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Was kostet eine Subkultur?

Die Kommerzialisierung von Graffiti auf Häuserwänden sorgt für Spannungen in der Szene. Viele Sprü­he­r*in­nen lehnen die Vermarktung ihrer Kunst für Werbezwecke ab – stehen jedoch selbst unter dem Druck, Geld zu verdienen

Über den Dächern: Graffiti-Künstler*in in Berlin Foto: BRUT Berlin (BN)

Aus Berlin Lilly Schröder

Er gilt als Berlins professionellster Vandale, die Stadt als seine Leinwand. Kaum eine Tür in Berlin bleibt Mr. Paradox Paradise verschlossen. Mit selbstgebauten Spezialwerkzeugen manipuliert oder öffnet der Street-Artist Wohnungstüren, flext Dachluken auf und seilt sich nachts von Hausfassaden, Wolkenkratzern und Windrädern ab, um seine Kunst an unerreichbar erscheinenden Orten zu hinterlassen – immer mit der Polizei im Nacken.

Was Mr. Paradox Paradise antreibt: auf soziale Missstände aufmerksam zu machen. Seit den frühen 2010er Jahren – anfangs mit den „Berlin Kidz“, einer der prägendsten Graffiti-Crews Berlins – hinterlässt er Spuren in der Stadt. Sein Markenzeichen: rot-blaue kryptische Schriftzüge, seine „Paraglyphs“, die sich vertikal über ganze Hauswände ziehen – oft mit systemkritischen Botschaften versehen. „Hartz IV essen Seele auf“ steht dann da oder „Moderne Sklaverei“, zu sehen etwa am Kottbusser Tor in Kreuzberg.

„Graffiti wird oft als Vandalismus betrachtet. Doch für viele Sprayer ist es mehr als illegale Kunst – es geht darum, eine Haltung zu zeigen“, sagt ein Insider der taz. „Sprayer sind Menschen, die sich mit dem etablierten ­System auseinandersetzen. Es ist eine Lebenseinstellung – ein Werkzeug, um Sichtbarkeit gegen den Mainstream zu schaffen.“

Doch Graffiti und Mainstream verschmelzen immer mehr. Die einstige Subkultur ist zunehmend von der „Urban Art“ vereinnahmt worden, einer legalisierten und institutionalisierten Form von Graffiti, die Graf­fi­tikünst­le­r*i­nen ermöglicht, in einem organisierten Rahmen zu malen. „Vor allem in gentrifizierten Großstädten entwickelt sich Graffiti in eine kommerzialisierte und instrumentalisierbare Kultur“, sagt Friederike Häuser, Kriminologin, Sozialarbeiterin und Herausgeberin der im Juventa-Verlag erschienenen Sammelbände „Graffiti und Politik“.

Die Vermittler bei diesem Prozess sind Agenturen wie Concrete Candy aus Leipzig oder XI-Design aus Berlin. XI ist Marktführer für handgemalte Außenwerbung im Graffiti-Stil und vermietet zu kommerziellen Zwecken Wände an Marken wie Nike und Adidas, Netflix oder Amazon – gegen eine vereinbarte Summe für die Hauseigentümer*innen.

Die Agentur bietet deutschlandweit Flächen an, allein in Berlin über 50, darunter an der Oberbaumbrücke in Friedrichshain oder am Hermannplatz in Neukölln. Gegründet wurde das Unternehmen 2012 von den Graffiti-Koryphäen Jörn Reiners, Kimo von Rekowski und Marco Bollenbach. Als „Dixons“ prägten sie schon in den 90er Jahren die Berliner Graffiti-Szene auf der Straße. „Wir sind erwachsen geworden und wollten Geld verdienen mit dem Werkzeug, das wir lieben, und mit den Menschen etwas erreichen, denen wir vertrauen“, erklärt Jörn Reiners den Übergang zur legalen Kunst.

Unter Sprü­he­r*in­nen von der Straße stößt ihr Ansatz auf Widerstand: „In der Szene wird so etwas kritisch betrachtet“, erklärt der Insider. „Es geht nicht darum, dass Wände offiziell gemalt werden – das ist mega –, sondern darum, dass es Werbung ist, an der am Ende nicht die Künstler, sondern Unternehmen verdienen.“

Allein die Miete für eine gut gelegene Wand von XI kann fünfstellige Beträge erreichen. Der Preis für ein Werbe-Wandmotiv variiert je nach Standort, Größe, Motiv und dem Künstlerhonorar. „Wir wollen korrekte Budgets für unsere Leute“, versichert Reiners. Die Künst­le­r*in­nen würden ihren Preis nennen.

