piwik no script img

Seine Heimat

Da, wo man den Satz gern mit einem „woll“ beschließt und den Menschen Starrköpfigkeit nachsagt, ist das Sauerland. Mehr von dem soll für Friedrich Merz das ganze Land haben. Aber was wäre das denn? Ein Erlebnisbericht

Wahlkampf: Die „Mehr Sauerland für Deutschland“-Empfehlung von Friedrich Merz vor dem Rathaus von Brilon im Hoch­sauer­land­kreis Foto: Arne Piepke/laif

Von Christian Werthschulte

Mehr Sauerland für Deutschland“, das steht auf den Wahlplakaten, mit denen Friedrich Merz in seiner Heimat Wahlkampf machte. Über dem Slogan ist Merz selbst zu sehen: blaues Jackett, gepunktete Krawatte, ein freundliches Lächeln. Der Slogan ist längst Realität geworden. Mit Friedrich Merz als Kanzlerkandidat ist etwas in die Bundespolitik eingezogen, das Flashbacks an meine Kindheit und Jugend weckt: der Sound des Sauerlands. Nicht das freundliche, knödelig-kumpelige „woll?“ am Ende eines Satzes, sondern etwas anderes: der Sound von Klartext und Starrköpfigkeit. Ein Sound ohne Selbstzweifel. Aber dazu später mehr.

Denn zu Beginn muss ich selbst mal kurz „Klartext“ reden: „Das Sauerland“ gibt es so nicht. Der Westen des Sauerlands zwischen Hagen im Norden und Siegen im Süden ist eigentlich ein Vorort des Ruhrgebiets. Schon früh im 19. Jahrhundert wuchs dort eine Metallindustrie heran und ihr folgte nicht nur die Arbeitsmigration, sondern auch der Klassenkampf. In der Weimarer Republik waren SPD und KPD der Gegenpol zur NSDAP, auch nach dem Zweiten Weltkrieg hat diese Ecke des Sauerlands oft sozialdemokratisch gewählt.

Bei einer Zugfahrt von Hagen nach Siegen wird aber auch der Verfall dieser Industrieregion sichtbar. An der Zugstrecke entlang der Lenne sind immer wieder alte, leicht heruntergekommene Fabrikgebäude zu sehen. Für moderne Industrieanlagen ist es im Lennetal einfach zu eng.

Das Sauerland von Friedrich Merz, und damit auch meins, aber liegt östlich davon: der Hochsauerlandkreis (HSK). Kurz vor seiner Grenze liegt der Flughafen in Menden, von dem aus Merz über Deutschland fliegt. Im Osten kommt irgendwann Hessen, im Norden wird der HSK begrenzt durch das Wandergebiet rund um die Möhnetalsperre, im Süden durch das Wandergebiet Rothaargebirge rund um Winterberg. Eine Zugfahrt dorthin führt durch Wiesen und Wälder, unterbrochen durch pittoreske Kleinstädte und mittelständische Industrie, „Hidden Champions“ wie den Leuchtenhersteller Trilux aus Arnsberg-Neheim. Sie sind die großen Arbeitgeber der Region und für Merz das sauerländische Vorbild für den Rest der Republik.

Die Sauer­län­de­r:in­nen lieben ihre Autos, den Regionalexpress teilt man sich deshalb meistens mit Tou­rist:in­nen. Tragen sie Patronengürtel mit Schnapsflaschen, fahren sie für ein Wochenende voll Schlagermusik und Sauferei ins Hotel Sauerland Stern nach Willingen. Haben sie ein Fahrrad dabei, ist meistens Winterberg das Ziel. Die Moun­tain­bi­ke­r:in­nen stürzen sich dort die Trails im Bikepark herunter, die E-Bi­ker:in­nen strampeln über den Ruhrtalradweg gemütlich bergab zurück in Richtung Ruhrgebiet.

