: „Wirkönnenesunsnichtleisten,keine Meinungzuhaben“
In den vergangenen Wochen haben bundesweit Hunderttausende Menschen gegen rechts demonstriert. Protestforscherin Lisa Bogerts befragt Menschen, was sie motiviert, auf die Straße zu gehen, und analysiert, ob das überhaupt etwas bringt
Interview Marie Frank Foto Steve Braun
taz: Frau Bogerts, gehen Sie gerne auf Demos?
Lisa Bogerts: Ja.
taz: Sind Sie deshalb Protestforscherin geworden?
Bogerts: Nein. Tatsächlich habe ich zu Streetart geforscht und bin dann über die künstlerischen Protestformen zur Protestforschung gekommen.
taz: Was war Ihre erste Demonstration?
Bogerts: Meine erste Demo war gegen den Irakkrieg und George W. Bush 2003 in Berlin. Mit über 500.000 Menschen war das auch gleich eine der größten Demonstrationen in der Geschichte der Bundesrepublik. Damals war ich 17 Jahre alt. Zufällig war das auch die erste Demo, bei der mein heutiges Institut – das Institut für Protest- und Bewegungsforschung – Befragungen durchgeführt hat. Mich haben sie damals aber nicht befragt.
taz: Ist die Nähe zu sozialen Bewegungen für Protestforscher*innen ein Problem oder eher förderlich?
Bogerts: Ein persönliches Interesse ist nicht nur förderlich, sondern unbedingt nötig. Für die Forschung braucht man einen sehr langen Atem, und da ist eine gewisse Faszination nötig, um bei der Stange zu bleiben. Ich glaube, das ist in jeglicher Forschung so. Krebsforscher*innen sind ja dem Krebs gegenüber oft auch nicht neutral, sondern haben eine persönliche Motivation. Denen würde man auch nicht unterstellen, dass sie nicht objektiv genug sind, sondern sie sind einfach fasziniert von dem Forschungsgegenstand.
taz: Kann man nicht auch zu nah dran sein?
Bogerts: Persönliche Nähe muss von professioneller Distanz begleitet sein, um die Forschungsergebnisse nicht zu verzerren. Das kann man herstellen, indem man wissenschaftliche Standards anwendet und kritisches Feedback aus dem Kollegium einholt.
taz: Sie sind bei SOS Humanity aktiv. Ist das ein Problem für Ihre Forschung?
Bogerts: Ich bin aktivistisch im Bereich Flucht und Migration unterwegs. Aber dazu forsche ich nicht. Ich würde nicht die Demos und Aktionen erforschen, in die ich selbst involviert bin. Ich würde auch nicht sagen, dass sich persönliches zivilgesellschaftliches Engagement und professionelle Forschung ausschließen, im Gegenteil. Ich würde sogar sagen, dass es erforderlich ist, gerade bei Themen wie Schutz der Demokratie und dass es sich Forschende nicht leisten können, keine Meinung zu haben.
taz: Wie erforschen Sie Proteste und wozu eigentlich?
Bogerts: Das Häufigste sind Befragungen von Teilnehmenden auf Straßendemonstrationen. Wir fragen nach ihren Motivationen, Hintergründen, Forderungen. Wir versuchen herauszufinden: Wer protestiert da eigentlich? Dann gibt es noch die teilnehmende Beobachtung, wo man sich die Dynamik und die Stimmung anschaut. Ich werte außerdem Ästhetiken visueller Protestkommunikation aus, vor allem im extrem rechten Kontext.
taz: Sie erforschen Proteste nun seit zwölf Jahren, haben die sich seitdem stark verändert?
Bogerts: Es gab schon große Veränderungen. Zum einen hat sich Protestkommunikation natürlich sehr stark ins Digitale verschoben. Dann gab es in den vergangenen zehn Jahren, seit Pegida, eine starke Polarisierung. Es gab große rechte Bewegungen, aber auch große linke oder auch eher bürgerliche Proteste dagegen. Neu war die gesunkene Hemmschwelle, mit rechten und demokratiefeindlichen Akteur*innen gemeinsam auf die Straße zu gehen, wie es bei den Coronademos zu sehen war.
taz: In den vergangenen Jahren haben ja vor allem die Proteste von Klimaaktivist*innen für Aufsehen gesorgt.
Bogerts: Es gibt ein Revival von zivilem Ungehorsam, gerade auch durch die Klimaproteste. Das ist eine sehr alte und traditionsreiche Protestform.
taz: Der Staat ist recht hart dagegen vorgegangen. Hat das eine neue Qualität?