Samuel Walter von der Produktionsfirma YAP, die Fassadenmalereien für Wohnungsbauunternehmen anbietet, kritisiert jedoch, dass die Bezahlung oft in keinem angemessenen Verhältnis zu den Gewinnen der Agenturen stehe. „Viele Künstler können es sich schlicht nicht leisten, Aufträge von großen Agenturen abzulehnen“, sagt Walter. Zudem würden die Kun­d*in­nen das Motiv festlegten – meist würden hyperrealistische Wandbilder gewünscht. „Den Malern bleibt kaum kreative Freiheit. Ihre eigenen Styles verschwinden aus dem öffentlichen Raum.“

Auch Graffiti-Expertin Häuser sieht die Rolle von Agenturen wie XI kritisch. Mit ihrer Vermarktung von Wandflächen würden die Agenturen „der Graffitikultur ein Messer in den Rücken rammen“, sagt sie. Graffiti-Künstler*innen der Straße hielten sich an szeneinterne Kodexe und Regeln. Weil die Gründer von XI, die Dixons, zu den „Oldschoolern“ gehörten, hätten sie ein gewisses Ansehen in der Szene. Und der Szenekodex besage nun einmal: Wenn ein etablierter Sprüher gemalt hat, wird nicht drüber gemalt. „Wer es trotzdem tut, bekommt entweder direkt aufs Maul oder muss dem anderen eine bestimmte Anzahl Dosen als Entschädigung geben.“

Letzlich geht es um eine Machtfrage. Wer entscheidet darüber, was wo ist? Wer profitiert davon? Längst haben auch Immobilienkonzerne wie Vonovia, die Adler Real Estate oder Deutsche Wohnen Graffiti in ihre Firmenkommunikation integriert. Unter dem Slogan „Kunst für den Kiez“ organisiert die Deutsche Wohnen bundesweit seit Jahren medienwirksame Street-Art- und Graffiti-Projekte. Laut eigenen Angaben möchte sich der Konzern so für eine „lebendige und abwechslungsreiche Kiezkultur“ einsetzen. Das bringe Farbe in die Kieze „und lässt sie zu einzigartigen Orten werden“.

„Wir sind erwachsen geworden und wollten Geld verdienen mit dem Werkzeug, das wir lieben“

Jörn Reiners, XI-Design

Gegen ein solches „Artwashing“, also die Imageaufwertung von Immobilienkonzernen, die sich als selbstlose Förderer von Urban Art inszenieren, setzt sich auch die Graffiti-Szene inzwischen zur Wehr. So etwa beim Berlin Mural Fest, das von 2018 bis 2021 von XI-Design kuratiert wurde. Dabei wurden Urban-Art-Künstler*innen berlinweit Häuserfassaden zur Verfügung gestellt – hauptsächlich aus dem Bestand der Deutsche Wohnen, die das Festival sowohl finanziell als auch mit Wandflächen unterstützte. Im Rahmen des Festivals hatte XI-Design Sprü­he­r*in­nen mit der Anfertigung eines Memorial-Murals für Attila Murat Aydın, alias Maxim, an einer Hauswand in der Kreuzberger Naunynstraße beauftragt. Die Ikone der Berliner Graffiti-Szene und Gründer der Kreuzberger 36 Boys war Anfang der 2000er Jahre ermordet worden.

Kurz nach der Fertigstellung des Murals kritisierten beteteiligte Ma­le­r*in­nen, dass sie nicht darüber informiert worden waren, dass die Aktion von Deutsche Wohnen als „PR-Veranstaltung“ finanziert wurde. Sie kritisierten außerdem, dass Maxims Freundes- und Familienkreis nicht in die Planung einbezogen und nicht zu einer Gedenkveranstaltung vor der Wand eingeladen wurden. In Reaktion darauf schwärzten sie das Memorial – eine gängige Praxis in der Szene. Die schwarze Wand steht symbolisch für den Widerstand gegen den Ausverkauf und die Gentrifizierung der Stadt.

