: Dieser Krieg ist ein Angriff auf unsere Lebensweise
Putins Angriff auf die Ukraine zielt darauf ab, die eigenständige demokratische Entwicklung in Osteuropa zurückzudrängen. Dafür legt er es darauf an, das kulturelle Erbe der Ukraine zu zerstören. Ein Gastbeitrag
Von Anton Hofreiter
Der neuen US-Administration geht es nicht um Frieden. Ihren Hauptgegner sieht sie nicht in autokratischen Staaten wie China oder Russland – vielmehr will sie die europäische Demokratie bekämpfen. Das haben Präsident Trumps Ideen für einen sogenannten Friedensplan für die Ukraine und die Rede von Vizepräsident Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz eindrücklich gezeigt. Gemeinsam mit Putin und Xi möchte Trump die Welt in Einflusssphären aufteilen, über die sie jeweils die Macht haben. Wie gefährlich dieser Ansatz ist und wie wenig er mit Frieden zu tun hat, zeigt sich am eindrücklichsten in der Ukraine.
Frieden herrscht erst, wenn die Menschen in der Ukraine dauerhaft vor einem erneuten Angriff Russlands auf ihr Land geschützt sind. Frieden erfordert mehr als nur ein formelles Abkommen. Er erfordert Sicherheitsgarantien, um langfristige Stabilität und Vertrauen zu schaffen. Erst dann können die Menschen in der Ukraine sicher in Frieden, Freiheit und Demokratie leben. Nur so können sie über ihr eigenes Leben bestimmen: ihr politisches System, ihre Lebensweise und ihre Kultur.
Putin ging es mit seinem Angriffskrieg auf die Ukraine von Beginn an nicht um ein paar Landgewinne. Es geht ihm vielmehr um die Ausweitung seiner politischen Einflusssphäre. Er befürchtet, dass eine demokratische Ukraine mit einer Anbindung an die Europäische Union seine geopolitische Position schwächen würde. Putin hat in verschiedenen Reden seine Idee einer „russischen Welt“ dargelegt, zu der auch eine unterworfene Ukraine gehören solle. Dafür müsse die ukrainische Sprache und Lebensweise ausgelöscht werden. Putin sieht die westlichen Demokratien, insbesondere die EU, als eine Bedrohung für seine Macht. Der Angriff auf die Ukraine zielt darauf ab, die eigenständige demokratische Entwicklung in Osteuropa zurückzudrängen und zu unterbinden und die globale Ordnung zu destabilisieren, um Russlands Position zu stärken. Dafür steht ihm ein eigenständiger demokratischer ukrainischer Staat im Weg.
Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine wurden zahlreiche Kulturstätten beschädigt oder zerstört. Laut Unesco wurden bis zum 22. Januar 2025 insgesamt Angriffe auf 476 Kulturstätten verifiziert, darunter 149 religiöse Stätten, 241 Gebäude von historischem oder künstlerischem Interesse, 32 Museen, 33 Denkmäler, 18 Bibliotheken, ein Archiv, zwei archäologische Stätten. Darunter das Museum der bildenden Künste in Odessa, die Bombardierung des Theaters in Mariupol, das Museum für den Philosophen Hryhorii Skovoroda in Charkiw. In Winnyzja wurde das Kulturhaus mit Marschflugkörpern zerstört, in Tschernihiw ein Theater, in Cherson wurde die Bibliothek mehrfach beschossen. Die tatsächliche Zahl könnte sogar noch höher liegen, da nicht alle Fälle dokumentiert sind. Die Zerstörung von Kulturstätten ist ein Kriegsverbrechen, da sie erhebliche Verluste für das kulturelle Erbe darstellen.
Kultur spielt eine zentrale Rolle bei der Bildung von kollektiver Identität, Erinnerung und der Bildung von Werten. Ihre Zerstörung kann eine Gesellschaft destabilisieren und ist ein häufiges Mittel von Autokraten. Der Angriff auf derart viele Kulturstätten kann daher kaum Zufall sein. Putin legt es darauf an, das kulturelle Erbe der Ukraine zu zerstören und damit die Kontrolle über die Bevölkerung zu erlangen.
Warum haben es Autokraten auf das kulturelle Erbe abgesehen? Erstens: Kunst, Literatur oder Musik schult Menschen im kritischen Denken und ermutigt sie, gegen Autorität aufzubegehren. Wenn kulturelle Ausdrucksformen unterdrückt werden, wird es den Menschen erschwert, ihre Gedanken und Ideen frei zu äußern und sich zusammenzutun, Gleichgesinnte zu finden. Zweitens: Autokraten versuchen, die Geschichte einer Gesellschaft umzudeuten, um die eigene Macht zu legitimieren. Ereignisse, die ihr Regime in Frage stellen, werden ausgelöscht und durch Denkmäler oder Bücher ersetzt, die eine von ihnen kontrollierte Erzählung enthalten. Drittens: Die Zerstörung von Identität, von Symbolen und Praktiken, kann eine Form der Entwurzelung sein, die es den Menschen erschwert, sich als eigenständige freie Gemeinschaft auszudrücken. Stattdessen soll eine Einheitsideologie herrschen und verbreitet werden.
Wladimir Putins Regierung hat in Tschetschenien mit der Unterstützung von Ramsan Kadyrow, dem tschetschenischen Präsidenten, die vorherrschende Kultur in der Region zerstört. Seit dem Zweiten Tschetschenienkrieg (1999–2000) und den folgenden Jahren, in denen Russland die Kontrolle über die Region erlangte, gab es mehrere Fälle von Kulturzerstörung, Unterdrückung und Umgestaltung, die oft mit dem russischen autokratischen Ansatz und der Politik in Tschetschenien verbunden sind. Insbesondere kulturelle Praktiken, die als „westlich“ oder zu „modern“ galten, wurden unterdrückt.
Wladimir Putin fühlt sich durch Demokratie und demokratische Werte bedroht, weil sie im Widerspruch zu seinem autokratischen Herrschaftsmodell stehen. Als Präsident Russlands verfolgt Putin eine Politik, die darauf abzielt, seine eigene Macht zu konsolidieren und die Kontrolle über die russische Gesellschaft sowie über politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Institutionen zu sichern. Liberale Kräfte, eine freie Presse und eine starke Zivilgesellschaft stehen unter erheblichem Druck.
Putins autokratisches System basiert auf der Konzentration von Macht in seinen Händen und einer Politik, die keinen Platz für politische Opposition oder echte Demokratie lässt. Demokratische Institutionen und Mechanismen wie freie Wahlen, unabhängige Medien und eine pluralistische Gesellschaft fördern den Wettbewerb um Macht und würden seine Herrschaft gefährden. In einem demokratischen System wäre es für ihn nicht nur schwieriger, seine politische Kontrolle zu bewahren, sondern er wäre auch in seinem Machtanspruch und in der Legitimierung seiner Politik herausgefordert.
Putin fürchtet, dass demokratische Bewegungen, die in anderen postsowjetischen Staaten wie der Ukraine (zum Beispiel die Orange Revolution von 2004 oder die Euromaidan-Proteste von 2014) oder in ehemaligen sozialistischen Ländern stattgefunden haben, in Russland selbst aufkeimen könnten. Diese Revolutionen, die auf demokratischen Prinzipien beruhen und autokratische Herrschaft ablehnen, haben in der Geschichte immer wieder Regime gestürzt. Für Putin ist genau das der Albtraum.
Demokratie könnte die politische und wirtschaftliche Macht der russischen Elite bedrohen, einschließlich der Oligarchen, die Putin unterstützt. Das aktuelle System ermöglicht es einer kleinen Gruppe von Menschen, enorme Reichtümer zu kontrollieren, während die breite Bevölkerung von wirtschaftlicher Unsicherheit betroffen ist. In einem demokratischeren System würden diese Oligarchen zur Rechenschaft gezogen, was ihre Machtposition ernsthaft gefährden könnte.
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In den letzten Jahren habe ich immer wieder darauf hingewiesen, dass die Ukraine auch unsere Freiheit verteidigt. Damit meinte ich genau das: Putin hat es nicht nur auf Landgewinne und militärische Stärke abgesehen, sondern auf die Zerstörung der freiheitlichen und demokratischen Kultur der Ukraine und letztendlich ganz Europas. Er duldet keine Demokratie in seiner direkten Nachbarschaft, da diese eine Gefahr für ihn, für sein Regime und die gesamte Oligarchenelite in Russland darstellt.
Gerade deshalb ist es von enormer Bedeutung – und liegt zugleich in unserem ganz eigenen Interesse –, die Ukraine zu unterstützen. Dazu gehört neben humanitärer und finanzieller Hilfe sowie politischer Beratung – etwa im EU-Beitrittsprozess – an zentraler Stelle auch die Lieferung von Flugabwehrsystemen und Waffen. Insbesondere Flugabwehr schützt nicht nur Zivilist*innen und die Energieinfrastruktur, sondern eben auch das ukrainische kulturelle Erbe.
Anton Hofreiter war von 2013 bis 2021 Vorsitzender der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen. Seit Dezember 2021 ist er Vorsitzender des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union im Deutschen Bundestag.
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