Bogerts: In den letzten Jahren hat sich ein härteres Vorgehen gegen Protestierende gezeigt. Also harte Gerichtsurteile gegenüber Klimaaktivist*innen, aber auch Einschränkungen des Versammlungsrechts gegenüber propalästinensischen Demonstrierenden.
taz: Woran liegt das? Wann ist Repression besonders heftig?
Bogerts: Das kommt auf den Kontext und die sozialen Gruppen an, die protestieren. In einer Studie von Amnesty International von 2024 hat sich herausgestellt, dass in Deutschland vor allem rassifizierte Personen – insbesondere Schwarze Menschen und Menschen mit familiärem Hintergrund im arabischen Raum –, Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit und Klimaaktivist*innen Repressionen erleiden. Diese drei Gruppen sind überdurchschnittlich von unverhältnismäßigen Repressionen betroffen. In anderen Ländern sind es andere Gruppen. In Ungarn und Polen queere Personen, in Griechenland und in Großbritannien Frauen. Dagegen gab es hier kaum Repression.
taz: Wie sieht die Repression aus?
Bogerts: Am meisten Aufmerksamkeit erregt natürlich Polizeigewalt. Es gibt aber auch Gewalt oder Bedrohung durch Anwohnende, Fußgänger*innen oder Gegendemonstrant*innen. Staatliche Repression können auch administrative Hürden sein. Also indem Anmeldungen von Versammlungen nicht stattgegeben werden, diese verboten oder vorzeitig beendet werden. Aber auch unverhältnismäßige Strafverfolgung, sehr harte Urteile. Oder Diffamierung von Protest im politischen Diskurs. Etwa indem Politiker*innen Protestierende als Kriminelle oder Terrorist*innen bezeichnen, ohne dass diese verurteilt wurden. Es ist sehr besorgniserregend, dass CDU/CSU nach der Bundestagswahl sofort die Finanzierung von Nichtregierungsorganisationen prüfen lassen, die sich an den friedlichen Demos gegen das Vorgehen der Union, im Bundestag AfD-Stimmen in Kauf zu nehmen, beteiligt haben.
taz: Oft wird beklagt, der Staat gehe gegen linke Demonstrationen heftiger vor als gegen rechte. Können Sie das bestätigen?
Bogerts: Dazu habe ich keine Daten.
taz: Gibt es denn mehr linke oder mehr rechte Demos?
Bogerts: Bei unseren Befragungen ordnen sich deutlich mehr Leute selbst eher links ein. Das liegt aber auch daran, dass Protestforschung auf eher rechten Demos viel schwieriger ist. Es gibt sehr viel mehr Ablehnung und sehr viel weniger Rücklauf.
taz: Wie sieht so eine Befragung aus?
Bogerts: Wir sind immer im Zweierteam. Das heißt, ich suche nicht selber die Person aus, die ich befragen möchte, sondern die andere Person macht das per Zufallsprinzip. Das machen wir, damit wir nicht nur die Leute befragen, die uns sympathisch sind. Wir haben auch People of Color im Team, und für die ist es zum Beispiel unangenehmer, Personen anzusprechen, die eher rechts aussehen, weil sie Angst vor Ablehnung oder sogar Bedrohung haben. Aber um den Datensatz nicht zu verzerren, müssen wir auch Leute befragen, von denen wir denken, dass sie der Forschung ablehnend gegenüberstehen.
taz: Wurden Sie dabei schon mal angefeindet?
Bogerts: Durchaus. Auf einer der Bauerndemos im vergangenen Jahr. Ich würde nicht sagen, dass das eine rechte Demo war, aber es haben sich auch Querdenker*innen darunter gemischt. Dabei wurden wir angefeindet, und uns wurde unterstellt, wir würden vom Staat finanzierte und orchestrierte Forschung machen.
taz: Mussten Sie schon einmal abbrechen?
Bogerts: Die Sicherheit der Forschenden ist immer im Vordergrund, wir haben ein Awareness- und ein Sicherheitskonzept, wir sind immer in der Gruppe. Aber abbrechen mussten wir noch nie.
taz: Was ist bei rechten Demos anders als bei linken?
Bogerts: Rechte Mobilisierung arbeitet sehr viel gezielter mit Abwertung und Hass gegenüber konkreten Personengruppen. Gesellschaftlich marginalisierten Gruppen wird die Schuld an bestimmten Problemen zugeschoben und es wird Angst geschürt. Das beobachten wir bei linken Protesten wirklich sehr selten. Und es findet eine Täter-Opfer-Umkehr statt. Also dass die marginalisierten Gruppen nicht nur beschuldigt werden, sondern auch als Bedrohung für einen selbst dargestellt werden. Außerdem arbeiten rechte Proteste mit sehr verkürzten Narrativen. Es werden Slogans oder Bilder benutzt, die komplexe gesellschaftliche Phänomene auf etwas ganz Einfaches herunterbrechen. Und es wird oft mit Falschinformationen gearbeitet, sodass die Wirklichkeit und die gesellschaftliche Komplexität total verzerrt werden.
taz: Warum ist das so erfolgreich?
Bogerts: Für Menschen, die sich bedroht fühlen, abgehängt fühlen, ist das viel leichter zu verstehen. Es ist eine Art von Populismus, dass man sich als Stimme des Volkes darstellt, aber auch als Opfer, das sich verteidigen muss.
Der Mensch
Lisa Bogerts ist Politikwissenschaftlerin mit Sitz in Berlin. Sie forscht zu Mobilisierungstheorien, zu visueller politischer Kommunikation linker Bewegungen und zur digitalen Bildsprache extrem rechter Akteure und leitete das Forschungsprojekt „Ohne Demokratie ist alles nichts. Teilnehmende, Motive und Effekte der Proteste gegen Rechtsextremismus im Juni 2024“ des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung (ipb).
Das Institut
„Auch wenn Politik ,von unten‘ auf der öffentlichen Agenda weit oben steht, spielt sie in den deutschsprachigen Sozialwissenschaften nur eine marginale Rolle“, so steht es als Diagnose im im April 2012 vorgelegten Memorandum zur Gründung des Institus für Protest- und Bewegungsforschung. Das versteht sich als „Netzwerkinstitut“ und führt – um eben das angesprochene Defizit zu korrigieren – Studien und Forschungsprojekte zu Protesten, sozialen Bewegungen und bürgerschaftlichem Engagement durch, eigenständig oder in Kooperation mit Universitäten und außeruniversitären Forschungseinrichtungen.
taz: Warum gehen Menschen überhaupt auf die Straße?
Bogerts: Die Leute müssen ein Problem sehen oder eine bestimmte Forderung haben. Und sie müssen der Meinung sein, dass genau diese Protestform, nämlich der Straßenprotest, das richtige Mittel ist und dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist.
taz: Was war Ihr bestes Demonstrationserlebnis?
Bogerts: 2023 sollte der sogenannte Schleuserparagraf verändert werden, sodass auch zivile Seenotretter*innen mit bis zu zehn Jahren Haft rechnen mussten. Da haben wir uns als SOS Humanity an der Demo beteiligt, zusammen mit ProAsyl und anderen, und auch eine Onlinepetition gestartet. Das Bundesinnenministerium hat dann den Gesetzestext geändert. Auch wenn weiterhin einige humanitäre Tätigkeiten an den EU-Außengrenzen strafbar bleiben, war das schon ein deutliches Zeichen dafür, dass unser Protest Erfolg hatte.
taz: Bleiben wir beim Erfolg von Protest. Wie kann man den bemessen?
Bogerts: Meistens an der offensichtlichsten Wirkung: einer Änderung von Politik. Gesetzesänderungen werden gemacht oder zurückgezogen, Wahlen beeinflusst, Politiker*innen treten zurück. Aber es gibt auch noch andere Arten von Erfolg: etwas auf die politische Agenda zu setzen, politische Entscheidungsträger*innen unter Druck zu setzen, bestimmte marginalisierte Gruppen sichtbar zu machen. Protest kann aber auch nach innen eine Wirkung haben, indem es Anhänger*innen motiviert, die Hoffnung nicht zu verlieren, sich Gleichgesinnte kennenlernen und miteinander vernetzen. Indem ein Gemeinschaftsgefühl gestärkt wird und man individuelle negative Gefühle teilen und auch umwandeln kann.
taz: Und wie misst man so etwas?
Bogerts: Wir haben für unsere Studie „Ohne Demokratie ist alles nichts“ die Teilnehmenden der Massendemonstrationen gegen Rechtsextremismus im vergangenen Jahr gefragt, wie sich ihr Verhalten seitdem geändert hat. Über die Hälfte hat gesagt, dass sie seitdem im Alltag häufiger in politische Diskussionen eingreifen. Und immerhin fast ein Viertel, also 23 Prozent, haben gesagt, dass sie häufiger eingreifen, wenn sie Diskriminierung im Alltag beobachten.
taz: Also Protest bringt eben schon etwas?
