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Ein Präsident, viele Fronten

Der Aufstieg Wolodymyr Selenskyjs vom Schauspieler zum Staatschef ist beispiellos. Dann kam der Krieg

Auf Truppenbesuch: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj im Dezember 2024 an der Front in Saporischschja Foto: Präsident Ukraine via imago

Von Anastasia Magasowa

Es war keine einfache Woche für Wolodymyr Selenskyj und für die Menschen in der Ukraine. Der ukrainische Präsident muss sich von den USA verraten fühlen und kämpft mit den unberechtigten Vorwürfen seines einstigen Verbündeten. Die Vereinigten Staaten unter Präsident Donald Trump kopieren russische Propaganda und betreiben klassische Täter-Opfer-Umkehr.

Be­ob­ach­te­r:in­nen der Kriegslage weisen darauf hin, dass Selenskyj einen fatalen Fehler begangen hat, als er es wagte, Trump herauszufordern. Vor allem, als er ein für die Ukraine ungünstiges Abkommen über den Zugang zu Seltenen Erden ablehnte. Aber ist es nicht das, was der Staatschef eines Landes tut, das um sein Überleben kämpft? Selenskyj bezeichnet so die Eigenschaft, in kritischen Momenten „unbequem zu sein“. Vielleicht ist er genau das – ein unbequemer Präsident für jene, die ihre demokratischen Werte verkaufen.

Der ukrainische Präsident hat in den sechs Jahren seiner Amtszeit einen bemerkenswerten Wandel durchlaufen – von einer politisch unerfahrenen und zufällig in der ukrainischen Politik gelandeten Figur zu einem der bekanntesten und einflussreichsten Politiker der Gegenwart. Er zeigte persönlichen Mut zu Beginn der russischen Invasion und widersetzte sich bereits zu Trumps erster Amtszeit dessen Forderungen. Beides sind lästige Eigenschaften für den russischen Autokraten Putin ebenso wie für den US-Präsidenten mit seinen autoritären Tendenzen.

Als Selenskyj 2019 völlig überraschend die Präsidentschaftswahlen gewann, war dies für viele ein Ausdruck für die Unzufriedenheit der ukrainischen Gesellschaft mit der Politik seines Vorgängers Petro Poroschenko. Mit über 73 Prozent der Stimmen im zweiten Wahlgang – einer überwältigenden Mehrheit in fast allen Regionen des Landes – wurde Selenskyj nicht nur der jüngste Präsident der Ukraine, sondern auch der erste, dem es gelang, eine traditionell gespaltene Wählerschaft zu vereinen. Wenige Monate später gelang ihm ein weiterer Erfolg: Bei den Parlamentswahlen gewann seine Partei Diener des Volkes eine deutliche Mehrheit und bildete eine Alleinregierung. Ein Novum in der ukrainischen Geschichte.

Das Ergebnis gab Selenskyj praktisch eine Carte blanche für die Umsetzung seiner Wahlversprechen. Rasch verabschiedete er eine Reihe neuer Gesetze, die für die geplanten Reformen notwendig waren. Sein Regierungsstil bekam das Prädikat „Turbo“. Mit ähnlich hohem Tempo wechselte er auch sein Team aus, selbst engste Vertraute aus seinem Wahlkampf wurden nicht verschont. Etliche Entlassungen begründete er mit dem Stichwort „Ineffizienz“, ein Muster, das sich bis heute fortsetzt. So verabschiedete sich Selenskyj etwa vom Leiter des Präsidialamtes Andrij Bohdan, dem Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte Waleryj Saluschnyj und dem – auch international anerkannten – Außenminister Dmytro Kuleba. Aus seinem ursprünglichen Team hat Selenskyj nur Andrij Jermak behalten. Heute ist er sein Präsidialamtschef.

Zeitgleich mit der Beliebtheit Selenskyjs kamen weitere fragwürdige Personalentscheidungen. Viele seiner Verbündeten gerieten schnell in Korruptionsskandale. Obwohl der Präsident und dessen Partei versuchten, sich schnell von ihnen zu trennen, blieben wichtige Reformprojekte auf der Strecke. Die Regierung Selenskyjs punktete aber bei Fortschritten in der Digitalisierung der Verwaltung.

Ein zentrales Wahlversprechen Selenskyjs war das Ende des Kriegs in der Ostukraine. Seine anfängliche Strategie war simpel: aufhören zu schießen und dann verhandeln. Selenskyj glaubte, dass er mit Wladimir Putin zu einer Einigung kommen könnte. Dies führte zur Wiederaufnahme der sogenannten Normandie-Gespräche 2019 mit Unterstützung der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Doch die Gespräche brachten kaum Fortschritte, außer einem teilweisen Truppenabzug. Rückblickend ist klar, dass Russland diesen Rückzug für die groß angelegte Invasion im Februar 2022 nutzte.

„Ich war ein junger und unerfahrener Politiker, aber selbst damals konnte er mich nicht dazu bringen, eine für die Ukraine ungünstige Vereinbarung zu unterzeichnen“, erinnert sich Selenskyj kürzlich an sein Treffen mit Putin 2019. Diese Äußerung bezieht sich vermutlich auch auf den gegenwärtigen Druck aus den USA, mit dem Kreml zu verhandeln.