Seitdem der Klimawandel die Skisaison rund um Winterberg stark verkürzt hat, wirbt das Hochsauerland mit Wander- und Radurlaub in seiner Waldlandschaft und um seine Stauseen, die seit dem späten 19. Jahrhundert das Ruhrgebiet mit Trinkwasser versorgen. Dem Sauerland eine touristische Identität zu geben, ist keine einfache Aufgabe. Die Wildwestklischees im Freizeitpark Fort Fun oder bei den Karl-May-Festspielen in Elspe wirken heute aus der Zeit gefallen. Tropfsteinhöhlen gibt es auch woanders und der Bergbau war niemals so ausgeprägt wie im Ruhrgebiet. Gegessen wird typisch westfälisch: Grünkohl oder Sauerkraut, dazu Wurst oder anderes Fleisch.

Am ehesten taugt noch das lokale Bier als Identifikationsobjekt. Im kleinen Dorf Grevenstein wird Veltins Pils gebraut und speziell für das Sauerland in einer bauchigen Halbliterflasche, dem „Steinie“, abgefüllt. Jedes Jahr vor Weihnachten fahren die Bierwagen von Veltins durch die Städte des Sauerlands und verdoppeln als „Weihnachtsboten“ den Veltins-Vorrat derjenigen, die sie zu Hause antreffen.

Mich treffen sie dort nicht mehr an. Ich bin kurz nach dem Abitur weggezogen und wohne mittlerweile in Köln, etwa zwei Stunden Zugfahrt entfernt. Hier erzählen mir immer wieder Menschen aus meiner linksliberalen Kölner Medien-Bubble, wie schön es ist, im Sauerland zu wandern oder zu campen. Als Antwort erhalten sie meistens eine hochgezogene Augenbraue. Nicht weil die Landschaft dort nicht toll ist: Eine Mountainbiketour zwischen Ochsenkopf und Möhnesee ist immer das Highlight meiner Besuche im Sauerland, sondern weil sie dort nicht aufgewachsen sind.

Das aber bin ich, und zwar in Arnsberg, einem 20.000-Einwohner-Ort an der Ruhr mit idyllischer Fachwerk­altstadt und viel Nachkriegsarchitektur. Dass es heute überhaupt eine Bedeutung hat, verdankt es den Preußen, die Arnsberg nach den Verwaltungsreformen im 19. Jahrhundert als Behördensitz ausgewählt haben. Heute kann im Südwesten von Nordrhein-Westfalen kaum ein größeres Projekt entstehen, ohne dass es „von Arnsberg genehmigt“ werden müsste. Dort sitzt die Bezirksregierung, bei der Be­am­t:in­nen wie meine Mutter den Haushalt von Großstädten wie Dortmund kontrollieren.

Dort aufzuwachsen, ist unspektakulär, zumindest wenn man wie ich aus der weißen, katholischen Mittelschicht kommt: Erstkommunion und Firmung, Fußballverein, katholische Grundschule, später katholisches Gymnasium. Selbst der erste Urlaub ohne Eltern war eine Jugendfahrt mit der Caritas nach Tirol.

Neben der katholischen Kirche ist der Schützenverein die zweite große gemeinschaftsbildende Institution im Sauerland. Jedes Dorf hat eine Schützenhalle und einmal im Jahr wird auf dem Schützenfest der Schützenkönig gekrönt, indem mit einem Gewehr ein Holzvogel von der Stange geschossen wird. In der Regel gewinnen Männer mittleren Alters, die über das nötige Geld verfügen, die Bankette und Partys auszurichten, die mit dem wichtigen Amt des Schützenkönigs einhergehen. Für den Rest der Bevölkerung ist es vor allem ein Volksfest, bei dem man netzwerkt und sich betrinkt und einen Tag frei hat, auch falls man gar nicht hingeht. Mein Vater hat es gleich zweimal im Jahr gefeiert: in Arnsberg und in seinem Heimatdorf. Als Kind mochte ich Schützenfest vor allem, weil mir meine Eltern dafür extra Taschengeld gegeben haben, von dem ich mir Lego und Comics kaufen konnte.

