder. Al-Shanbari gibt den arabischen Staaten eine Mitschuld: „Sie tun nichts, kümmern sich nur um sich selbst. Unsere Kinder sterben auf den Straßen – und ­niemand fühlt unseren Schmerz.“

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10 Kommentare

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  • Für mich ist das keine Frage der Herkunft, nicht des Glaz, nicht dessen, wer woran schuldig ist pp., sondern wie, ich muss hier "wir" sagen, wir mit Kindern umgehen, was wir zulassen, was wir hinnehmen. Ähnlich auch der Umgang mit der Natur pp. . Das ist und bleibt mir unverständlich.

    • @Gerhard Krause:

      Der Umgang mit Kindern, das Hinnehmen, das Zulassen, die Unfähigkeit, Bequemlichkeit, die Machtlosigkeit, der Machtmissbrauch, die Strategien, die tatsächlichen oder nur eingebildeten Sachzwänge, das Ping-Pong-Spielen mit Brutalität und Maximalvorwürfen. Es tun die, die das können. Es sterben die, die nichts getan haben.

  • Schon interessant zu sehen. Auf ihren hauseigenen Propagandakanälen behaupten Hamas und die behandelnden Ärzte das Kind der Familie al-Shanbari sei direkt erfroren. In Deutschland hält man die Rezipienten wahrscheinlich nicht für einfältig genug und ändert es auf einen Herzinfarkt ab.



    Familienangehörige haben dagegen in Interviews mehrfach angegeben das Kind habe keine Vorerkrankungen gehabt und sei steif gefroren aufgefunden worden. Was stimmt denn nun?

    • @Šarru-kīnu:

      Der Leiter der Chirurgieabteilung des Europäischen Spitals, Ahmed al-Fara, wird hier folgendermaßen zitiert: "Sie starb an einem Herzinfarkt – wegen schwerer Unterkühlung“.



      Was wollen Sie hier suggerieren? Was macht es für einen Unterschied? Das Kind ist aufgrund der katastrophalen Bedingungen in den Lagern gestorben.

    • @Šarru-kīnu:

      naja, ein Kältetod ist idR ein Herztod, bei Säuglingen auch durch Blutansäuerung (Azidose) und konsekutiver Hypoxie mitbedingt. Letztlich ist das doch aber auch egal!

  • Wer immer noch nicht begriffen hat, dass die israelischen Hardliner lupenreine Kriegsverbrecher sind, dem fehlt Urteilsvermögen - oder er/sie ist fanatisch. Das hat alles nichts, gar nichts mehr mit dem legitimen Recht auf Selbstverteidigung zu tun. Es ist eiskalter Mord. Und nein: ich bin KEIN Antisemit...

  • Shaam, ihr Schicksal und ihr Tod sind sehr traurig. Ich hoffe, sie musste nicht leiden, sondern ist sanft entschlafen. Ihren Eltern und Geschwistern wünsche ich, dass sie Trost finden. Dem Wunsch des Vaters, dass dieser Krieg bald endet, schließe ich mich an. Es sind auf beiden Seiten bereits zu viele Menschen gestorben.

    Auf weitere Anmerkungen zu diesem Artikel verzichte ich aus Gründen der Pietät.

  • Das kann man nur versuchen zu ertragen und den Eltern das Mitgefühl aussprechen. Im Heiligen Land wird kleinen Kindern das Einfachste vom Einfachen verweigert. Die "Kindertodtenlieder" sind bald 200 Jahre alt und irgendwie nützt es nichts.

    • @Hans - Friedrich Bär:

      Es ändert sich nichts, weil wie vor 200 Jahren gilt: Die Menschlichkeit hat keine Macht und die Macht keine Menschlichkeit. Verantwortung müssen Menschen nicht nur haben. Sie müssen sie auch wahrnehmen (dürfen). So einfach ist das - und so unendlich schwer.

  • Bei dem schrecklichen Thema Erfrierungstod muss ich unweigerlich an Volker Beck denken, der sich noch vor zwei Monaten das Erfrieren von Kindern in Gaza bei derartigen Temperaturen öffentlichkeitswirksam nicht erklären konnte.

    Vielleicht versteht er es ja dieses Mal.