Ringen um den Koalitionsvertrag: In ruhigem Fahrwasser
Während die Welt bebt, ringen die Parteien um einen gemeinsamen Koalitionsvertrag. Warum wir das Warten aushalten sollten.

W ährend Trump und Putin die weltpolitischen Realitäten im Stundentakt neu definieren, tüfteln Union und SPD noch an einem Koalitionsvertrag, der vermutlich bald hinfällig sein wird. Mit einer nachvollziehbaren Ungeduld blicken im In- und Ausland deshalb viele derzeit irritiert auf die weiter andauernden Sondierungsgespräche und Koalitionsverhandlungen in Deutschland.
Hat man die Dringlichkeit der Lage nicht verstanden? Der Koalitionsvertrag sei das Papier nicht wert, auf dem er geschrieben steht, hieß es so auch am Montag in der taz. Der Koalitionsvertrag, das Fischpapier von morgen. Und die Welt, der tote Fisch? Ein Ausbuchstabieren der politischen Vorhaben der kommenden Legislatur ist demnach realitätsfern und redundant, werde sie doch in kürzester Zeit mit voller Wucht auf dem Boden der Wirklichkeit zerschellen.
Die Coronapandemie oder der russische Angriffskrieg der Ukraine haben in den letzten Jahren gezeigt, wie schnell die Politik von der Realität eingeholt werden kann. Stattdessen erhoffen sich viele mehr Pragmatismus: Einige Gemeinsamkeiten festlegen, Verfahren klären, den Rest nehmen, wie es kommt. So schafft man sich zumindest kurzfristig Flexibilität, etwa, um schnell auf aktuelle Geschehnisse zu reagieren – und doch ist der Preis dafür langfristig hoch.
Durch diese Forderung wird nämlich ein politischer Kontext geschaffen, in der Reaktivität als politisches Ziel ausreicht. Eine Koalitionsregierung ist nicht mehr aufgefordert, tatsächliche Inhalte zu verhandeln, daraus politische Ziele zu formulieren und ihr Handeln anschließend an diesen messen lassen zu müssen.
Vertrauenswürdigkeit messen
Denn auch wenn die Koalitionsvereinbarung kein rechtlich bindender Vertrag ist, so ist er doch eine moralische Absichtserklärung, eine an der sich politische Akteur:innen zumindest in ihrer Vertrauenswürdigkeit messen lassen müssen.
Das spiegelt sich in der politischen Berichterstattung. Über tausend Mal wurde alleine in der taz seit Beginn der letzten Legislaturperiode im Herbst 2021 auf den Koalitionsvertrag Bezug genommen. Ob es dabei in der Bildungspolitik um die vorgesehene Anpassung des Bafög-Regelsatzes, die Umlage des CO₂-Preises durch Einführung des Klimageldes oder das Demokratiefördergesetz geht.
Selbst wenn es nur darauf zielt, die Visionslosigkeit der Koalitionspartner:innen festzustellen, ist die Koalitionsvereinbarung ein geeignetes Instrument. Einmal zumindest wird transparent, worauf und auf wie viel davon sich die gewählten Parteien einst einig werden konnten.
Ohne sind wir stattdessen allenfalls den persönlichen und uns letztlich unbekannten Selbstansprüchen der Merzens, Söders und Klingbeils ausgeliefert. Männern, von denen zumindest einer, trotz vorheriger ausführlicher Beteuerung des Gegenteils, vor fünf Wochen noch sein Versprechen brach und zusammen mit der AfD stimmte.
Nicht nur andere kritisieren
Damit würden wir uns nur weiter der inhaltslosen populistischen Personalisierung annähern, einem Politikstil, den wir an den USA so gerne kritisieren.
Bahnbrechende Zukunftsvisionen wurden in den recht kleinteiligen Willensbekundungen zwar noch nie formuliert und die Zeit der Visionen ist wohl so oder so vorbei. Und würden Politiker:innen in diesen Zeiten eine heile Welt in ihren Koalitionsvereinbarungen beschwören, müsste man sich wohl erst recht sorgen, von wem man da regiert wird.
Doch zugleich sollten wir destruktiven und disruptiven Kräften nicht die aktive Gestaltung der Wirklichkeit überlassen. Der bewährte besonnene Vorgang einer Regierungsbildung in Deutschland, samt Sondierungs- und Koalitionsvertrag, sollten wir diskutieren, womöglich verändern, aber nicht panisch in seiner Gesamtheit infrage stellen. Der um sich greifenden Wahrnehmung vom herrschenden, akzelerationistischen Chaos würde das sonst nur ein Stück weit den Weg bereiten.
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