Eine weitere Herausforderung für Selenskyj war die Corona-Pandemie, die bereits 2020, im ersten Jahr seiner Präsidentschaft, begann. Es fehlte an Schutzmaßnahmen, wirtschaftliche Probleme während des Lockdowns und die stockende Reformagenda führten zu einem enormen Vertrauensverlust. Während Selenskyj 2019 Zustimmungswerte von 80 bis 90 Prozent verzeichnete, sanken seine Beliebtheitswerte bis Anfang 2022 auf 37 Prozent.

Aber alles änderte sich am 24. Februar 2022. „Ich bin hier, wir alle sind hier“ – diese Worte Selenskyjs am Tag der russischen Invasion werden in die ukrainische Geschichte eingehen. Er und sein Team verließen Kyjiw trotz Lebensgefahr nicht und begannen, die Verteidigung der Hauptstadt zu organisieren. Innenpolitisch wird Selenskyj immer noch heftig dafür kritisiert, dass er die Bevölkerung nicht vor der realen Bedrohung warnte, sondern auf Beruhigung setzte. Einige Ex­per­t:in­nen erklären dies damit, dass Selenskyj trotz westlicher Geheimdienstberichte erst an einen Angriff glaubte, als er selbst die Explosionen in Kyjiw hörte.

Sein Mut, nicht zu fliehen, die Fähigkeit, sein Land zu einen, die Unterstützung des Westens zu gewinnen, und die erfolgreiche Befreiung des Kyjiwer Oblast von der Besatzung machten Selenskyj in den Augen der internationalen Gemeinschaft und der Ukrai­ne­r:in­nen selbst zum Symbol des ukrainischen Widerstands gegen die russische Aggression.

In diesem existenziellen Moment für die Ukraine wurden alle früheren Fehler und Unzulänglichkeiten Selenskyjs irrelevant. Er konnte den Ukrai­ne­r:in­nen beweisen, dass er über alle Qualitäten eines Präsidenten verfügt, den ein angegriffenes und sich verteidigendes Land braucht. Im Mai 2022 erreichte Selenskyj Beliebtheitswerte von rund 90 Prozent. All diese Faktoren trugen dazu bei, dass auch die westlichen Partner Selenskyj vertrauten und schnell handelten. Es gelang ihm auch, die Unterstützung der Opposition zu gewinnen, so dass das Parlament schnell für das Kriegsrecht und zusätzliche Vollmachten für den Präsidenten stimmte.

Jeden Tag informiert Selenskyj die Bevölkerung per Videobotschaft über die Kriegslage. Er appelliert an den Widerstand, den Zusammenhalt, daran, dass die Ukrai­ne­r:in­nen durchhalten. Von jedem internationalen Treffen setzt er Tweets ab, adressiert die Staats- und Regierungschefs öffentlich. Sein Kommunikationsstil, sein unkonventionelles Verständnis von Diplomatie und die Art und Weise, wie er die drängenden Probleme seines Landes angeht, haben viele Menschen überrascht. Und wurden sein Markenzeichen.

In den letzten drei Jahren haben Selenskyjs Handlungen und Reden Millionen von Menschen auf der ganzen Welt motiviert und ihnen den Glauben an den Wert der Demokratie zurückgegeben. Ein besonderer Moment war seine Rede vor dem US-Kongress im Dezember 2022, als er mit stehendem Applaus empfangen wurde. Es schien, als würde die Unterstützung für die Ukraine auch unter einem anderen US-Präsidenten nicht nachlassen.

Doch jetzt, nur drei Jahre später, wendet sich das Blatt. Mit Trump im Weißen Haus wird Selenskyjs Legitimität als Vertreter der Ukraine in Frage gestellt. Von Washington wird er gar als Diktator diffamiert. Trump verbreitet gezielt falsche Behauptungen, etwa, dass Selenskyj in der Ukraine nur von rund vier Prozent der Bevölkerung unterstützt wird. Dabei zeigen Umfragen aus dem Februar des Kyjiwer Internationalen Instituts für Soziologie (KMIS), dass rund 57 Prozent der Ukrai­ne­r:in­nen ihm weiterhin vertrauen.

Rund 57 Prozent der ukrainischen Bevölkerung stehen zu ihrem Präsidenten

Trumps Attacken haben eine Welle der Solidarität ausgelöst und stützen Selenskyj als Präsidenten. Selbst seine schärfsten innenpolitischen Kritiker:innen, darunter Ex-Präsident Petro Poroschenko, die ehemalige ukrainische Ministerpräsidentin Julia Timoschenko und der Bürgermeister von Kyjiw Vitali Klitschko, lehnen Trumps Forderungen nach Präsidentschaftswahlen in der Ukraine ab.

Die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung teilt das, denn eine Wahl unter Kriegsrecht ist nicht rechtskonform und auch praktisch unmöglich. Wie soll die Stimmabgabe von mehr als einer Million Sol­da­t:in­nen mitten im Krieg funktionieren? Wie organisiert man die Wahl von etwa acht Millionen Ukrainer:innen, die ins Ausland geflohen sind? Was ist mit den Millionen Menschen in den besetzten Gebieten?

Die russische Armee greift immer wieder zivile Gebäude an, bombardiert die Energieversorgung, die Infrastruktur des Landes. Wie können Wahllokale und Menschenansammlungen vor Raketen- und Drohnenangriffen geschützt werden? Und: Woher sollen die mehr als 130 Millionen Euro für die Wahlen kommen, wenn das Geld doch viel dringender für die Bevölkerung und den Wiederaufbau gebraucht wird? Fragen, die niemand beantworten kann. Noch gibt Präsident Wolodymyr Selenskyj nicht nach und bleibt unbequem.

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