Zeitgleich machte die Kampagne „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ auf die Auswirkungen der Unternehmensstrategie des Immobilienkonzerens aufmerksam, die viele Mie­te­r*in­nen durch explodierende Mieten und drohende Zwangsräumungen in Not brachte. In einem offenen Brief warfen Künst­le­r*in­nen und Ak­ti­vis­t*in­nen der Deutsche Wohnen vor, „den Anschein zu erwecken, dass Sie sich um die Stadt, die Menschen und bezahlbaren Wohnraum kümmern, während sie seit Jahren genau das Gegenteil tun“.

Die Kritik richtete sich auch an XI-Design: „Genauso wie die Kollaborateure, die ihnen helfen und dabei schlussendlich gegen die Kultur arbeiten, zu der sie sich vermeintlich zugehörig fühlen“, heißt es in dem Brief weiter.

Auf dieser Hauswand in der Sonnenallee wird auf jeden Fall Geld verdient Foto: BRUT Berlin (BN)

„Wir können die Kritik verstehen“, sagt Jörn Reiners von XI-Design der taz. Sie hätten aber „mit Politik nichts am Hut“. Der Fokus der Agentur liege darauf, Wände zu bemalen und den Künst­le­r*in­nen faire Budgets zu bieten. Die Verbindungen zur Graffiti-Szene seien nach wie vor stark, für ihre Non-Profit-Aktionen nähmen sie Kontakt zu allen Mitgliedern ihrer Community auf und fragen, wer sich beteiligen möchte, so Reiners.

Tatsächlich engagiert sich XI-Design schon länger auch in unkommerziellen Wandmalereien sowie in Soli- und Non-Profit-Projekten. Mit „The Haus“ starteten sie 2017 ein temporäres Kunstprojekt in einer ehemaligen Bank in Charlottenburg, bevor das Gebäude in Luxus-Apartments umgewandelt wurde. Über Monate hinweg ermöglichte die Agentur damals mehr als 100 Künstler*innen, das leerstehende Gebäude mit fünf Etagen und 12.000 Quadratmetern Fläche zu gestalten. Der Ort firmierte für acht Wochen als „die größte temporäre Street-Art-Galerie der Welt“.

Zum „Portfolio“ der Agentur gehört derzeit auch die „Fleischfassade“ an der Bernauer Straße in Berlin-Mitte, die an die Teilung Berlins erinnert. XI-Design hat außerdem auf eigene Kosten eines der ersten Wandbilder Berlins von Ben Wagin aus dem Jahr 1975 am S-Bahnhof Tiergarten in Mitte saniert.

Bei Graffiti ist eine einfache Einteilung der Akteure in die Kategorien legal oder illegal, kommerziell oder antikapitalistisch nicht so einfach möglich. Es existieren zahlreiche Grauzonen: Es gibt Auftraggeber*innen, die Inhalt und Form vorgeben, andere, die Künst­le­r*in­nen freien Lauf lassen. Ebenso gibt es Künstler*innen, die stark moralisch orientiert sind, und solche, die es sich leisten können, Aufträge abzulehnen – oder eben nicht.

Ehrenwand für den Berliner Graffiti-Künstler Maxim in Kreuzberg Foto: BRUT Berlin (BN)

Letztlich können sich selbst Sys­tem­kri­ti­ke­r*in­nen nicht vollständig dem kapitalistischen System entziehen. So kooperierten auch schon die Berlin Kidz mit dem Urban Nation Museum an einem Wandprojekt in der Bülowstraße in Schöneberg. Und auch Mr. Paradox Paradise hat sich zunehmend dem legalen Markt zugewandt und verkauft seine Skulpturen, die inzwischen sein Markenkennzeichen sind, in Galerien, auch wenn er sie weiterhin an Hausfassaden im urbanen Raum inszeniert. Dieser bleibe seine bevorzugte Leinwand, so der Künstler.

„Kommerz und Kunst müssen sich nicht zwangsläufig ausschließen“, meint Graffiti-Expertin Häuser. Auftragsarbeiten und „echtes“ Graffiti könnten nebeneinander bestehen, doch es bleibe ein Kampf um Flächen und Sichtbarkeit. Daher müsse immer wieder neu ausgehandelt werden: Wem gehört die Stadt, und wer gestaltet sie?

Sie habe jedoch Vertrauen in die Szene, sagt Häuser. „Da ist genug Widerstandskraft.“

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