Das ist typisch Sauerland

Volles Korn

Neben Potthucke – ein mit Fleisch gefüllter und gebackener Kartoffelteig – und der Knochenwurst gehört vor allem der Pumpernickel zu den sauerländischen Spezialitäten, das dunkel glänzende Vollkornbrot aus Roggenschrot mit leicht süßlichem Geschmack. Gegessen wird es im Sauerland (und sonst wo) mit Käse, Schinken, gebratenen Kartoffelpuffern oder als Bestandteil von Saucen wie der klassischen Sauerbratensauce.

Zur Not

Die lange Haltbarkeit ist der Trumpf des Brotes. Im sauerländischen Soest findet sich die wohl älteste Pumpernickelbäckerei der Welt, die 1570 von Jörgen Haverlanth gegründete Bäckerei Haverland. Soest war fast vollständig von fremdem Gebiet umgeben und wurde im Mittelalter des Öfteren teilweise sehr lange belagert. Damals soll der Pumpernickel den Bürgern als Notration gedient haben.

Der Furz

Für den doch seltsamen Namen des Brotes gibt es verschiedene Herleitungen. Nach einer Deutung soll das Wort Pumpernickel „furzender Nikolaus“ bedeuten und ursprünglich ein Schimpfwort für einen groben Flegel gewesen sein. „Pumper“ bezeichnet im Sauerland eine Flatulenz, in diesem Zusammenhang dürfte dies ein Verweis auf die blähungsfördernde Wirkung von Vollkornbrot sein.

Genauso unspektakulär verlief auch meine Teenagerzeit in den mittleren 90er Jahren: Gefärbte Haare, David-Lynch-Filme, Second-Hand-Klamotten, Star Trek, Indierock und Industrial wurden irgendwann wichtiger als Fußballverein und Schützenfest – zumal ich für beides eh nicht sportlich und trinkfest genug war.

Die Vorhersehbarkeit der konservativen Provinz bringt halt ebenso vorhersehbare Versuche der pubertären Abgrenzung hervor. Zweimal die Woche war ich während der Oberstufe im Cult, einer Alternative-Disco im Gewerbegebiet. Es war der Zufluchtsort für viele aus der Region, manche hatten für ein paar Stunden Tanzen eine Stunde Landstraße in Kauf genommen. Mittlerweile ist das Cult geschlossen, ebenso wie das Zero, eine Eurodance-Disco in einem anderen Gewerbegebiet, in der ich selbstverständlich niemals gesehen worden bin. Ein ehemaliger Mitschüler nutzt sie heute als Hochlager für seinen Onlinehandel mit Sauerländer Leuchten.

Am ehesten taugt noch das lokale Bier als Iden­ti­fi­ka­tions­objekt. Im kleinen Dorf Grevenstein wird Veltins Pils gebraut und speziell für das Sauerland in einer bauchigen Halbliterflasche, dem „Steinie“, abgefüllt

Seit knapp zwei Jahren gibt es zumindest wieder einen kleinen Club für Techno, R & B und HipHop in Arnsberg, und trotzdem tun mir die jungen Menschen dort ein bisschen leid. Aber vielleicht gefällt es ihnen ja auch so. Auch in meinem Abijahrgang ist die Hälfte der Leute im Sauerland geblieben – weil sie nicht studieren, sondern lieber Geld verdienen wollten oder weil sie sich dort einfach wohlgefühlt haben.

Auch Friedrich Merz wohnt in Arnsberg – in Niedereimer, einem kleinen Dorf in der Nähe. Der Grund ist seine Ehefrau, die bei einer Behörde arbeitet: Sie leitet das Amtsgericht. Als Teenager haben wir manchmal bei einem Mitschüler in Merz’direkter Nachbarschaft Computerspiele gespielt. Für ihn interessiert haben wir uns damals nicht. Er war ein Typ, wie wir ihn aus der Schule kannten: ein JU-Streber, der den CDU-Erbhof Hochsauerlandkreis übernommen hatte.

Seit Gründung der BRD stellt die CDU in Arnsberg den Bundestagsabgeordneten. Der erste war der spätere Bundespräsident Heinrich Lübke, der bis dato letzte ist Friedrich Merz, der mit 40,4 Prozent der Erststimmen 2021 das schlechteste CDU-Ergebnis ever im Hochsauerlandkreis holte und trotzdem zum Parteivorsitzenden wurde. Wenn Merz mir heute in den sozialen Medien begegnet, kommen Erinnerungsfetzen aus meiner Jugend hoch.

Neben der katholischen Kirche ist der Schützenverein hier die zweite große gemein­schaftsbildende Institution

Man sagt den Menschen im Sauerland eine gewisse Starrköpfigkeit nach. Manche begreifen das als Kompliment für ein starkes Beharrungsvermögen. Es sind oft dieselben, die die unverfrorene Direktheit und den Hang zur Übertreibung der Menschen dort als „Klartext“ lesen und sie als Ausdruck eines scharfen Verstands begreifen. Ich bin mir nicht so sicher, ob sie damit recht haben.

Nennt Merz im Bundestag die Ampel ein „Desaster“, denke ich an die stets unfreundliche ehemalige Besitzerin des Spielwarenladens, und wie sie die rot-grüne Politik eine „Katastrophe“ nennt. Aber vielleicht war einfach nur die Überalterung der Arnsberger Bevölkerung dafür verantwortlich, dass sie ihr Geschäft aufgeben musste? Einen Boom haben in den letzten zwanzig Jahren dort vor allem die Altenheime erlebt, und auch die müssen hart um jede Fachkraft kämpfen, besonders diejenigen aus dem EU-Ausland. Sehe ich das Foto von Merz in der Bundestagskantine, denke ich an Lehrer und Fußballtrainer, die besoffen auf dem Schützenfest gröhlen. In der Woche darauf haben sie dann wieder Regeln durchgesetzt, an die sie selbst nicht glauben, weil es ihnen letztlich ja doch egal ist. So viel Unernst muss sein. Und wettert Merz in einer Wahlkampfrede gegen „hässliche“ Windräder, denke ich an den Borkenkäfer.

Wintersport: Ein Spaziergang in Winterberg über den Skywalk neben der Bobbahn mit Blick auf die sauer­län­dische Land­schaft Foto: David Inderlied/dpa

Mit meinem Vater war ich als Kind oft im Wald spazieren. Damals standen dort Plastikkästen, deren Duftstoffe einen Käfer anlocken sollten, der sich unter der Borke eines Baum festsetzt und ihn tötet. Rund um Arnsberg gibt es viel Nutzwald, in der Regel eine Monokultur aus Fichten. Als ich ein Kind war, haben die Fallen noch geholfen, aber die heißen Sommer der letzten Jahre haben den Fichtenwald zur perfekten Brutstätte für Borkenkäfer werden lassen. Vom Aussichtsturm an der Möhnetalsperre sieht man am Horizont die Windräder auf der Soester Börde. Aber vor allem fallen mir immer wieder die kahlen, abgeholzten Stellen im Arnsberger Wald auf.

Das ist, was sich deutlich in den letzten Jahren im Sauerland verändert hat: Der Klimawandel hat sich in die Landschaft hineingefressen. Bei der Wahlkampfrede, die Friedrich Merz noch in Eslohe, einem kleinen Ort im Süden des Sauerlands, gehalten hat, hat er das Wort aber nicht einmal in den Mund genommen.

Vielleicht ist auch das mit „Mehr Sauerland für Deutschland“ gemeint: Nicht wollen, dass sich etwas verändert, auch wenn die Veränderung für alle sichtbar längst da ist. Weil man eh keine gute Idee hat, was man dagegen tun könnte und die Ideenlosigkeit mit markigen Sprüchen übertünchen möchte. Der Sound of Starrköpfigkeit.

Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen

Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen