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Körperund Natur

Bettina Wilpert liefert in „Die bärtige Frau“ eine eindringliche Darstellung von Mutterschaft im Deutschland des 21. Jahrhunderts

Von Simon Sahner

Es gibt eine Beschreibung der eigenen Arbeit, auf die man unter Au­to­r*in­nen immer wieder stößt: das Buch als Baby, das mit der Veröffentlichung geboren wird. Der Vergleich – wenn auch überzogen – scheint auf den ersten Blick nicht so fern zu liegen. Die Leipziger Autorin Bettina Wilpert allerdings, selbst Mutter zweier Kinder, lehnt ihn aus mehreren Gründen vehement ab. In einem Instagrampost, den sie gegen Ende ihrer ersten Schwangerschaft und der Arbeit an ihrem zweiten Roman „Herumtreiberinnen“ schrieb, erklärt sie dazu: „Noch nie habe ich so sehr wie in der Schwangerschaft gemerkt, wie mein Körper der Natur unterworfen ist und ich über bestimmte Dinge keine Kontrolle habe. Über das Schreiben meines Romans habe ich die volle Kontrolle.“

Jetzt ist mit „Die bärtige Frau“ ihr dritter Roman erschienen, ein Roman darüber, wie es ist, ein Kind gebären zu können, über Geschlechtsidentität, über das Schwangerwerden und -sein, über das Gebären und über das Muttersein. Liest man diesen Roman, bekommt man eine gute Ahnung davon, warum sich Wilpert gegen den Vergleich zwischen Roman und Baby wehrt. „Die bärtige Frau“ wird erzählt von Alex, die zum ersten Mal für drei Tage von ihrem etwa einjährigen Kind Paula getrennt ist, weil sie von Leipzig in ihr bayrisches Heimatdorf fährt, um ihre Mutter nach einem Unfall zu unterstützen. Paula und ihr Vater Oliver, mit dem Alex zusammenlebt, bleiben in Leipzig. In den Tagen bei ihrer Mutter stößt Alex auf Spuren ihrer eigenen Kindheit und reflektiert das erste Jahr als Mutter und die Zeit davor. Im Zentrum steht für sie dabei die Frage, wie sie zwischen Eigen- und Fremderwartungen als cis Frau herausfindet, wie sie selbst als Mutter leben will und kann.

Bettina Wilpert: „Die bärtige Frau“. Verbrecher Verlag, Berlin 2025, 192 Seiten, 22 Euro

Die Erwartungen, die Alex spürt, speisen sich unter anderem aus der christlichen Kultur, einer Kultur, welche die Figur der Mutter einerseits überhöht und andererseits unterdrückt und in der das Kinderkriegen zur größten Lebensaufgabe einer Frau erklärt wird. Mit dem Wunsch, selbst ein Kind zu bekommen, sucht Alex einen Weg, sich diesen Wunsch zu erfüllen, ohne ihr emanzipiertes Selbst in den Wirren dieser Kultur und den Strukturen einer patriarchalen Gesellschaft zu verlieren. Wilpert gelingt dabei eine eindringliche Darstellung von Mutterschaft im Deutschland des 21. Jahrhunderts, in der das Glück und die Liebe dieser Erfahrung sichtbar werden, ohne die Herausforderungen und Traumata, die sie begleiten, zu leugnen.

Im Klappentext wird der Roman als „radikale Körperliteratur“ bezeichnet, und auch wenn Wilperts Erzählung von Mutterschaft weit über Körperlichkeit hinausgeht, versteht man, was damit gemeint ist. Bereits der Titel „Die bärtige Frau“ stellt diesen Bezug her. In der zentralen Szene des Romans flüchtet Alex vor dem Regen in eine Kapelle in ihrem Heimatort, dort sieht sie im Kirchenfenster ein Bildnis der stillenden Maria, das sich plötzlich zu verändern scheint. In Alex’ Wahrnehmung erscheint im Fenster jedoch stattdessen das Gemälde der bärtigen Magdalena Ventura des spanischen Malers Jusepe de Ribera aus dem 17. Jahrhundert. Es zeigt die titelgebende Frau stehend beim Stillen ihres Kindes, sie trägt einen langen schwarzen Bart. Dieser symbolisch aufgeladene Moment, in dem sich ein traditioneller Ort aus Alex’ Kindheit vor ihren Augen dann zu verändern scheint, als das patriarchal normierte Idealbild einer Frau und Mutter aufgebrochen wird, steht exemplarisch für das Aufbrechen von Narrativen über Weiblichkeit und Mutterschaft, das den ganzen Roman prägt.

Die Erzählerin berichtet von ihrer Fehlgeburt und den anschließenden Ängsten, beschreibt die Schmerzen der Entbindung und beobachtet die Veränderungen ihres Körpers während und nach der Schwangerschaft. Aber sie erzählt auch vom überwältigenden Gefühl, einen Menschen in sich zu tragen, und von der unvergleichlichen Nähe beim Stillen. Die Beschreibungen des Mutterwerdens und -seins, die dabei entstehen, sind chaotisch und schön, erfüllend und schmerzhaft, beängstigend und hoffnungsvoll. Eindrücklich ist vor allem die Szene, in der Alex – nur wenige Tage nach dem Abstillen – im Badezimmer ihrer eigenen Kindheit ihre schmerzenden Brüste massiert, um die Milch herauszudrücken, die sich wieder angesammelt hat. Die Umgebung hat sich nicht verändert, aber der Körper. Vergangenheit trifft auf Heute und vergangenes Selbst auf das der Gegenwart.

Die Leipziger Autorin Bettina Wilpert Foto: Nane Diehl

Wilpert hat „Die bärtige Frau“ als ihren autobiografischsten Roman bezeichnet. Autobiografische Literatur ist oft der Versuch, sich das eigene Leben wieder anzueignen, selbst wenn es in Form eines Romans geschieht. Hier schließt sich der Kreis zum vermeintlich naheliegenden Vergleich von Roman und Kind. Die Erfahrungen der Schwangerschaft, der Geburt und des Lebens als Mutter entgleiten der Figur Alex immer wieder, überwältigen sie und fordern sie heraus.

Wilpert kleidet diese Erfahrungen, die sie vermutlich wie die meisten Mütter selbst kennt, in ihren Roman in eine nüchterne und konzentrierte Sprache, reflektiert und dekonstruiert sie und gewinnt damit die Kontrolle über sie zurück.

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