piwik no script img

Der lange Weg durch das Schweigen der Institutionen

Lange, viel zu lange haben Opfer, aber auch Mitwisser von Sexualverbrechen und Institutionen geschwiegen. Das verdeutlichen die Verhandlungen gegen den Arzt und pädophilen Serientäter Joël Le Scouarnec, aber auch andere Prozesse und späte Enthüllungen

Joel Le Scouarnec vor Gericht in Vannes Foto: Abbildung: Andrew Heavens/reuters

Aus Paris Rudolf Balmer

Wie Bomben mit Spätzünder explodieren derzeit in Frankreich Enthüllungen von äußerst schweren Sexualverbrechen, „rekordverdächtigen“ Serientätern und lange Zeit verdrängten oder vertuschten pädophilen Missbräuchen und Vergewaltigungen.

Mit Schrecken und Scham blickt die französische Gesellschaft auf eine Vergangenheit zurück, in der Institutionen, die berufliche Umgebung, aber manchmal auch Familienangehörige von Opfern lieber wegschauten, als Alarm zu schlagen. Diese Epoche der Omertà, des auferlegten Schweigens, soll vorbei sein. Das ist die Botschaft mehrerer Prozesse und Enthüllungen in den Medien.

Nach dem weltweit verfolgten Prozess gegen Dominique Pelicot, den Enthüllungen über den Obdachlosenpriester Abbé Pierre oder die unzähligen Misshandlungen von Schülern im Knabeninternat Notre-Dame de Bétharram zeichnet sich ab, dass weitere ebenso schockierende Verbrechen an den Tag kommen, die lange unter Verschluss gehalten wurden.

Auf der Anklagebank des Gerichts von Vannes in der Bretagne sitzt seit einigen Tagen ein eher unauffälliger Mann mit Brille und einem weißen Haarkranz. Der 74-jährige Joël Le Scouarnec sieht aus wie irgendein Rentner, es handelt sich aber um den vermutlich schlimmsten pädophilen Sexualtäter der französischen Kriminalgeschichte. Der ehemalige Facharzt für Darmchirurgie hat in seinen Tagebüchern Buch geführt: Er hat Details und Namen notiert und kommentiert, was er in rund 30 Jahren über 300 Kindern angetan hatte.

Zu den Opfern, um die es in diesem Prozess ging, gehörten auch die Kinder seiner Schwester. Die ganze Familie war schockiert, als am fünften Prozesstag Le Scouarnec zudem gestand, dass er auch seine Enkelkinder sexuell missbraucht hätte.

Beim in der letzten Woche eröffneten Prozess in Vannes ist er wegen Vergewaltigungen und sexuellen Missbrauchs von insgesamt 299 Minderjährigen unter 15 Jahren angeklagt. Ihr Durchschnittsalter betrug elf Jahre. Nicht nur diese Zahlen schockieren, sondern auch die Tatsache, dass Le Scouarnec seine Tätigkeit als Arzt missbrauchte, um sich zwischen 1989 und 2014 zuerst in seiner privaten Klinik und später als Chirurg in öffentlichen Krankenhäusern an oft noch anästhesierten Kindern zu vergehen. Und dies, ohne je aufzufallen oder überführt zu werden. Die Operationssäle und Krankenzimmer wurden für diesen Serientäter laut Le Monde zum „Jagdrevier“.

Alarmzeichen hatte es gegeben. Eine Information kam von der US-Bundespolizei FBI, die Le Scouarnecs Namen und Kreditkarten beim Kauf von Kinderpornos im Darkweb regis­triert und an die französischen Behörden weitergeleitet hatte. Er wurde im November 2004 von der Gendarmerie vorgeladen, hatte aber Zeit, eventuell belastendes Material vor einer Hausdurchsuchung zu beseitigen. Nach einer Verurteilung zu vier Monaten auf Bewährung notierte er im Tagebuch: „Ich bin nochmals entronnen.“

Verhängnisvoll war, dass anschließend diese Verurteilung keine Folgen für seine ärztliche Karriere im Kontakt mit Kindern hatte. Als er sich 2005 für einen Chefarztposten im bretonischen Quimperlé bewarb, warnte zwar ein Psy­chia­ter, der gerüchteweise von Le Scouarnecs Verurteilung gehört hatte, brieflich die Ärztekammer und die Krankenhausdirektion. Diese bestellte daraufhin in Vannes einen Auszug aus dem ­Strafregister. Darin aber war nichts aufgeführt, weil der zuständige Gerichtsdiener mit dem Aktualisieren stark in Verzug war.

Die Ärztekammer wiederum leitet die Sache an die regionale Sozial- und Gesundheitsdirektion weiter, die ihrerseits das Dossier an die Behörde des Departements sandte, die es an das Gesundheitsministerium schickte, von wo es retourniert wurde und so vorerst versandete. Und Le Scouarnec bekam 2006 seine Stelle. Als später seine Vorstrafe doch noch der Direktion in Quimperlé mitgeteilt wurde, behielt sie wegen des Personalmangels den Chirurgen.

Ähnlich reagierte 2008 auch die Krankenhausdirektorin in Jonzac im Département Charente-Maritime, die Kenntnis von Le Scouarnecs Vorstrafe hatte, aber ihn dennoch anstellte, weil die Fachärzte Mangelware waren und weil er angeblich „so nett“ war.