Bogerts: Es gibt viele Beispiele für wirksamen Protest. Wir sitzen hier im bUm, dem Raum für solidarisches Miteinander in Berlin-Kreuzberg, wo eigentlich der Google Campus entstehen sollte. Nach massivem Widerstand dagegen hat Google gesagt, dass es den Raum wegen der Proteste der Zivilgesellschaft überlässt.
taz: Gibt es eine Art Erfolgsrezept von Protesten?
Bogerts: Studien haben gezeigt, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Proteste erfolgreich sind, größer ist, je diverser das Repertoire ist. Also nur Straßendemos oder nur Online-Petitionen oder nur ziviler Ungehorsam ist weniger erfolgreich, als wenn unterschiedliche Protestformen angewandt werden. Weil man eine größere Zielgruppe anspricht. Man spricht hier auch vom Flankeneffekt. Ein bekanntes historisches Beispiel dafür ist die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung in den 60er Jahren. Man geht davon aus, dass die Bewegung um Martin Luther King, die ja gewaltlos war, davon profitiert hat, dass es auch die Black Panther gab, die ja eher radikaler waren. Viele haben sie abgelehnt, trotzdem haben sie sehr viel Aufmerksamkeit geschaffen für das Thema. Und dann haben viele gesagt: Wir unterstützen das Anliegen, aber in einer weniger radikalen Form.
taz: In den vergangenen Wochen gab es Massendemonstrationen gegen rechts mit Hunderttausenden Teilnehmer*innen. Wie wichtig ist denn die Größe eines Protests für dessen Erfolg?
Bogerts: Je größer ein Protest ist, desto größer ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass er gesehen und gehört wird. Wenn 100.000 oder 200.000 Leute auf der Straße sind, soll das ein Zeichen senden für die Politiker*innen: Das könnte sich auf euer Wahlergebnis auswirken. Deshalb ist die Größe schon wichtig, um Druck auszuüben.
taz: Trotzdem ist die Größe ja nicht alles. Die Bauernproteste im vergangenen Jahr waren sehr viel kleiner, aber erfolgreich. Die Klimabewegung hingegen weniger. Woran liegt das?
Bogerts: Sowohl die Bauernproteste als auch die Letzte Generation haben zu disruptiven Protestmitteln gegriffen. Aber es gibt einen deutlichen Unterschied: Die Agrarlobby hat deutlich mehr Einfluss als die Klimabewegung. Auch waren die Auswirkungen bei Nichterfüllung der Forderungen für viele Menschen bei den Bauerndemos sehr viel besser vorstellbar als bei den Klimaaktivist*innen. Nach dem Motto: Wenn wir nicht mehr arbeiten, habt ihr nichts zu essen. Die Forderungen der Klimabewegung sind für viele zu abstrakt und zu weit weg. Deshalb wird auch diese Radikalität und Dringlichkeit von vielen nicht so sehr verstanden, wie das bei den Bauerndemos gewesen ist.
taz: Es gibt ja viele, die noch nie in ihrem Leben auf einer Demo waren. Andere rennen zu jeder Gelegenheit hin. Woran liegt das?
Bogerts: Manche fühlen sich unwohl dabei, Teil einer großen Gruppe zu sein, wo man nicht weiß, wer da noch mitläuft. Gemeinsam Slogans zu rufen, bei denen man vielleicht nicht zu 100 Prozent mitgeht. Viele Menschen haben auch Angst vor Repressionen, etwa aufgrund von Racial Profiling. Und andere wiederum sind desillusioniert und enttäuscht von der Politik und haben den Glauben daran verloren, dass Straßendemos was bringen können. Viele können auch nicht aus strukturellen Gründen, weil sie Lohn- oder Carearbeit machen müssen. Oder sie fürchten negative Reaktionen aus ihrem Umfeld. Andere präferieren andere Protestformen.
taz: Was würden Sie jemandem sagen, der*die noch nie auf einer Demonstration war?
Bogerts: Dass es ein sehr besonderes Gefühl ist, in der großen Menge seine Empörung oder seine Angst teilen und ihr Luft machen zu können. Dass es eine sehr körperliche Erfahrung ist, durch die Bewegungen, die Musik, das gemeinsame Rufen von Sprechchören. Das kann sehr prägen und es ist gut, auszuprobieren, ob einem das liegt.
taz: Eine Welt ohne Protest wäre …
Bogerts: … eine komplett andere als jetzt, mit deutlich weniger Freiheitsrechten für die meisten von uns.
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