Erst im April 2017 wurde Le Scouarnec verhaftet, nachdem er sich an der sechsjährigen Tochter eines Nachbarn in Jonzac vergangen hatte. Bei einem ersten Prozess unter Ausschluss der Medien 2000 wurde er für vier belegte Missbrauchsfälle zu 15 Jahren verurteilt. Beim jetzigen Prozess muss er mit der Höchststrafe von 20 Jahren rechnen.

Céline Astolfe, die im Prozess als Anwältin die Nebenklägerin Fondation pour L’Enfance (eine Kinderschutzstiftung) vertritt, führt den Institutionen deren Verantwortung vor: „Dass diese Kammern, Stellen im Ministerium und Krankenhausdirektionen nicht intervenierten, ist ein wichtiges Thema in diesem Prozess. Für die Opfer, und damit so etwas nicht wieder geschehen kann, müssen wir das verstehen können.“

Um andere Institutionen, Behörden und Ministerien geht es beim Skandal um das katholische Internat Notre-Dame de Bétharram in der Nähe von Pau. Inzwischen haben 150 ehemalige Schüler gegen Angehörige des Erziehungs- und Aufsichtspersonals Klage wegen Misshandlung und Vergewaltigung in der Zeit zwischen 1950 und 2004 eingereicht. Mehrere der beschuldigten Geistlichen und Laienbrüder sind verstorben. Einer der Beschuldigten war 2024 noch im Dienst.

Das auf Enthüllungen spe­zia­lisierte Onlinemagazin Médiapart hat eine wesentliche Rolle gespielt, um diese Vergangenheit der renommierten religiösen Privatschule am Rande der Pyrenäen aufs Tapet zu bringen. Ungewollt hat der amtierende Premierminister François Bayrou ebenfalls dazu beigetragen, weil er im Parlament auf die Frage eines Abgeordneten behauptete, er habe in den 90er Jahren als Bürgermeister von Pau, als Vorsitzender der Départementsbehörden, als Erziehungsminister und vor allem als Vater von drei Kindern, welche die Schule von Bétharram besuchten, „von Gewalt und erst recht von sexueller Gewalt“ nichts gewusst oder gehört.

Für Médiapart ist das eine „Lüge“. Als 1998 gegen den vormaligen Direktor des Internats wegen Vergewaltigung eines Schülers ermittelt wurde, kam Bayrou nach Angaben des damaligen Untersuchungsrichters, um sich als Vater eines Schülers in Bétharram zu erkundigen. Nach einer zweiten Vergewaltigungsklage brachte sich der Ex-Direktor in Rom ums Leben. Damit war die Akte Bétharram wieder und auf lange Zeit geschlossen. Es wurde weitergeschwiegen, und die Misshandlungen und sexuellen Missbräuche gingen (fast bis heute) weiter.

Als später seine Vorstrafe der Direktion mitgeteilt wird, behielt sie den Chirurgen wegen des Personalmangels

Im Nachhinein schieben sich die lokalen Verantwortlichen und nationalen Aufsichtsbehörden gegenseitig die Schuld zu. Niemand fühlte sich für die Kontrolle des Internats zuständig, obschon dieses wie andere Privatschulen vom Erziehungsministerium finanziert wird. Dass der Bétharram-Skandal kein Einzelfall war, belegen nun Klagen gegen andere reli­giö­se Privatschulen, aber auch gegen staatliche Einrichtungen in Frankreich. Als unantastbar galt zu Lebzeiten der Obdachlosenpriester Abbé Pierre. Er war in Frankreich als Gründer der Emmaus-Gemeinschaft und Held der Résistance ein Idol und starb 2007 hochgeehrt.

Im Sommer 2024 wurde aufgrund eines Untersuchungsberichts der Emmaus-Stiftung bekannt, was in der Stiftung und der kirchlichen Hierarchie viele oft seit Jahrzehnten wussten: Dieser die Nächstenliebe predigende Priester war für Frauen und Mädchen in seiner Nähe ein Scheusal. Die Zahl der regis­trierten Opfer seiner Belästigungen und Vergewaltigungen beläuft sich auf 57. Ein Teil dieser Geschichte war bei der Kirche mit Briefwechseln von 1950 bis 1971 aktenkundig. Schon in den 50er Jahren warnten Bischöfe, Kardinäle oder auch der Apostolische Nuntius intern die Kirche vor dem „ungehörigen“ Verhalten des populären Obdachlosenpriesters. Auch der Vatikan war informiert.

Für Frankreich war es ein Schock, als im Nachhinein die Wahrheit herauskam. Die französische Bischofskonferenz hat aus den Skandalen gelernt und mit dem Bericht einer unabhängigen Kommission (CIASE) die finsteren Kapitel der sexuellen Missbräuche von Geistlichen dokumentiert.

Die sich häufende Zahl von Prozessen und Enthüllungen stellt einen Hoffnungsschimmer für viele Opfer dar, die aus Furcht oder Scham schwiegen. Aber auch eine ernsthafte ­Warnung für alle, die aus Rücksicht auf ihre Interessen oder Angst ihnen bekannte sexuelle Vergehen und Verbrechen lieber verharmlosten. Selbst der ­Angeklagte Joël Le Scouarnec scheint sich gerade erst seiner Grausamkeit bewusst zu werden: „Ich habe grässliche Dinge getan. Und ich bin mir völlig im Klaren, dass diese Wunden unauslöschlich und unheilbar sind.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen